Leo Koenigsberger: Hermann von Helmholtz

Helmholtz als Professor der Physik in Berlin
von Ostern 1871 bis Ostern 1888


Anfang des Kapitels

Berlin 1880/82

(Seite 259) In Folge seiner eingehenden Beschäftigung mit den verschiedenen Zweigen der Elektricitätslehre wurde er vielfach als höchste wissenschaftliche Autorität bei der Entscheidung technischer Fragen herangezogen; so musste er noch in diesem Jahre unter anderem ein ausführliches Gutachten über die Anlage von Blitzableitern am Kaiserhause zu Goslar abgeben, das sich durch Klarheit und Einfachheit auszeichnet.

Heinrich Hertz im physikalischen Institut von Helmholtz

Helmholtz war schon früher in seinen kritischen Arbeiten über die Theorie der Elektrodynamik immer mehr zur Anerkennung der Faraday-Maxwell'schen Hypothese gedrängt worden, aber er hatte bereits wiederholt hervorgehoben, dass ein vollkommenes Verständniss der Theorie der elektromagnetischen Erscheinungen und eine endgültige Entscheidung über die Richtigkeit der verschiedenen Hypothesen nur durch eine genaue Untersuchung der Vorgänge bei sehr schnell vorübergehenden ungeschlossenen Strömen gewonnen werden könne. Nun suchte zwar Weber gewisse Schwierigkeiten und Widersprüche seiner elektrodynamischen Hypothese dadurch zu vermindern, dass er der Elektricität einen gewissen Grad von Beharrungsvermögen beilegte, wie es den schweren Körpern zukommt; Helmholtz erkannte aber sehr bald, dass wahres Beharrungsvermögen der Masse der bewegten Elektricität proportional sein musste, ohne von der Lage des Leiters abzuhängen, und dass sich dieses durch eine Verlangsamung der oscillirenden Bewegungen der Elektricität zu erkennen geben musste, wie sie nach jähen Unterbrechungen elektrischer Ströme in gut leitenden Drähten sich zeigen. Da sich nun auf diese Weise die Bestimmung einer oberen Grenze für den Werth dieses Beharrungsvermögens erwarten liess, so stellte Helmholtz, als er am Ende des Sommersemesters das Thema zu einer physikalischen Preisarbeit für die Studirenden vorzuschlagen hatte, die Aufgabe, über die Grösse von Extraströmen Versuche auszuführen — „in der sicheren, nachher auch (Seite 260) bestätigten Voraussetzung“, dass Heinrich Hertz, welcher seit dem Herbst 1878 auf den Rath von Bezold in dem von Helmholtz geleiteten physikalischen Laboratorium der Universität arbeitete und den er schon, als er noch die elementaren Uebungsarbeiten durchführte, als einen Schüler von ganz ungewöhnlicher Begabung erkannt hatte, sich dafür interessiren und das Problem mit Erfolg angreifen werde.

Es sollte aus der Grösse der Extraströme eine obere Grenze für die bewegte Masse festgestellt werden; als besonders geeignet wurden Extraströme aus doppeldrähtigen Spiralen vorgeschlagen, deren Zweige in entgegengesetzter Richtung durchflossen werden. Die präcise von Hertz gegebene Antwort zeigte, dass höchstens 1/20 bis 1/30 des Extrastromes aus einer doppeldrähtigen Spirale der Trägheitswirkung der Elektricität zuzuschreiben sei; Untersuchungen über den Einfluss der Centrifugalkraft einer schnell rotirenden Platte auf die Bewegung eines sie durchfliessenden elektrischen Stromes führten den genialen jungen Forscher zu einer noch viel tiefer liegenden oberen Grenze des Beharrungsvermögens der Elektricität.

Durch diese Untersuchungen von Hertz, deren Resultat Helmholtz klar vorausgesehen, wurde die Faraday-Maxwell'sche Hypothese über das Wesen der Elektricität wesentlich gestützt, und Helmholtz immer mehr in der Ueberzeugung von der Richtigkeit der Faraday'schen Anschauungen bestärkt. Die Erscheinungen des Diamagnetismus liessen sich am ungezwungensten erklären, wenn man annahm, dass diamagnetische Körper solche sind, die weniger magnetisirbar sind, als das sie umgebende, raumfüllende Medium, dass also auch der von allen wägbaren Massen freie Raum oder der in ihm noch enthaltene Lichtäther magnetisirbar ist. Nach der Maxwell'schen Auffassung war es nun aber für die Faraday'sche Theorie der diëlektrischen Polarisation und die Beseitigung der Fernwirkung wesentlich entscheidend, ob das Entstehen und Vergehen (Seite 261) diëlektrischer Polarisation in einem Isolator dieselben elektrodynamischen Wirkungen in der Umgebung hervorbringt wie ein galvanischer Strom in einem Leiter. Den Nachweis hierfür zu erbringen, machte Helmholtz zum Gegenstande einer der grossen Preisfragen der Akademie, welche Hertz zu seinen wunderbaren Entdeckungen führte. Durch diese wurden die thatsächlichen Beweise geliefert für die Richtigkeit der von Faraday und Maxwell als höchst wahrscheinlich hingestellten Hypothese, dass die Lichtschwingungen elektrische Schwingungen in dem den Raum füllenden Aether sind, und dieser selbst die Eigenschaft eines Isolators und magnetisirbaren Mediums besitzt.

„Es kann nicht mehr zweifelhaft sein“, sagt Helmholtz später in dem klassischen Vorwort zu den „Principien der Mechanik“ von Hertz, „dass die Lichtschwingungen elektrische Schwingungen in dem den Weltraum füllenden Aether sind, dass dieser selbst die Eigenschaften eines Isolators und eines magnetischen Mediums hat. Die elektrischen Oscillationen im Aether bilden eine Zwischenstufe zwischen den verhältnissmässtg langsamen Bewegungen, welche etwa durch elastisch tönende Schwingungen magnetischer Stimmgabeln dargestellt werden, und den ungeheuer schnellen Schwingungen des Lichtes andererseits, aber es lässt sich nachweisen, dass ihre Fortpflanzungsgeschwindigkeit, ihre Natur als Transversalschwingungen, die damit zusammenhängende Möglichkeit der Polarisationserscheinungen, der Brechung und Reflexion vollständig denselben Verhältnissen entsprechen, wie bei dem Lichte und bei den Wärmestrahlen. Nur fehlt den elektrischen Wellen die Fähigkeit, das Auge zu afficiren, wie diese auch den dunkeln Wärmestrahlen fehlt, deren Schwingungszahl dazu nicht gross genug ist. Es ist gewiss eine grosse Errungenschaft, die vollständigen Beweise dafür geliefert zu haben, dass das Licht, eine so einflussreiche und so geheimnissvolle Naturkraft, einer zweiten ebenso geheimnissvollen und vielleicht noch beziehungsreicheren Kraft, (Seite 262) der Elektricität, auf das Engste verwandt ist. Für die theoretische Wissenschaft ist es vielleicht noch wichtiger, verstehen zu können, wie anscheinende Fernkräfte durch Uebertragung der Wirkung von einer Schicht des zwischenliegenden Mediums zur nächsten fortgeleitet werden. Freilich bleibt noch das Räthsel der Gravitation stehen, die wir noch nicht folgerichtig anders denn als eine reine Fernkraft zu erklären wissen.“

Aber zur Begründung und Ausführung seiner grossartigen Untersuchungen, welche heute die Grundlage der modernen Elektricitätslehre bilden, brauchte Hertz fast das ganze vorletzte Decennium des vorigen Jahrhunderts.

Nachdem Helmholtz in den Osterferien Ludwig in Leipzig besucht und nach Thüringen in das Schwarzathal gewandert war, ging er am Ende seines Rectoratsjahres, von der aufreibenden amtlichen und wissenschaftlichen Arbeit sehr ermüdet, auf drei Wochen nach Pontresina, wo er auch früher stets durch grössere Touren Erholung für Körper und Geist gefunden.

„Als Helmholtz älter wurde“, schreibt mir Blaserna, „und an seinen Athmungsorganen zu leiden anfing, gab er die Besteigungen nicht auf. Er betrachtete sie als eine Kur, wenn sie nur richtig angebracht wurde. So erklärte er mir eines Tages, dass er auf den herrlichen Piz Languard steigen wollte. Ich bot mich an, ihn zu begleiten; aber lange Zeit wollte er meinen Vorschlag nicht annehmen, weil er meinte, dass ich zu schnell gehen würde. Aber als ich ihm versprach, dass ich hinter ihm gehen und auch keine Veranlassung zum Sprechen geben würde, nahm er meine Begleitung an. Bekanntermaassen ist es eine Besteigung auf gutem Fusswege, die ein rüstiger Steiger in drei, ein bedächtiger in vier Stunden bewerkstelligt: wir brauchten volle sechs Stunden dazu; aber Helmholtz kam in gutem Zustande oben an, zog seine Karte hervor, studirte alle einzelnen Berge wieder, und nachdem wir dort eine (Seite 263) Stunde gerastet hatten, betraten wir den Rückweg und kamen ganz rüstig und gut wieder nach Pontresina zurück.

In den letzten Jahren seines Aufenthaltes in Pontresina gab er die Berge auf; aber er machte Vormittag und Nachmittag regelmässig zwei kleine Besteigungen täglich, auf die Muottas da Pontresina oder da Celerina, oder auf den Schafberg. Staunenswerth war die eiserne Consequenz, mit der er seine zwei Touren täglich ausführte. Das sind leider auch seine letzten gewesen. Einige Jahre später verlor Pontresina durch Helmholtz's Tod, ich möchte wohl sagen, seinen grossen wissenschaftlichen Charakter.“

Nachdem er, von Pontresina zurückgekehrt, sich mit seiner Frau noch einige Zeit in Interlaken aufgehalten, schreibt er von Thun aus am 15. September 1879 seinem Freunde Knapp in New York: „Mir ist es im letzten Jahre verhältnissmässig besser gegangen als bisher in Berlin; ich habe schliesslich gelernt, wie viel ich mir an Arbeit und Vergnügen zumuthen darf, und bin hartnäckig und rücksichtslos gegen die Menschen geworden, die meine Zeit in Anspruch zu nehmen suchen, wenn ich müde bin.“

Die im Anfange dieses Jahres von Helmholtz ausgeführten Untersuchungen über die capillar-elektrischen Phänomene hatten ihm die Frage nahe gelegt, in wie weit ähnliche Vorgänge bei den Bewegungen einer elektrolytischen Flüssigkeit längs polarisirter Platinplatten stattfinden, da längst bekannt war, dass bei solchen Bewegungen starke Veränderungen der Stromstärke vorkommen. Die Resultate der zu diesem Zwecke ausgeführten Versuche legte er in einer Arbeit „Ueber die Bewegungsströme am polarisirten Platina“ am 11. März 1880 der Berliner Akademie vor. Die Versuche wurden an Elektroden von Platindraht angestellt, welche in angesäuertes Wasser tauchten; die einem solchen Drahte entgegengestellte zweite Elektrode bestand entweder aus Zinkamalgam, oder es wurde statt einer einfachen zweiten Elektrode ein Paar Platinplatten (Seite 264) gebraucht, zwischen denen dauernd ein schwacher, Wasser zersetzender Strom unterhalten wurde, und welche sich hei der Anordnung der Versuche wie eine einzige unpolarisirbare Elektrode verhielten. Zugleich wurde durch eine Nebenschliessung der Kette ermöglicht, jeden beliebigen Werth der elektromotorischen Kraft zwischen den Platinplatten und dem Elektrodendraht wirken zu lassen. Die Stromesschwankungen, welche eintreten, wenn man den Platindraht erst durch Sauerstoffentwickelung von occludirtem Wasserstoff befreit und dann nach einander verschiedene Werthe der elektromotorischen Kraft auf ihn einwirken lässt, werden von Helmholtz zum Theil auf Convectionsströme, zum Theil auf Freiwerden von occludirtem Wasserstoff zurückgeführt.

Helmholtz untersucht aber auch den Einfluss der Strömung des Wassers längs polarisirter Platinflächen und befestigt zu dem Zwecke die Elektroden an einem elektromagnetisch bewegten Neef'schen Hammer, dessen Bewegungen sie mitmachen. Er unterscheidet zunächst den primären Strom, der vorhanden ist, ehe die Elektroden erschüttert werden, von dem durch die Bewegungen der Elektroden hinzukommenden Erschütterungsstrom. Indem er den Erschütterungsstrom kathodisch oder anodisch nennt, je nachdem der erschütterte Draht Kathode oder Anode des Erschütterungsstromes ist, findet er, dass beim Bestehen eines starken kathodischen primären Stromes die Erschütterungsströme immer von derselben Richtung sind und den bestehenden Strom verstärken, dass dagegen bei bestehenden anodischen oder schwach kathodischen Strömen die Erschütterungsströme meist anodisch sind. Wasserstoffbeladung der oberflächlichen Schichten des Platina begünstigt in der Regel das Auftreten anodischer Erschütterungsströme, die man auch gewöhnlich erhält, wenn man den primären Strom aufhören macht.

Die beobachteten Erscheinungen erklärt nun Helmholtz (Seite 265) auf Grund seiner oben besprochenen Anschauungen über Elektrolyse, welche sich an die schon in seiner „Erhaltung der Kraft“ aufgestellte Hypothese über die Natur der galvanischen Kraft anschliessen, und die er seit 1871 in seinen Vorlesungen über Physik in den wesentlichsten Grundzügen vorgetragen. Nach diesen geht in Elektrolyten eine Bewegung der Elektricität nur gleichzeitig mit derjenigen der Ionen des Elektrolyten vor sich, an welchen sie haftet, und der Bewegung der letzteren stehen keine anderweitigen chemischen Kräfte entgegen als nur ihre elektrischen Anziehungs- und Abstossungskräfte. Mit positiver Elektricitätsmenge beladene Wasserstoffatome, welche sich an einer Seite der Flüssigkeit gesammelt haben, der ein negativ geladener elektrischer Leiter genähert ist, sind also nicht als „freier Wasserstoff“ aufzufassen, sondern als noch chemisch gebundener. Damit eine Anzahl positiver Ionen elektrisch neutral und chemisch ungebunden ausscheide, muss die Hälfte davon ihre Aequivalente positiver Elektricität abgeben und dafür die entsprechenden negativer Elektricität aufnehmen, und dieser Vorgang constituirt die definitive Trennung der vorher bestandenen chemischen Verbindung. Ist die elektrolytische Flüssigkeit in Berührung mit zwei Elektroden von ungleichem elektrischem Potential, so tritt zunächst Ansammlung von Atomen des positiven Ion an der negativen Platte, des negativen an der positiven ein, bis im Innern der Flüssigkeit die Potentialfunction einen constanten Werth erreicht hat. Wenn sich positiv beladene Atome längs der äusseren Seite der Elektrodenfläche sammeln, werden an der inneren Seite die entsprechenden Quanta negativer Elektricität herangezogen, und es wird sich eine elektrische Doppelschicht ausbilden müssen. Das Moment derselben nimmt so lange zu, bis die an den beiden Elektroden gebildeten Doppelschichten ausreichen, den zwischen ihnen durch die elektromotorische Kraft der Kette gesetzten Sprung des (Seite 266) Potentialwerthes hervorzubringen. Um den Gleichgewichtszustand der Kette herbeizuführen, müssen erhebliche Quantitäten positiver und negativer Elektricität der Kathode und Anode zufliessen, und Helmholtz entwickelt die Bedingungen für das elektrische Gleichgewicht und für den Eintritt der Elektrolyse. Nachdem die Resultate der Versuche über Wasserstoffocclusion und Erschütterungsströme durch die Theorie ihre Erklärung gefunden, entwickelt er für die bei anodischem, schwach kathodischem oder ganz fehlendem primärem Strom auftretenden Erschütterungsströme eine ähnliche Auffassung, wie er sie für die capillar-elektrischen Erscheinungen von Glas und Wasser dargelegt.

Reise nach Spanien

In den Osterferien des Jahres 1880 machte er eine mehrwöchentliche Reise nach Spanien, die er bis nach Tanger in Afrika ausdehnte. Ausführliche Briefe an seine Frau geben uns eine lebendige Schilderung der Eindrücke, welche Natur und Kunst dort auf ihn machten; es mögen einzelne kurze Bruchstücke derselben hier eine Stelle finden:
„Barcelona, Palmsonntag den 21. März. In Nimes machten wir die Fahrt an den Pont du Gard, eine gewaltige Flussüberbrückung für eine römische Wasserleitung aus der Zeit des Augustus, in einem einsamen Waldthal, von einer Höhe, die der der grössten Dome gleichkommt. Rousseau soll davon gesagt haben, es sei das einzige Ding, was er in seinem Leben gesehen, das seine Erwartungen übertroffen habe. Die Fahrt fordert mindestens fünf Stunden, und so warfen wir auch die Frage auf, ob es lohne, einen Tag an ein Bruchstück eines römischen Aquaducts zu setzen, da wir doch schon viele gesehen hatten. Es ging uns aber wie Rousseau, freilich war es auch nicht das erste Mal, dass es uns so gegangen. .....

Hier haben wir zwei sehr angenehme Tage verlebt, ein Passionsspiel gesehen im Theater, was sehr merkwürdig war, eine grosse Procession u. s. w. ..... Das Theater ist ein riesiges Gebäude für 4000 Zuhörer, äusserst zweckmässig (Seite 267) und behaglich eingerichtet, so dass sich unsere nordische Residenz daneben nur schamvoll verstecken kann. Die Darstellung ein altes Passionsspiel in catalonischem Dialecte, den wir natürlich gar nicht verstanden, da es uns mit dem normalen Spanisch ziemlich ebenso geht. Es war sehr geschickt mit Aufwand aller modernen Decorationsmittel in Scene gesetzt und furchtbar realistisch auch in allen Einzelheiten ausgeführt, so dass die ganze Handlung einen Grad von Anschaulichkeit erlangte, den das Lesen doch nimmer giebt. ..... Die Palmsonntag-Procession war eingeleitet durch eine Schaar costümirter römischer Krieger mit Musikcorps und ihrem Hauptmann ... es war grösstes Menschengewoge, lange Reihen von katholischen Vereinen, Schüler und junge Männer in seltsamen Costümen von schwarzer Glanzleinwand, im Schnitt wie Frauenkleider mit Schleppen, mit weissen gefalteten Krausen, zogen der Christusfigur vorauf, die auf einem Brette stehend herumgetragen wurde, den gebeugten Christus am Oelberg darstellend . . . L. legte Gewicht darauf, seinen Freund, den Professor der Chemie Don Ramon Manjarez in seinem Laboratorium aufzusuchen und uns von ihm und einigen anderen Professoren die neugebaute Universität zeigen zu lassen. Ich hatte die Befriedigung, meine akustischen Apparate ziemlich vollständig beisammen zu finden . . .“

„Madrid, Charfreitag den 26. März: Der Escoreal, das riesige Grabdenkmal der spanischen Könige, liegt ziemlich weit ab von Madrid in einem steinigen, öden Gebirge, und es giebt von dem fanatischen Philipp H. doch ein gewisses Bild von ernster Grösse und künstlerischem Geschmack, worin er allen seinen kindischen Nachfolgern überlegen war. Man sieht, dass es ihm fürchterlich ernst war mit dem, was er wollte, und was für ihn selbst bestimmt war, ist höchst einfach, sogar dürftig. Dagegen ist die Kirche äusserst grossartig, einfach und geschmackvoll von neapolitanischen Baumeistern errichtet, etwa das, was die (Seite 268) Peterskirche in Rom hatte werden sollen, wenn nicht der Roccoco-Geschmack sie verdorben haben würde. Was die Nachfolger hinzugethan, ist kindische Spielerei, nur recht hübsche Gobelins nach Entwürfen von Teniers sind auszunehmen, für welche sie freilich die schönsten Gemälde von Raphael und Tizian in die Rumpelkammer geschickt haben, aus der sie dann in das Museum gerettet wurden. Im Ganzen ist es doch ein historisches Monument, was von dem Sinne seiner Zeit noch lebendig spricht, wenn dieser Geist uns auch feindlich war. .... Die Bildersammlung ist imponirend; diese Sammlung von Leuten, welche Velasquez abconterfeit hat, ist so ungeheuer lebendig und eindrucksvoll, dass sie wie Mitlebende erscheinen. .... Gestern früh ging ich ab nach Toledo, der alten Residenz; ein eng zusammengedrängtes Bergnest, auf drei Seiten vom Tajo in einer tiefen Schlucht umflossen, eine natürliche Festung mit allerlei westgothischen und maurischen Resten; diese unbedeutend, darin aber ein gothischer Dom von einer Reinheit, Feinheit und Reichthum der Formen, einer Zierlichkeit der Stein- und Holzarbeit, an der noch die Schule der Alhambra nachzuwirken scheint, dass er Alles in Schatten stellt, was ich bisher von gothischen Kirchen gesehen habe. Dabei ist er verhältnissmässig wenig durch spätere Zusätze aus der Jesuitenzeit verdorben worden. Er ist viel entschiedener und consequenter gothisch als der Mailänder Dom und macht doch einen fast noch reineren Eindruck vollendeter Formenschönheit und Erhabenheit als jener. Leider ist die Aussenseite fast unsichtbar. . . . .“
„Cordova, Dienstag den 30. März: .... Hier ist nun wieder die grosse Moschee, jetzige Kathedrale, ein Wunderwerk der Architectur, ganz fremdartig und märchenhaft, ein immenses flaches Zeltdach von über 1000 Säulen, die durch phantastische Doppelbögen verbunden sind, getragen, ursprünglich gegen den Orangenhain des Vorhofs überall offen, im Hintergrunde die Capelle zur Aufbewahrung des (Seite 269) Koran, mit der wunderbarsten Marmorarbeit und Mosaiken, alles in Teppichmustern geschmückt. Nicht weit davon eine ebenso geschmückte Capelle, der Gebetplatz der Kalifen. Leider haben sie es als Kirche gegen den Hof mit Mauern geschlossen und in der Mitte ein hohes Chor im Barockstil hineingebaut, so dass man nur noch in der Phantasie nachconstruiren kann, wie luftig und hell und kühl und leicht es gewesen sein muss, ehe es Kirche wurde. Man kann sich der Fragen nicht erwehren, wie eine so fein ausgebildete Cultur so verschwinden konnte. Die Mauren haben nichts davon nach Afrika zurückgenommen, und was die Spanier von ihnen lernen konnten, ist in den nächsten 100 Jahren ebenso verschwunden mit Ausnahme der grossen Bewässerungsanlagen, die das Land fruchtbar machen, so weit sie eben reichen. .... Am folgenden Tage machten wir eine Spazierfahrt auf die Abhänge der Sierra Morena nördlich von der Stadt, wobei wir einen guten Einblick in die Fruchtbarkeit des Landes erhielten. Von den Bergen kommen allerlei kleine Wasseradern, die sorgfältig vertheilt sind. Die Orangenbäume sind Waldbäumen im Wuchs vollkommen ähnlich. In Italien habe ich sie nie so gesehen, und dabei waren sie mit Früchten bedeckt, wie ich nie einen Apfelbaum damit bedeckt sah, und zwischen den Früchten waren schon wieder Knospen und Blüthen in vollen Sträussen; Heckenrosen, Schwertlilien, Spiräen, Veilchen, Alles in voller Blüthe, wie es in Deutschland etwa an sehr sonnigen Junitagen aussieht. Dazwischen stehen vereinzelte Dattelpalmen, die sehr elegant in den Himmel hineinragen. . . . .“
„Granada, Freitag den 2. April: . . . Nun aber haben wir wirklich die Alhambra gesehen, welche in Wirklichkeit ganz so zauberhaft ist, wie die Beschreibungen und Bilder sie zu malen streben. Marmor in das zierlichste Spitzenwerk aufgelöst, mit einer Ueberfülle der wunderbarsten Muster ... Nachmittag war Stiergefecht, das erste in einer (Seite 270) neugebauten Arena, riesiges Volksfest. Was die Menschen betrifft, so ist es in höchstem Grade interessant. Die Arena ist ganz nach dem Muster der Antiken (freilich oben aus Holz) gebaut; das Publicum verhält sich genau noch so, wie es die römischen Schriftsteller beschreiben. Ein rasender Schwindel ergreift die Menschenmassen; ununterbrochenes Schreien, bald Bravo, bald Pfeifen. Man muss schon eine Stunde vorher hingehen, weil man später nicht mehr zum Platze kommt. Während dieser Zeit diente eine lahme Wasserspritze, die den Platz bespritzen sollte, und die Apfelsinenverkäufer, die von unten aus der Arena ihre Früchte den Käufern bis in die höchsten Sitzreihen zuschleuderten und ebenso ihre Bezahlung empfingen, zur Unterhaltung des Publicums. Jeder gute Wurf erhielt sein Bravo, jeder schlechte sein Pfeifen. Die eleganten Damen befanden sich leider grösstentheils über uns; die wir sehen konnten, waren in sehr eleganten nationalen Costümen, die sehr gut aussahen, aber kühn in den Farben; eine im Costüm der Stierfechter. Diese letzteren sind schöne Kerls, schlank, beweglich, geschickt und verwegen, dass es eine Freude ist, sie in ihren höchst prächtigen und eleganten Costümen sich bewegen zu sehen. Namentlich die Banderilleros, welche ohne Mantel und Waffe den Stier auf sich zulaufen lassen, in dem Momente, wo er sie zu treffen droht, seitwärts geglitten sind und ihm die mit einem Widerhaken versehenen Federbusche und Zierrathen am Nacken befestigen, sind von einer unbegreiflichen Geschicklichkeit. Unmittelbar nachher freilich wird der Stier durch einen vorgeschleuderten Mantel abgelenkt, um den Angriff nicht zu wiederholen. Was dem Stier geschieht, kann man sich auch noch gefallen lassen; er fällt im Kampfe statt in der Schlachtbank. Freilich ist das Thier, wenn ihm der Matador zum letzten Todesstoss allein entgegentritt, auf das Aeusserste abgehetzt und verwirrt, und bei den sechs Stieren, die geopfert wurden, gelang nur bei zweien dieser (Seite 271) Stoss beim ersten Male. Wahrhaft empörend ist aber die Art, wie die Pferde behandelt werden, übrigens nicht bloss in der Arena, sondern auch überall sonst, wie die zum Tode getroffenen Pferde, die mit verbundenen Augen dem Stier von den Picadores vorgeritten werden, so lange sie den Picador noch tragen können, immer wieder mit Stockprügeln in den Kampf getrieben werden, wie das Publicum nach immer neuen Pferden schreit: caballo, caballo, wenn nur noch ein oder zwei am Leben sind, das ist die eigenthümlich grässliche Seite des Schauspieles. Wenn es nur eine Exhibition menschlichen Muthes wäre, würde man manches Wilde daran verzeihen. Aber schliesslich macht man den Stier doch erst müde dadurch, dass man ihn immer wiederholte Angriffe auf die wehrlosen Pferde machen lässt, die er mehr hasst als die Menschen; und erst wenn er ganz abgehetzt ist, treten die Menschen als Kämpfer ihm gegenüber. . . . .“
„Malaga, Dienstag den 6. April. Malaga ist nicht sehr charakteristisch. Eine schöne Renaissance-Kathedrale, deren Thurm wir bestiegen, um die Stadt zu übersehen, ist recht gross und elegant. In der nächsten Umgebung der Stadt ist der Seewind der Vegetation nachtheilig; wo aber die Berge Schutz gewähren, da sind riesige Orangenwälder, Zuckerrohrpflanzungen u. s. w. .... Uebrigens schätzen wir hier Wattenbach's Buch sehr; es ist brauchbarer als Murray, Gautier und Amici. Er hat entschiedenes Talent zum Baedecker und thut mit seiner Prosa Spanien kaum Unrecht. . . . .“
„Tanger, Dienstag den 13. April. In Gibraltar haben wir einen sehr interessanten Tag zugebracht; einer der englischen Officiere, die wir in Ronda getroffen, Colonel Lamprière, hatte uns Eintritt in die Gallerien verschafft, wo die grossen Kanonen rings um die Nordseite des Felsens stehen, und wir wanderten von 10 bis 4 Uhr durch die Batterietunnels. .... Ueber all das Sonderbare, was einem (Seite 272) hier in Tanger, wo man plötzlich mitten in die muhamedanische Welt eintritt, vor die Augen und Ohren tritt, kann man nicht genug erstaunen. Die Mannigfaltigkeit der Trachten und Nacktheiten ist gar nicht zu beschreiben. … Der Turban, den nur die Moslims tragen, wird sehr sauber gehalten und sieht sehr gut aus; ebenso die weissen oder weiss und schwarz gestreiften Burnus mit den furchtbar charakteristisch aussehenden Augen und scharfen Gesichtern der älteren Männer darunter. Die Frauen, soweit sie auf der Strasse erscheinen, eingehüllt in nicht sehr reinliche, grosse rauhe Badelaken, die sie sich nicht allzu streng um das Gesicht zusammenziehen. . . . .“

Helmholtz reiste sodann über Sevilla, Bordeaux, Paris nach Berlin zurück, um unmittelbar darauf seine Vorlesungen zu beginnen.

Um diese Zeit beschäftigte er sich bereits mit den schwierigen thermodynamischen Untersuchungen, die im engsten Zusammenhange mit seinen späteren Forschungen über die Principien der Mechanik stehen, aber erst nach zwei Jahren zur Veröffentlichung gelangten. Er musste aber jetzt ernstlich darauf bedacht sein, bei seinen ungeheuren geistigen Anstrengungen seiner Gesundheit ein wenig Rechnung zu tragen. Schon in Sevilla hatte ein leichter Ohnmachtsanfall seine Reisebegleiter in Besorgniss versetzt, und jetzt wieder nach den Anstrengungen des Sommersemesters traf ihn wenige Tage vor Beginn der Ferien durch Ausgleiten ein Unfall, der, wohl auch durch eine plötzliche Ohnmacht veranlasst, leicht schwere Folgen hätte haben können.

Aber schon am 8. August konnte er Ludwig mittheilen, er sei so weit hergestellt, dass er mit seiner Frau nach einigen Tagen in kleinen Etappen die Reise nach München beginnen und zunächst nach Leipzig kommen wolle, um dort ein wenig zu ruhen. In der That führte er die geplante Reise aus, ging dann zur Erholung auf einige Wochen in die Schweiz (Seite 273) und nahm, nach Berlin zurückgekehrt, von Neuem seine thermodynamischen Untersuchungen auf, nachdem inzwischen Hertz als sein Assistent im physikalischen Institut angestellt worden, in dem er bis zum Jahre 1883 verblieb. Zu gleicher Zeit führte er aber auch einige Untersuchungen aus, welche mit seinen früheren elektrodynamischen und elektrochemischen Arbeiten in engster Verbindung standen.

Dass in der Nähe eines Magneten eine gewisse Vertheilung des Magnetismus in den Molekülen weichen Eisens vor sich geht, wodurch dieses selbst Abstossungen und Anziehungen kleiner magnetischer Körper zeigt, war, wie man wusste, eine nicht nur dem Eisen zukommende Erscheinung. Faraday hatte nachgewiesen, dass derartige Wirkungen in fast allen Körpern sichtbar sind, und dass ähnliche Erscheinungen, welche auf eine Vertheilung entgegengesetzter Elektricitäten in den Molekülen elektrischer Isolatoren hindeuten, durch die elektrischen Kräfte hervorgerufen werden. Mathematisch waren diese Erscheinungen für die Bewegungen starrer Magnete und magnetisirbaren Eisens von Poisson behandelt; W. Thomson hatte diese Theorie auf die Bewegung starrer Körper in magnetisirbaren Flüssigkeiten ausgedehnt und zu Faraday's diamagnetischen Versuchen in Beziehung gesetzt. Sobald sich die Moleküle magnetisch oder elektrisch polarisirter Medien gegen einander verschieben können, kommen neben den ursprünglich angenommenen Fernkräften nothwendig noch molekulare Wirkungen in Betracht. Faraday hatte vorausgesetzt, dass in den magnetisch oder diëlektrisch polarisirten Medien ein Zustand von Spannung bestehe in Richtung der Kraftlinien, in Folge dessen sich diese zu verkürzen streben, während quer gegen die genannten Linien ein Druck wirke, der die Substanz in dieser Richtung auseinandertreibe. Nachdem W. Thomson schon 1843 den Beweis geführt, dass Kräfte dieser Art dieselbe Wirkung hervorbringen (Seite 274) können, wie die directen Fernwirkungen nach der Theorie von Coulomb, hatte Cl. Maxwell diese Annahme von Faraday zur Grundlage seiner ganzen Theorie der Elektricität und des Magnetismus gemacht. Nun war bereits durch Versuche das sehr auffällige Bestreben elektrischer Isolatoren festgestellt worden, sich quer gegen die Richtung der elektrischen Kraftlinien zu dehnen, und Helmholtz sucht nun in der der Berliner Akademie am 17. Februar 1881 vorgelegten Arbeit „Ueber die auf das Innere magnetisch oder diëlektrisch polarisirter Körper wirkenden Kräfte“ eine vollständige Theorie für die Erscheinung zu liefern, dass Isolatoren unter dem Einfluss diëlektrischer Kräfte ihre Gestalt zu verändern suchen.

Er zeigt, dass die Spannungen, welche eine Dehnung senkrecht zu den elektrischen Kraftlinien hervorzubringen bestrebt sind, ohne besondere Annahme über die innere Constitution diëlektrischer Medien eine nothwendige Consequenz des Princips der Erhaltung der Kraft und derjenigen Gesetze sind, welche nach Poisson's Theorie den temporären Magnetismus regeln, und welche auf die diëlektrische Polarisation unmittelbar übertragen waren. Indem er die in den Poisson'schen Gleichungen vorkommende Constante sich einerseits ändern lässt in Folge der Aenderung der Dichtigkeit des Mediums, andererseits vermöge der Verschiebung an sich, erhält er eine andere Vertheilung des Potentials und daraus eine berechenbare Aenderung der Energie. Da aber diese als Aequivalent die Arbeit hat, welche die ponderomotorischen Kräfte bei Hervorrufung der Verschiebungen der Punkte mehr leisten mussten, als wenn keine diëlektrische Spannung vorhanden wäre, so konnte er diese Kräfte berechnen, wenn die Energieänderung festgestellt ist. Die Erörterung, wie weit sich die berechneten Kräfte in Molekularkräfte auflösen lassen, zeigt, dass man dieselben ersetzen kann durch einen Druck, welcher im Innern des Diëlektricums auf ein Flächenelement wirkt, (Seite 275) dessen Normale mit der Richtung der Kraftlinie einen bestimmten Winkel bildet, und eine in der Richtung der Kraftlinien wirkende Spannung. Helmholtz zieht endlich aus den Ausdrücken für die Kräfte wiederum den Schluss, dass die beiden Anschauungen, nämlich diejenige, welche fernwirkende Kräfte annimmt, und die Faraday-Maxwell'sche, nach welcher überhaupt nur Polarisation der Medien existirt, auch hiernach noch neben einander bestehen können.

In einer kurzen Aufzeichnung, betitelt „Zur Theorie der Anziehungen innerhalb magnetisirbarer oder diëlektrischer Medien“, sagt er bezüglich der hiermit zusammenhängenden Probleme:

„Wenn mehrere feste mit Elektricität beladene Körper innerhalb einer diëlektrisch polarisirbaren Flüssigkeit liegen, so kommen bei der Bestimmung ihrer gegenseitigen Anziehungen nicht bloss diejenigen Kräfte in Betracht, welche die in ihnen selbst enthaltenen elektrischen Quanta auf einander ausüben, sondern auch diejenigen, welche von den elektrisch polarisirten Theilen des zwischenliegenden Mediums ausgehen. Ausserdem aber werden die Theile dieses Mediums selbst, da sie elektrisch geladen sind, elektrischen Bewegungskräften ausgesetzt sein, wodurch auch das Medium von seiner Stelle gedrängt werden und in Folge davon einen Druck auf die in ihm liegenden festen Körper ausüben kann. Nun kann diese Aufgabe in ziemlich einfacher Weise gelöst werden und ist bisher von mehreren Autoren so behandelt worden, indem man annimmt, dass auch in diesem Falle das Gesetz von der Erhaltung der Energie gültig sei, wie unter der älteren Annahme, dass eine beliebige Anzahl elektrisirbarer Körper im leeren, nicht elektrisch polarisirbaren Räume auf einander wirken. Dazu muss man ferner einen Werth der potentiellen Energie annehmen, der den Erscheinungen der diëlektrischen Ladung, wie man sie an ruhenden Körpern (Condensatoren zum Beispiel mit verschiedener isolirender Zwischenschicht) beobachtet, (Seite 276) entspricht. Es erscheint nicht zweifelhaft, dass dieses Verfahren thatsächlich richtige Resultate gegeben hat in den Gleichungen, wie sie von W. Thomson, Cl. Maxwell und mir selbst hingestellt und gebraucht worden sind, aber dasselbe führt nicht zu voller Einsicht in das Zusammenwirken der elementaren Kräfte, weil man bis auf diese nicht zurückgeht.

Eine solche Einsicht wird aber namentlich dann ein Bedürfniss, wenn man auf die Mitwirkung der diëlektrischen Medien bei den bisher noch weniger durchsichtigen elektrodynamischen Erscheinungen eingehen will. Herr Cl. Maxwell hat diese Verhältnisse unter Annahme eines unendlich grossen Werthes der diëlektrischen Constante behandelt, aber in sehr gedrängter Kürze und so, dass die von ihm darauf gebaute Theorie in keine vermittelnde Verbindung mit der älteren gesetzt werden kann. Es scheint mir dies der Hauptgrund zu sein, warum seine äusserst sinnreichen mathematischen Ausführungen der Faraday'schen Gedanken bisher so wenig Verständniss unter den Physikern gefunden haben. Was hier über die Theorie diëlektrischer Medien gesagt ist, gilt in gleicher Weise von den paramagnetischen und diamagnetischen. Ich werde fortfahren, von diëlektrischen zu sprechen, da die Elektricität hier die mathematisch allgemeinere Form der Aufgabe giebt, insofern ihr Gesammtquantum in einem gegebenen endlichen Raum nicht immer Null zu sein braucht, wie es für das Gesammtquantum des Magnetismus der Fall ist.

Die Hypothese, von der wir dabei ausgehen wollen, ist nun die, dass in den Molekeln eines diëlektrischen Mediums unter dem Einfluss äusserer elektrischer Kräfte elektrische Vertheilungen eintreten, wobei wir uns nicht weiter darüber zu entscheiden brauchen, ob es sich hier nur um Elektrisirung übrigens unveränderter ponderabler Molekel handelt, oder ob diese ponderabeln Molekeln selbst durch die elektrischen Kräfte in ihrer Form und Richtung verändert (Seite 277) werden. Nur halten wir die Hypothese fest, dass die zwischen den ponderabeln Molekeln gegenseitig, und zwischen diesen und den Elektricitäten wirkenden Kräfte conservativ seien, das heisst dem Gesetze von der Constanz der Energie unterworfen sind.

Unter diesen Umständen wird also ein Zustand elektrischer Vertheilung entstehen, in welchem auch in den Molekularinterstitien hier positive, hier negative Elektricität lagert, und deren Potentialfunction deshalb ebenfalls in so kleinen Intervallen zwischen hohen und niedrigen, positiven und negativen Werthen wechselt.“

Zu gleicher Zeit veröffentlichte Helmholtz in Wiedemann's Annalen eine kurze Notiz „Eine elektrodynamische Waage“, die er zu dem Zwecke construirte, um bei der Messung galvanischer Ströme in absolutem Maass die Störungen zu vermeiden, welche die Veränderungen der Richtung und Intensität des Erdmagnetismus durch ihre elektromagnetische Wirkung verursachen. An den Enden des Balkens einer kleinen chemischen Waage hängt er zwei Spiralen von Kupferdraht auf, deren Höhe ihrem inneren Durchmesser gleich, und deren Axe vertical ist; zwei ebenso hohe Spiralen von grösserem Radius werden in einer festen Stellung etwas oberhalb der beweglichen von einem horizontalen Metallstabe gehalten, der in seiner Mitte an der die Waage tragenden Säule befestigt ist. Die Verbindungen der Drähte sind derart angeordnet, dass die eine der beweglichen Spiralen von der festen angezogen, die andere abgestossen wird, die angezogene Spirale hebt sich, die abgestossene sinkt beim Durchleiten des Stromes durch den Schliessungskreis, wobei jede der beweglichen Spiralen mit den anderen den Strom leitenden Drähten durch zwei Streifen von Rauschgold verbunden werden. Der Gesammtwirkung der beiden Rollen wird durch passende Belastung das Gleichgewicht gehalten, und es ist somit die Kraft, welche der elektrodynamischen Kraft entgegenwirkt und sie misst, allein die der Schwere (Seite 278) und keinen Schwankungen unterworfen, wie der Erdmagnetismus.

Reise nach England

In den Osterferien 1881 reist er mit seiner Frau nach London, um der ehrenvollen Aufforderung der chemischen Gesellschaft folgend an der Stelle zu den Gelehrten Englands zu reden, „von welcher aus der grosse Naturforscher Faraday, dessen Gedächtniss gefeiert werden sollte, so oft seine bewundernden Zuhörer durch Enthüllung ungeahnter Geheimnisse der Natur überrascht hat“.

Seine Rede „Die neuere Entwickelung von Faraday's Ideen über Elektricität“, welche er, nachdem Roscoe dieselbe durchgelesen und einiges im Ausdrucke gebessert hatte, in englischer Sprache hielt, gehört zu den formal und inhaltlich schönsten und tiefsten Vorträgen, die er gehalten.

„Seine Faraday-Vorlesung“, schrieb seine Frau, „verlief sehr glänzend und gut. Der Inhalt war mir zwar sehr unverständlich, da er meist von Atomen handelte und dem Einfluss der Elektricität auf die chemischen Eigenschaften; aber der Enthusiasmus bei seinem Eintritt und die Cheers, sowie er eine eigene Berechnung oder Ansicht äusserte, waren sehr hübsch.“

Nachdem er zunächst einen geschichtlichen Ueberblick über die Entwickelung der Elektrodynamik gegeben, um denselben in einer begeisterten Darlegung der Faraday-Maxwell'schen Theorie gipfeln zu lassen, liefert er zum ersten Male eine zusammenhängende Auseinandersetzung der Beziehungen zwischen den elektrischen und chemischen Kräften, wie wir sie oben in seinen Einzelarbeiten haben entstehen sehen. Um ein Verständniss der Beziehungen zwischen elektrischer Kraft und chemischer Affinität zu erzielen, leitet er aus den Erscheinungen der elektrolytischen Zersetzungen eine Vorstellung her, wie wir uns die ponderablen Atome mit Elektricität verbunden zu denken haben. Aus der Annahme, dass die Ionen mit Elektricität geladen sind, schliesst er, dass mit einer wandernden Atomgruppe immer die gleiche (Seite 279) Menge Elektricität wandert, und dass auch die Elektricität sich nur in bestimmten elementaren Theilen vorfindet, die sich wie die Atome der Elektricität verhalten. Einen wesentlichen Bruchtheil der chemischen Affinität bilden die Anziehungen, welche die entgegengesetzten Elektricitäten in den Verbindungen auf einander ausüben; wenn sich eine in einem Atom vorhandene Einheit positiver Elektricität gegen die Einheit negativer Elektricität in einem anderen Atom bindet, so sind diese Elektricitäten nach aussen unwirksam, und es werden die Atome mit einer gesättigten Affinität an einander haften.

Nach Hertz' Ansicht kommt man so zu einer folgerichtigen Vorstellung über das Wesen der Valenzen, und er will schon daraus allein die Wichtigkeit und Bedeutung der Anschauungen erkennen, welche Helmholtz von den chemischen Vorgängen ausgebildet hat. Freilich dankt dieser an seinem 70. Geburtstage Hoffmann, der seine Forschungen zum Verständniss chemischer Vorgänge als den Beginn einer neuen Aera in der Chemie preist, durch welche ganze Gebiete in ein neues Licht getreten und unserem Verständniss wesentlich näher gerückt sind, mit den so überaus bescheidenen Worten:

„Ich danke Ihnen sehr, wenn Sie einiges Interesse und einige Anerkennung für meine chemischen Dilettantereien empfinden und mir zu erkennen geben.“

Es mögen hier zwei kurze Aufzeichnungen von Helmholtz eine Stelle finden, welche wahrscheinlich die Einleitung zu einer ausführlicheren Bearbeitung seiner chemischen Forschungen bilden sollten und eine Ergänzung zu den Anschauungen liefern, welche er in seinen bisherigen chemischen Einzeluntersuchungen und zusammenhängender in seiner Faraday-Rede entwickelt hatte.

Die erstere derselben, „Nachträgliche Betrachtungen zur Faraday-Lecture“ betitelt, lautet:

„Die dualistische Theorie der Elektricität, welche ich (Seite 280) zunächst bei dem vorliegenden Versuch, eine mit den neueren Erfahrungen vereinbare elektrochemische Theorie aufzustellen, festgehalten habe, setzt unverkennbar eine überflüssig grosse Zahl von Hypothesen und hypothetischen Apparaten in Bewegung nur zu dem Zweck, eine vollkommene Analogie für die Wirkungen positiver und negativer elektrischer Wirkungen zu bewahren. Bei dem Versuch, auf diese Theorie Hypothesen über die Constitution bestimmter chemischer Verbindungen zu bauen, giebt sich die überflüssige Zahl dieser Hypothesen zu erkennen durch die Möglichkeit, verschiedene Constitutionsformeln herzustellen, denen keine gleiche Mannigfaltigkeit thatsächlich vorhandener Verbindungen entspricht. Es schien mir deshalb schon lange wünschenswerth, den Versuch zu machen, wie weit man mit der unitarischen Hypothese gelangen kann; ein solcher Versuch ist auch schon von Richarz gemacht worden.

Als Grundlagen braucht man dann folgende Annahmen:

  1. Es giebt abgegrenzte und unter einander gleiche Quanta einer Art von Elektricität, elektrische Atome, von denen je zwei in hinreichender Ferne nach Coulomb's Gesetz abstossend auf einander wirken. Bezeichnen wir die Kraft, mit der jedes Paar derselben gegenseitig auf einander wirkt, mit e2 / r2.
  2. Von jeder Valenzstelle jedes Atoms eines chemischen Elementes geht eine ähnliche Kraft aus, welche jede andere Valenzstelle abstösst, und zwar in hinreichender Entfernung mit der Kraft e2 / 4 r2.
  3. Elektrische Atome dagegen und Valenzstellen ziehen sich an, jedes Paar in hinreichender Entfernung mit der Kraft - 1/2 ⋅ e2 / r2.

    Wenn ein elektrisches Atom zweien Valenzstellen (Seite 281) anliegt, verschwindet in hinreichender Entfernung die Fernwirkung dieses Aggregats, sowohl auf andere elektrische Atome, wie auf andere Valenzstellen.

  4. In sehr geringen Entfernungen dagegen nehmen die anziehenden Kräfte zwischen elektrischen Atomen und Valenzstellen bei wachsender Näherung schneller zu, als e2 / r2, und für die Valenzstellen verschiedener Elemente in verschiedenem Maasse.

    In grösseren Entfernungen also leistet ein elektrisches Atom, welches sich zwei bei einander liegenden Valenzstellen nähert, eine Arbeit, die für jedes solches Paar der elektrischen Potentialfunction entspricht, e2 / r . Sobald sie in molekulare Entfernungen kommen, ist dagegen die geleistete Arbeit grösser.

  5. Auch zwischen genäherten ponderablen Atomen werden bei grosser Annäherung sehr stark zunehmende abstossende Kräfte anzunehmen sein.

Nach diesen Voraussetzungen wird ein Körper, der in sich gleichmässig vertheilt zweimal so viel Valenzstellen als elektrische Atome enthält, nach aussen hin sich elektrisch neutral verhalten, dagegen eine Art elektrischer Kräfte zeigen (wir wollen sie positiv nennen), wenn eine überschüssige Zahl elektrischer Atome, die andere Art von Kräften (negative), wenn die Zahl der Valenzstellen überwiegt. Im letzteren Fall wird er eine anziehende Fernkraft auf Atome, im ersteren auf Valenzen ausüben.

Der Ueberschuss der Arbeit der in molekularer Entfernung wirkenden Kräfte zwischen Valenzen und elektrischen Atomen über den Werth e2 / r würde sowohl mit der galvanischen Constanten der verschiedenen Substanzen in der Volta'schen Spannungsreihe zusammenfallen, wie mit dem (Seite 282) Haupttheile der chemischen Verwandtschaftskraft. Diejenigen Valenzen, welche die grössere Anziehung gegen die Elektricität in molekularer Entfernung haben, werden im Stande sein, andere Valenzen von geringerer Anziehung zu verdrängen, wie dies ruhig und allmählich bei den elektrolytischen Processen geschieht, stürmischer und unter äquivalenter Wärmeentwickelung am Orte der Umsetzung selbst in denjenigen chemischen Processen, die nicht durch elektrische Gegenkräfte gehemmt werden.

Die elektrische Bindung zweier Valenzen kann ebenso gut solche von gleichartigen, wie von ungleichartigen Atomen betreffen. Dies ergiebt im ersteren Falle Molekeln aus zwei Atomen bestehend, wie sie in den elementaren Gasen vorkommen, im letzteren Falle gesättigte chemische Verbindungen.

Bei der Elektrolyse wird jedem Eintritt eines neuen elektrischen Aequivalentes aus der Anode an den Elektrolyten und jedem Austritt eines solchen an die Kathode das Freiwerden zweier Valenzen an der letzteren, Bindung eben solcher an der Anode entsprechen, welche aber durch Auswechselung der Ionen längs der Stromlinien in der Flüssigkeit in bekannter Weise wieder in Bindung übergehen können.“

Die zweite Aufzeichnung, betitelt „Zur elektrodynamischen Theorie optischer Erscheinungen“, bezieht sich in den wenigen vorliegenden Zeilen im Wesentlichen zunächst auch nur auf die von ihm vertretenen und oben entwickelten chemischen Anschauungen:

Maxwell's Gleichungen der Elektrodynamik ziehen Wechselwirkungen zwischen träger wägbarer Masse und dem raumfüllenden elektromagnetischen Aether nicht in den Kreis ihrer Betrachtungen, wenigstens nicht anders, als in so weit die Constanten des Mediums durch die Einlagerung verschiedener ponderabler Stoffe verändert werden können. Dabei wird aber vorausgesetzt, dass die etwa eintretende Bewegung des Mediums eine gemeinsame aller seiner Be- (Seite 283) Bestandtheile sei. Diese Voraussetzung führt dann zu einer Theorie des Lichtes, welche keine Erklärung der Dispersion, und auch nicht der durch Magnetismus hervorgebrachten Rotation der Polarisationsebene giebt.

Die Thatsachen lassen uns dagegen deutlich erkennen, dass eine sehr grosse Reihe von Erscheinungen nur zu Stande kommen, wenn ponderable Materie mit betheiligt ist. Dahin gehört die galvanische Leitung, die damit zusammenhängende Absorption des Lichtes, die Verschiedenheiten der diëlektrischen und magnetischen Constanten und des Lichtbrechungsvermögens, einschliesslich der Doppelbrechung, ferner das weite Gebiet der elektrochemischen und galvanischen Wirkungen.

Einen grossen Theil dieser letzteren habe ich, geführt durch Faraday'ss elektrolytisches Gesetz, unter einen gemeinsamen Gesichtspunkt zusammenzufassen gesucht, der sich fähig erwiesen hat, auch in der Lehre von der galvanischen Polarisation und der Thermochemie mancherlei dunkle Punkte aufzuhellen. Die von mir damals aufgestellte Hypothese, dass jede Valenz des Ion einer elektrolytisch zerlegbaren chemischen Verbindung mit einem Aequivalent entweder positiver oder negativer Elektricität verbunden sei, so lange der betreffende Elektrolyt noch nicht zerlegt sei, dass ferner die Valenzen verschiedener Elemente, eventuell auch die verschiedenen Valenzen desselben Atoms verschiedene Anziehungskräfte gegen die Aequivalente der beiden Elektricitäten ausüben, und dass diese Anziehungen und die der ungleichnamigen Elektricitäten unter einander den wesentlichsten Theil der chemischen Verwandtschaftskräfte ausmachten: diese Annahmen habe ich bisher allerdings in der Form der alten dualistischen Theorie der Elektricität ausgesprochen und sie bisher noch nicht in Beziehung zu Maxwell's neuerer Darstellungsweise gebracht. Aber ein wesentliches Hinderniss, dies zu thun, besteht durchaus nicht. Es ist durchaus kein Hinderniss, die (Seite 284) Valenzstellen eines Atoms als Orte aufzufassen, welche Spannungscentra des Aethers sind. Ob man sich einen substantiellen Träger dieser Aetherspannungen noch hinzudenken will, den man bisher als ein Quantum Elektricität bezeichnet hat, oder nicht, und im letzteren Falle das bleibende Quantum nur als eine Integrationsconstante der Bewegungsgleichungen auffasssen will, ist an sich gleichgültig. Nur muss man allerdings die Möglichkeit festhalten, dass bei chemischen Zersetzungen ein solches Spannungscentrum auf ein anderes Atom hinübergleite, und dass verschiedene chemische Elemente verschiedene Anziehung zu dem positiven und negativen Ende der Kraftlinien haben, so dass verhältnissmässig grosse Arbeitsbeträge durch eine solche Auswechselung des positiven mit dem negativen Ende des Kraftlinienbündels geleistet werden kann.

Uebrigens wird es in dieser elektrochemischen Theorie überhaupt fraglich, ob es irgend welche freie Elektricität giebt, die nicht an Valenzen mitgeführter Ionen haftet. Denn im reinen Aether eines von aller ponderablen Substanz leeren Vacuums giebt es auch keine freie Elektricität, selbst wenn Lichtschwingungen hindurchziehen.

Wenn wir diese elektrochemische Annahme festhalten und in durchsichtigen Medien Atome mit positiven und negativen Ladungen uns eingelagert denken, so werden diese bei periodisch wechselnden elektrischen Kräften des sie umgebenden Raumes nothwendig in oscillatorische Bewegung versetzt werden müssen, bei denen ihre Trägheit sich geltend machen muss, so dass sie nicht nothwendig augenblicklich den auf sie wirkenden elektrischen Kräften folgen werden. Dadurch sind die wesentlichen Bedingungen für eine Abhängigkeit der Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Wellen von der Schwingungsdauer, d. i. der Dispersion gegeben.“

Nachdem Helmholtz seine Rede in London gehalten, reiste er nach Cambridge, wo er zum Doctor of Laws (Seite 285) gemacht wurde, hielt sich noch einige Zeit in Glasgow bei seinem Freunde W. Thomson auf und reiste dann direct nach Berlin zurück, um seine thermodynamische Arbeit zur Veröffentlichung vorzubereiten.

Die Faraday-Rede hatte ein ganz ungewöhnliches Aufsehen in der englischen Gelehrten-Welt erregt, und Sir William Thomson sah sich dadurch veranlasst, an Helmholtz die Bitte zu richten, noch im Herbst desselben Jahres einige öffentliche Vorlesungen in England zu halten. Helmholtz antwortete ihm am 15. Juli dankend, aber ablehnend:

„Ich sage Ihnen meinen besten Dank für Ihre so freundliche Absicht, mich wieder nach Glasgow zu ziehen. Aber ich finde, dass ich den angebotenen Auftrag nicht übernehmen kann. Erstens kenne ich das Publicum, vor dem ich zu sprechen haben würde, zu wenig und habe überhaupt wenig Glück mit meinen Versuchen, populäre Vorlesungen vor einem grossen, aus verschiedenen Ständen gemischten Publicum zu halten; zweitens nimmt für mich das Ausarbeiten einer Vorlesung in englischer Sprache zu viel Zeit in Anspruch, und ich habe alle Ursache, mit meiner Zeit geizig zu werden, da ich in diesem Jahre 60 alt werde und noch viele Arbeiten vor mir habe, die ich gern vollenden möchte.“

Reise nach Paris

Nachdem er nach den Mühen des Sommersemesters wie gewöhnlich den August in Pontresina zugebracht, wo er „den verhängnissvollen Tag, an dem er die fünfziger Jahre verliess“, durch eine mühevolle zwölfstündige Partie über die Diavolezza feierte, ging er am 15. September zum elektrischen Congress nach Paris, der an seine Arbeitskraft wieder äusserst grosse Anforderungen stellte, ihm aber auch viel Anregung und Interesse bot.
„Ich fuhr mit du Bois in die Eröffnungssitzung“, schreibt er seiner Frau. „Der Minister der Posten ist Präsident, drei andere Minister sind die für Frankreich gestellten Vicepräsidenten. Die auswärtigen waren zu wählen. (Seite 286) Gewählt wurden Sir W. Thomson, Professor Govi von Turin und Dein Gatte. Wir nahmen unseren Platz neben Excellenz Cochery unter grosser Acclamation ein. Die Sitzung selbst war nur formell; in der Versammlung sind eine Menge interessanter Leute … Im Congress haben wir Sitzungen über Sitzungen von Sectionen, Commissionen, Subcommissionen, Privatcomités gehabt, um die Frage wegen der elektrischen Maasseinheiten zwischen England und Deutschland zu erledigen. Es scheint jetzt glücklich gelungen zu sein. Ich habe jeden Tag drei oder vier französische Reden gehalten, welche Du glücklicher Weise nicht gehört hast. Sir W. Thomson und ein englischer Jurist Moulton sind die Haupt-Debaters auf englischer Seite. Uebrigens erfreue ich mich der Gunst meines Publicums und fahre also fort, mein schlechtes Französisch der Welt ins Gesicht zu schleudern …“

Reise nach Florenz und Wien

Von Paris aus musste Helmholtz noch nach Florenz reisen, da er von den italienischen Physiologen zu den Berathungen über die Ertheilung eines Preises als die erste Autorität des Auslandes eingeladen war:
„Wir haben einen grossen Sitzungssaal für uns mit Mobiliar der Murat's, rechts wohnt Tommasi, links ich. Um 2 Uhr werden wir mit zwei anderen Physiologen unsere erste Sitzung haben. Ueber das Resultat wird wohl nicht viel Zweifel bestehen, nur müssen wir die Sache in schriftliche Form bringen …“

Auf der Rückreise besuchte er noch die elektrische Ausstellung in Wien und traf dort mit W. Thomson zusammen. Ich versammelte damals diesen beiden Meistern der Naturforschung zu Ehren die hervorragendsten Naturforscher Wiens, wie Brücke, Stefan, Oppolzer und viele andere an einem Nachmittage in meinem Hause, und alle waren entzückt von der vornehmen Liebenswürdigkeit von Helmholtz; er sprach mir seine grosse Freude darüber aus, dass er endlich Gelegenheit hatte, mit Stefan, den er (Seite 287) sehr hoch schätzte, eine wissenschaftliche Unterhaltung führen zu können. [Anm: Koenigsberger wohnte von 1877 bis 1884 in Wien.]

Schon nach wenigen Tagen kehrte er nach Berlin zurück und musste zunächst in schriftlichen Gutachten und durch Vorträge in wissenschaftlichen Vereinen über die in Paris gefassten Beschlüsse Bericht erstatten. Noch vor Ende des Jahres macht er im elektrotechnischen Verein in einem Vortrage „Ueber die elektrischen Maasseinheiten nach den Berathungen des elektrischen Congresses versammelt zu Paris 1881“ und im folgenden Jahre in der physikalischen Gesellschaft in dem „Bericht über die Thätigkeit der internationalen elektrischen Commission“ nähere Mittheilungen über die Resultate der Pariser Berathungen, welche in der Arbeit „Ueber absolute Maasssysteme für elektrische und magnetische Grossen“ im Jahre 1882 in Wiedemann's Annalen zusammengefasst sind.

Jede Feststellung einer neuen absoluten Maasseinheit muss auf die messende Beobachtung natürlicher Vorgänge basirt und schliesslich auf einen rein mechanische Vorgänge enthaltenden Versuch zurückgeführt werden. Das Maass der magnetischen Quanta, welches bisher ausschliesslich angewandt wurde, ist auf die von Gauss aufgestellte Definition gegründet, wonach die abstossende Kraft zwischen zwei magnetischen Quantis m1 und m2, die in der Entfernung r von einander sich befinden, nicht bloss proportional, sondern gleich dem Werthe m1 m2 / r2 gesetzt wird; da die Kraft und die Länge r nach bekannten Methoden zu messen sind, ist dadurch der Werth des Productes m1 m2 in absoluten Maassen bestimmt, und wenn also aus anderen Thatsachen noch das Verhältniss m1 / m2 bestimmt werden kann, sind m1 und m2 einzeln gegeben. Setzt man die absolute Dichtigkeit des Wassers gleich 1, während die Einheit der Masse nach Gravitationsmaass bestimmt ist, so ist dadurch nach Gauss ein von der (Seite 288) wahrscheinlich veränderlichen Rotation der Erde unabhängiges Zeitmaass gegeben. Genau dasselbe Princip wendet Gauss auf die elektrischen Quanta und die gravitirenden Massen an. Helmholtz empfiehlt nun gegenüber Vorschlägen von Clausius und Maxwell, sich an das Gauss'sche magnetische und elektrostatische Maass zu halten, welches der Elektricität und dem Magnetismus die Einheiten [e] = [m] = M1/2 L1/2 T-1 verleiht, worin durch die eckigen Klammern die Dimensionen des von denselben eingefassten Ausdruckes, mit M eine Masse, mit L eine Länge, mit T eine Zeit bezeichnet werden, und von diesen ausgehend alle übrigen bestimmt. Er schlägt vor, diesem Systeme auch den Namen des elektrostatischen zu lassen.

In dieser Zeit hatte Helmholtz seine fundamentalen thermodynamischen Untersuchungen zum grossen Theil zum Abschluss gebracht und war nur noch mit der äusserst schwierigen Darstellung derselben beschäftigt. Gleichzeitig gab er die Anregung zu einigen experimentellen Untersuchungen, welche ihm für die Begründung seiner chemischen Anschauungen ein wesentliches theoretisches Interesse boten.

Er legte am 3. November 1881 der Akademie eine Arbeit vor, betitelt: „Ueber galvanische Polarisation des Quecksilbers und darauf bezügliche neue Versuche des Herrn Arthur König“, die König auf Veranlassung von Helmholtz im Universitätslaboratorium angestellt hatte. Es handelte sich um Messungen über die Capillarspannung der galvanisch polarisirten Quecksilberflächen, bei welchen der störende Einfluss der veränderlichen Adhäsion der beiden Flüssigkeiten an den Glaswänden in Wegfall kam. Die optischen Schwierigkeiten bei der Messung der Niveaudifferenz zwischen der Kuppe und dem grössten Umfange eines ruhenden Quecksilbertropfens wurden ebenfalls vermieden, und zwar wurde die Messung der Oberflächenspannung des Quecksilbers durch Beobachtung der (Seite 289) Krümmung an dem Scheitel eines Quecksilbertropfens ausgeführt, welche durch das Ophthalmometer mit grosser Schärfe bestimmt werden konnte. Der Tropfen ragte aus der oberen, 9 mm weiten kreisförmigen Oeffnung eines Glasgefässes hervor und war umgeben von der in einem weiteren Gefäss enthaltenen elektrolytischen Flüssigkeit. Durch eine geeignete Vorrichtung konnte die Kuppe des Tropfens mehr oder weniger aus der Mündung des engeren Gefässes hervorgedrängt und so eingestellt werden, dass die Krümmung am Scheitel ihr Maximum erreichte. Die Versuchsreihen zeigten übereinstimmend die Erscheinung, dass in einem mittleren, bei den verschiedenen Flüssigkeiten verschiedenen Polarisationszustande die Oberflächenspannung ein Maximum erreicht. Helmholtz macht nun die Voraussetzung, dass die Kräfte, unter deren Einfluss sich an der polarisirten Fläche der Gleichgewichtszustand zwischen den an der Kuppe wirkenden molekularen und elektrischen Kräften bildet, conservative sind, und findet unter dieser Annahme, dass im Zustande der maximalen Oberflächenspannung zwischen dem Quecksilber und der Flüssigkeit kein Potentialunterschied besteht, und die Fläche frei von jeder elektrischen Doppelschicht sein muss. Schliesslich zeigt er noch, indem er das Quecksilber als Elektrode benutzt, dass Faraday's elektrolytisches Gesetz, nach welchem da, wo keine Elektrolyse möglich ist, auch keine Elektricität vom Metall zum Elektrolyten oder umgekehrt übergehen kann, nur in scheinbarem Widerspruch steht zu den Versuchen über galvanische Ströme, welche durch ungleichzeitiges Eintauchen zweier gleichartiger Elektroden in die gleiche Flüssigkeit erregt werden.

Das Jahr 1882 brachte Helmholtz und seiner Familie hohe Anerkennung und huldvolle Auszeichnung; er wurde von Kaiser Wilhelm I. in den erblichen Adelstand erhoben. Zugleich hatte das Erscheinen des ersten Bandes seiner „Wissenschaftlichen Abhandlungen“, dem schon im nächsten Jahre der zweite Band folgte, der wissenschaftlichen (Seite 290) Welt den staunenswerthen Umfang seiner gewaltigen wissenschaftlichen Leistungen vor Augen geführt.

„Ich finde es besonders erfreulich“, schreibt ihm L. Kronecker, „wie Ihre eigene wissenschaftliche Individualität darin zur Erscheinung gebracht wird. Zeigt die „Inhaltsübersicht“ schon dem Leser die ganz exceptionelle Ausdehnung Ihres Wissens- und Forschungsgebietes, so zeigt dann im Innern jede einzelne, Abhandlung dem, der sie gründlich studirt, Ihre Tiefe und Gründlichkeit.“

Und ein Jahr später:

„Dass man, wenn man Helmholtz'sche Denkkraft hat, so tiefe und durchschlagende Gedanken, und wenn man dazu das beispiellose Helmholtz'sche Denkmaterial besitzt, auch so mannigfaltige und umfassende Gedanken haben kann, wie die in Ihren Abhandlungen niedergelegten, ist nicht zu verwundern. Aber dass sich in Ihnen mit der Denk- und Wissensgewalt jene seltene Menschenfreundlichkeit und Arbeitskraft verbindet, welcher die Welt die Idee und die Vollendung, die Herausgabe Ihrer gesammelten Abhandlungen verdankt, das ist es, was meine höchste Bewunderung erregt.“

Es war ein Jahr schwerster wissenschaftlicher Arbeit, in welchem er seine tiefen thermodynamischen Untersuchungen zum Abschluss brachte, welche ihm sogleich wieder den Ausgangspunkt boten für seine staunenswerthe Theorie der Statik monocyklischer Systeme und welche zugleich in den fundamentalen Forschungen über das Princip. der kleinsten Wirkung culminirten, die ihn bis an sein Lebensende beschäftigten.

Am 18. September 1882 schreibt er an Thomson:

„Nach zehn Monaten Arbeit habe ich sehr verlangt nach ungestörter Ruhe, für welche ich Pontresina einen der besten Plätze von der Welt gefunden habe. Am 16. October muss ich nach Paris gehen als Mitglied der internationalen Commission des elektrischen Congresses. Mein Faraday-Vortrag (Seite 291) hat mich, zu elektrischen Forschungen geführt; ich hoffe, dass Sie meine erste Notiz über diesen Gegenstand bekommen haben „Ueber thermodynamischen Werth der chemischen Actionen“. Eine zweite ist schon gedruckt worden, ein Vergleich der chemischen Energie von Lösungen u. s. w.“

Da der Verlust von mechanischer Energie durch Reibung Wärme entstehen lässt, und der Gewinn von mechanischer Energie einen Verlust von Wärme bedingt, da ferner die Menge der verlorenen und gewonnenen Energie proportional ist der Menge der gewonnenen und verlorenen Wärme, so durfte man die Wärme als eine Form der Energie betrachten und gelangte zu der Annahme, dass jedes Partikel eines warmen Körpers sich fortwährend mit beständig variirender Bewegungsrichtung so schnell bewegt, dass dasselbe eine geringe oder gar keine Veränderung seines Ortes im Körper erfährt. Ist dies aber der Fall, so muss ein Theil der Energie eines warmen Körpers die Form der kinetischen Energie haben, und es wird somit die Energie, da jede Art derselben in Wärme umgewandelt werden kann, in der Form von Wärme gemessen werden können. Doch kann man aus dem Princip von der Erhaltung der Kraft nicht entnehmen, ob Arbeit unbegrenzt in Energie der Wärme und letztere unbegrenzt in Arbeit verwandelt werden kann, und wie es sich damit bei all den anderen Naturkräften verhält. Auf diese in praktischer und theoretischer Beziehung so wichtige Bestimmung richtete nun Helmholtz zunächst seine Aufmerksamkeit, indem er untersuchte, ein wie grosser Theil der Wärme, die in einem galvanischen Elemente bei chemischen Processen entwickelt wird, sich als Stromesarbeit wiederfindet, und die Energieformen in verschiedene Rangstufen ordnete, je nachdem sie mehr oder weniger vollkommen in mechanische Arbeit verwandelbar sind.

In seinen fundamentalen Arbeiten „Die Thermodynamik chemischer Vorgänge“, welche er am 2. Februar und 27. Juli 1882 der Berliner Akademie vorlegte, entwickelt (Seite 292) er mathematisch formulirte Beziehungen zwischen den Gesetzen der Wärme, der Elektricität und der chemischen Erscheinungen, aus denen sich eine Identität der chemischen Valenzen und elektrischen Potentiale der Atome als wahrscheinlich ergiebt, so dass die elektrochemischen Processe als eine nach den Coordinaten des Eaumes geordnete, die Wärme als eine ungeordnete Molekular- und Atombewegung erscheint.

Die Frage nach dem Zusammenhange zwischen der elektromotorischen Kraft von Ketten mit unpolarisirbaren Elektroden und den chemischen Veränderungen, die in jenen vor sich gehen, hatte Helmholtz auf die allgemeinere Frage geführt, welcher Theil der in einem Körper vorhandenen Energie in andere Arbeitsformen umgesetzt werden kann, und ihn zu seinen Arbeiten über die Thermodynamik chemischer Vorgänge geleitet, welche wieder nur die Vorarbeiten zu seinen grossen Untersuchungen über die monocyklischen Systeme bilden. Die Dynamik hatte durch die Einführung der potentiellen Energie, welche von Helmholtz früher als Quantität der Spannkräfte bezeichnet wurde, eine wesentliche Vereinfachung und Verallgemeinerung ihrer analytischen Entwickelungen erreicht. Bei den Anwendungen dieses Begriffes wurden jedoch Aenderungen der Temperatur in der Regel nicht berücksichtigt, weil entweder die Kräfte, deren Arbeitswerth man berechnete, wie z. B. die Gravitationskraft, überhaupt nicht von der Temperatur abhängen, oder weil die Temperatur während der untersuchten Vorgänge als constant oder als Function bestimmter mechanischer Aenderungen angesehen werden konnte, wie z. B. bei der Schallbewegung als Function der Dichtigkeit des Gases. Wenn nun auch die im Werthe der potentiellen Energie vorkommenden physikalischen Constanten, wie die Dichtigkeit u. a., mit der Temperatur variiren, und somit auch diese Energie eine Function der Temperatur ist, so blieb doch die im Werthe jeder potentiellen Energie (Seite 293) vorkommende Integrationsconstante vollkommen willkürlich für jede neue Temperatur zu bestimmen — man konnte die Uebergänge von der einen zur anderen Temperatur nicht machen.

Die bisherigen Untersuchungen über die Arbeitswerthe chemischer Vorgänge bezogen sich fast ausschliesslich auf die bei Herstellung und Lösung der Verbindungen auftretenden oder verschwindenden Wärmemengen, während doch mit den meisten Veränderungen auch Aenderungen des Aggregatzustandes und der Dichtigkeit der Körper, verbunden sind. Diese erzeugen aber oder verbrauchen Arbeit in zweierlei Formen, in der Form von Wärme und in der Form von unbeschränkt verwandelbarer Arbeit. Ein Wärmevorrath ist nicht unbeschränkt in andere Arbeitsäquivalente verwandelbar, sondern das kann immer nur theilweise erreicht werden und nur dadurch, dass wir gleichzeitig den nicht verwandelten Rest der Wärme in einen Körper niederer Temperatur übergehen lassen. Da nun bei den meisten chemischen Vorgängen schon die Veränderungen des Schmelzens, Verdampfens u. a. auch Wärme aus der Umgebung herbeiziehen, so wird man auch bei diesen fragen müssen, in welchem Verhältniss mechanische und thermische Energie erhalten werden können. Wenn man weiter bedenkt, dass auch die chemischen Kräfte allein nicht bloss Wärme, sondern auch andere Formen der Energie hervorbringen können, ohne dass irgend eine der Grösse der Leistung entsprechende Aenderung der Temperatur in den zusammenwirkenden Körpern einzutreten braucht, wie z. B. bei den Arbeitsleistungen der galvanischen Batterien, so muss auch bei den chemischen Vorgängen eine Scheidung vorgenommen werden zwischen dem Theile ihrer Verwandtschaftskräfte, welcher freier Verwandlung in andere Arbeitsformen fähig ist, und dem Theile, welcher nur als Wärme erzeugbar ist. Diese beiden Theile der Energie bezeichnet nun Helmholtz als freie und gebundene Energie. (Seite 294) Er zeigt, dass die Processe, welche aus dem Ruhezustande und bei constant gehaltener gleichmässiger Temperatur des Systems von selbst eintreten und ohne Hülfe einer äusseren Arbeitskraft fortgehen, nur in solcher Richtung verlaufen können, dass die freie Energie abnimmt. Hierher gehören die bei constant erhaltener Temperatur von selbst eintretenden und fortschreitenden chemischen Processe, und es würden somit bei unbeschränkter Gültigkeit des Clausius'schen Gesetzes die Werthe der freien Energie, nicht die der durch Wärmeentwickelung sich kundgebenden gesammten Energie darüber entscheiden, in welchem Sinne die chemische Verwandtschaft thätig sein kann.

Helmholtz greift nun die Untersuchung ganz allgemein an für ein beliebig zusammengesetztes System von Massen, welche alle dieselbe Temperatur haben und alle auch immer die gleichen Temperaturänderungen erleiden, und nimmt an, dass der Zustand des Systems durch die Temperatur und eine Anzahl unabhängiger Parameter vollständig bestimmt ist. Durch eine Reihe scharfsinniger mathematischer Ueberlegungen gelangt er mit Hülfe der beiden Clausius'schen Gleichungen zu dem Resultat, dass die thermodynamischen Gleichungen zu ihrer Darstellung nur die Differentialquotienten des als Function der Temperatur vollständig bestimmten sogenannten Ergals erfordern. Dieses Ergal, welches für alle in constant bleibender Temperatur vorgehenden Veränderungen, wie er zeigt, mit dem Werth der potentiellen Energie für die unbeschränkt verwandelbaren Arbeitswerthe zusammenfällt, bezeichnet er als die freie Energie des Körpersystems, während die Differenz der gesammten inneren Energie und des Ergais die gebundene Energie genannt wird. Der Quotient aus der gebundenen Energie und der Temperatur ist die von Clausius eingeführte Entropie.

Um ferner das, was die theoretische Mechanik bisher als lebendige Kraft oder actuelle Energie bezeichnet hat, (Seite 295) von den Arbeitsäquivalenten der Wärme zu unterscheiden, die doch auch grösstentheils als lebendige Kraft unsichtbarer Molekularbewegungen aufzufassen sind, schlägt Helmholtz vor, erstere als lebendige Kraft geordneter Bewegung zu bezeichnen. Allgemein definirt er als geordnete Bewegung eine solche, bei welcher die Geschwindigkeitscomponenten der bewegten Massen als continuirliche differenzirbare Functionen der Raumcoordinaten angesehen werden können. Eine ungeordnete Bewegung ist dagegen eine solche, bei welcher die Bewegung jedes einzelnen Theilchens keinerlei Art von Aehnlichkeit mit der seiner Nachbaren zu haben braucht. Höchst wahrscheinlich ist die Wärmebewegung von letzterer Art, und er bezeichnet in diesem Sinne die Grösse der Entropie als das Maass der Unordnung.

„Für unsere dem Molekularbau gegenüber verhältnissmässig groben Hülfsmittel ist nur die geordnete Bewegung wieder in andere Arbeitsformen frei verwandelbar; ob eine solche Verwandlung den feinen Structuren der lebenden organischen Gewebe gegenüber auch unmöglich sei, scheint mir immer noch eine offene Frage zu sein, deren Wichtigkeit für die Oekonomie in der Natur in die Augen springt.“

Durch einfache mathematische Ueberlegungen gelangt Helmholtz zu dem Resultat, dass bei allen Veränderungen, bei welchen die Temperatur constant bleibt, Arbeit nur auf Kosten der freien Energie geleistet wird, während die gebundene Energie sich auf Kosten ein- und austretender Wärme ändert. Bei allen adiabatischen Veränderungen wird Arbeit erzeugt auf Kosten der freien wie der gebundenen Energie, die Entropie bleibt hierbei constant. In allen anderen Fällen wird äussere Arbeit auf Kosten der freien Energie geliefert, alle Wärmeabgabe auf Kosten der gebundenen, während bei jeder Temperatursteigerung im System freie Energie in gebundene übergeht.

Mit diesen allgemeinen Folgerungen stimmen nun die (Seite 296) Beobachtungen an galvanischen Elementen überein. Es zeigt sich, dass die gebundene Energie auf Kosten der zugeführten Wärme, und bei Temperatursteigerungen auf Kosten der freien Energie wächst, es wird also stets freie Energie in gebundene übergeführt und nicht umgekehrt. Die freie Arbeit beim isothermen Uebergange ist daher auch bei nicht umkehrbaren Processen nicht durch die entwickelte Wärme ausgedrückt, wenn die Anfang- und Endtemperatur gleich sind, da diese Wärme von der freien und gebundenen Energie herrührt, während die freie Arbeit nur von der ersteren abhängt. Dass die ohne Berücksichtigung von Temperaturänderungen verschwindend kleine Aenderung der freien Energie nicht positiv oder Null ist, wird als Bedingung für das Beharren in dem augenblicklichen Zustande anzusehen sein; wird aber durch Temperatursteigerung ein Punkt erreicht, wo dieselbe negativ wird, dann tritt Dissociation ein. Es müssen daher alle chemischen Verbindungen unterhalb der Dissociationstemperatur Wärme abgeben, wenn sie auf umkehrbarem Wege gebildet werden.

Den neuen Begriff der freien Energie verwerthet nun Helmholtz, um den Zusammenhang der elektromotorischen Kraft einer Kette mit der Dampfspannung zu berechnen.

  Fortsetzung des Kapitels


S. 259 - 296 aus:
Koenigsberger, Leo: Hermann von Helmholtz. - Braunschweig : Vieweg
Band 2. - 1903


Letzte Änderung: 24.05.2014     Gabriele Dörflinger   Kontakt

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