Leo Koenigsberger: Hermann von Helmholtz

Helmholtz als Präsident der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt
von Ostern 1888 bis zum 8. September 1894


Anfang des Kapitels

Berlin 1892

Am 26. Februar 1892 schreibt er an Hertz:
„Ich nehme mit bestem Dank Ihr Anerbieten an, mir Ihre Sammlung von Abhandlungen über die elektrischen Wellen zu dediciren; dies ist einmal eine Widmung, an der ich ungetrübte Freude haben kann, und für die Belehrungsbedürftigen aller Länder ist es ein grosser Vortheil, die Abhandlungen alle zusammen zu haben. … Ich bin eben selbst dabei, wieder einen kleinen elektrodynamischen Aufsatz zu schreiben, nämlich eine Umformung von Maxwell's Gleichungen in die Form des Princips der kleinsten Wirkung, da, wie Sie selbst schon bemerkt haben, die Herleitung der ponderomotorischen Kräfte möglicherweise unvollständig sein konnte. Aber das genannte Princip ergiebt sie übereinstimmend mit der älteren Herleitung aus der Energie.“

Hertz antwortet ihm darauf am 28. Februar, dass ihm keine einwurfsfreie Verknüpfung der ponderomotorischen (Seite 49) Kräfte aus den Maxwell'schen Gleichungen für den allgemeinen Fall beliebiger Veränderungen bekannt geworden ist.

Diese Untersuchung legte nun Helmholtz, nachdem er im Frühjahr einige Wochen in Norditalien zugebracht und seine Frau bei deren Schwester in Abbazia abgeholt hatte, am 12. Mai 1892 unter dem Titel: „Das Princip der kleinsten Wirkung in der Elektrodynamik“ der Berliner Akademie vor. Er stellt sich die äusserst schwierige Frage, ob sich die empirisch gefundenen Sätze der Elektrodynamik, wie sie in Maxwell's Gleichungen ausgesprochen sind, in die Form eines Minimalsatzes bringen lassen.

In einem System ponderabler Körper, dessen innere Kräfte conservativ sind, weiss man in der Regel, welche Grössen Coordinaten und welche Geschwindigkeiten bezeichnen, und es ist dann bis zu einer gewissen Grenze möglich, nach der von Helmholtz früher entwickelten Beziehung zwischen der gesammten Energie und dem kinetischen Potential aus der ersteren das letztere zu finden. Es blieb nur, wie früher hervorgehoben worden, eine lineare homogene Function der Bewegungsmomente unbestimmt, welche additiv zum Werthe des kinetischen Potentials hinzutritt, weil solche lineare Glieder aus dem Werthe des Energievorraths sich wegheben. Dies lässt sich jedoch nicht ausführen, wenn wir nicht erkennen können, welche der inneren Veränderungen des Systems Lagenänderungen einzelner Theile, welche dagegen Geschwindigkeitsänderungen unbekannter innerer Bewegungen oder auch vielleicht Aenderungen der Bewegungsmomente entsprechen. Und in diesem Falle befindet man sich im Gebiete der Elektrodynamik; man hat es hier mit Elektrisirung und Magnetisirung einzelner Körper und Substanzen zu thun, beide Zustände können dauernd bestehen. Elektrische Ströme rufen magnetische Kräfte, magnetische Aenderungen elektrische Kräfte hervor. Man wird somit, ohne sich auf jene Beziehung zwischen der Energie und dem kinetischen Potential zu stützen und durch Berechnung der (Seite 50) letzteren das Princip der kleinsten Wirkung aufstellen zu können, versuchen müssen, ob die empirisch gefundenen Gesetze der Elektrodynamik, wie sie in Maxwell's Gleichungen ausgesprochen sind, in die Form eines Minimalsatzes gebracht werden können, und welche Analogien diese Form mit der für ponderable Körper zeigt.

Helmholtz geht nun von der Ueberlegung aus, dass, wenn wir uns über das Wesen der elektrischen und magnetischen Kräfte und über die Natur des sie tragenden materiellen Substrats Vorstellungen bilden wollen, wir zunächst nur wissen, dass sie beide unter das Gesetz von der Constanz der Energie fallen. Wir können jedoch die beiden Formen der Energie nicht sicher von einander trennen und wissen auch ferner nicht, ob sie an den anderen allgemeinen Eigenschaften aller conservativen Bewegungskräfte wägbarer Substanzen Theil nehmen, die in dem Princip der kleinsten Wirkung ihren kürzesten Ausdruck finden, und, wie Helmholtz in den oben besprochenen mechanischen Arbeiten nachgewiesen, eine Reihe von eigentümlichen Reciprocitätsgesetzen zwischen den Kräften verschiedenen Ursprungs in einem System wägbarer Massen zum Ausdruck bringen. Soweit die von F. E. Neumann aufgestellten und von Helmholtz erweiterten Potentialgesetze reichen, für geschlossene Ströme, deren Zwischenräume frei von magnetischer und elektrischer Substanz sind, bewährt sich, wie Helmholtz schon früher gezeigt, das Princip der kleinsten Wirkung; es bleibt aber die Frage zu beantworten, ob das Princip auch die vollständigeren Gleichungen der Elektrodynamik in sich aufnehmen könne, wie sie Cl. Maxwell aufgestellt und H. Hertz mit expliciter Entwickelung der von der Bewegung des Mediums abhängigen Glieder vervollständigt hat.

Abgesehen von den theoretischen Fragen über die Natur der zu Grunde liegenden Kräfte stellen sich auch noch Fragen über beobachtbare Erscheinungen dabei ein. Die (Seite 51) Werthe der ponderomotorischen Kräfte in elektromagnetischen Systemen sind nämlich bisher nur aus dem Werthe der Energie hergeleitet worden. Helmholtz hat jedoch früher gezeigt, dass in solchen Fällen, wo das kinetische Potential Glieder enthält, die in den Geschwindigkeiten linear sind, solche aus dem Werthe der Energie verschwinden, und also auch die von ihnen herrührenden Kräfte nicht aus der Energie gefunden werden können. Nun kommen solche lineare Glieder in der That schon in dem nach F. E. Neumann's Vorgang gebildeten kinetischen Potential vor, sobald permanente Magnete und geschlossene Ströme auf einander wirken. Die Frage, ob nicht noch mehr dergleichen existiren, war ohne besonders darauf gerichtete Untersuchung nicht zu entscheiden. Es gelingt nun Helmholtz in der That, ein solches kinetisches Potential zu bilden, dass die gleich Null gesetzte Variation des zwischen zwei Zeitpunkten genommenen Integrales desselben die Maxwell-Hertz'schen Gleichungen liefert, und es ergeben sich auch die ponderomotorischen Kräfte aus dem Minimalprincip vollkommen übereinstimmend mit Maxwell's Theorie. Abweichend von den bekannten Formen des Problems erscheint es hier, dass Grössen, welche schliesslich als Bewegungsmomente charakterisirt werden, bei der Variation als unabhängige Variable behandelt worden sind, übereinstimmend mit seinen früheren allgemeinen Untersuchungen, wo die Geschwindigkeiten ebenfalls als unabhängige Variable betrachtet wurden, und die Bedeutung dieser Grössen durch die Variation selbst erst gefunden wird. Es kommen häufig Fälle vor, von denen man nicht weiss, ob sie Zustände oder Aenderungsgeschwindigkeiten von solchen sind — ähnliche Ueberlegungen hat Helmholtz noch in seinen letzten Lebenstagen angestellt.

Am 11. Juni hielt Helmholtz in der Generalversammlung der Goethe-Gesellschaft zu Weimar seine schon früher erwähnte Rede: Goethe's Vorahnungen kommender (Seite 52) naturwissenschaftlicher Ideen“. Von Weimar zurückgekehrt, fand er die Mittheilung aus Paris vor, er sei „élu Associé Etranger le 13 juin 1892, en remplacement de Don Pedro II d'Alcantara, Empereur du Brésil“; auch wartete seiner die Ernennung zum Ehrenmitglied der deutschen chemischen Gesellschaft zu Berlin. Dagegen war er selbst zu seiner grossen Freude in der Lage, seinem alten Freunde Lord Kelvin eine hohe Ehrung zu Theil werden zu lassen. Am 4. Juli 1892 schreibt er ihm:

„My dear friend, according to your and Lady Kelvin's proposal and very kind invitation we shall come, Frau von Helmholtz and I to Edinburgh for the time of the British Association, and afterwards, if it fits into your time to Netherhall. When going to Edinburgh we shall stay some days with Lord Rayleigh at his countryseat in Essex (29. and 30. of July).

I don't know, if You have already received the information, that on last Thursday the Academy of Sciences at Berlin has elected you to be one of the first possessors of the Helmholtz-medal. At the same time the medal has been given to Mr. du Bois-Reymond, to Robert Bunsen and to our Mathematician Professor Weierstrass.“

Die beabsichtigten, gemeinschaftlich mit Lord Rayleigh anzustellenden Versuche veranlassen ihn, am 19. Juli 1892 das nachfolgende Urlaubsgesuch an das Ministerium einzureichen:

„Ew. Excellenz habe ich die Ehre gehorsamst anzuzeigen, dass ich Donnerstag den 28. d. M. nach England abzureisen beabsichtige, um zunächst noch mit Lord Rayleigh und Professor Glazebrook von Cambridge die Ergebnisse der schon vorher von Dr. Lindeck im Laboratorium zu Cambridge auszuführenden Versuche der Widerstandsvergleichungen festzustellen. Die Versammlung in Edinburgh wird vom 3. bis 11. August dauern, und nachher sollen im Laboratorium des Board of Trade in London (Seite 53) noch die Vergleichungen unserer Widerstände und Normalelemente mit denen des Board of Trade angestellt werden ...“

Im August besuchte er mit seiner Frau zunächst wieder Bayreuth, weilte dann einige Wochen in Pontresina und reiste sodann über Paris nach England. „Der Aufenthalt in England war etwas anstrengend, aber sehr interessant und schön, und haben wir uns glücklich durch alle Ehren und Festlichkeiten durchgewunden.“

Das fünfzigjährige Doctorjubiläum

Von seiner Reise aus England zurückgekehrt, machte er zunächst nach Absolvirung der dringendsten Amtsgeschäfte das 6. und 7. Heft der neuen Auflage seiner physiologischen Optik druckfertig, so dass diese noch in demselben Jahr erscheinen konnten, und verliess dann auf wenige Tage Berlin, um sein am 2. November bevorstehendes fünfzigjähriges Doctorjubiläum still und zurückgezogen nur im Kreise seiner Familie zu feiern. Einige der Glückwunschschreiben, welche in überreicher Anzahl einliefen, und die von Helmholtz gegebenen schriftlichen Erwiderungen bieten nach verschiedenen Richtungen hin ein mannigfaches Interesse.

Der Kaiser sandte telegraphischen Glückwunsch:

„Dem grossen Forscher und treuen Patrioten sende ich zu dem heutigen Ehrentage die herzlichsten Glückwünsche, mir vorbehaltend, zum Andenken Ihnen mein Bildniss zu verleihen.“

Sein unmittelbarer Vorgesetzter, der Minister des Innern von Bötticher schreibt:

„… Die unermüdliche und über die Grenzen unseres Vaterlandes hinaus anerkannte Thätigkeit, welche Sie in der Leitung jener für die geistigen und materiellen Interessen des deutschen Volkes gleich bedeutungsvollen Anstalt während der letzten Jahre entwickelt haben, bietet, wie ich hoffen darf, die Gewähr, dass auch in dem neuen Abschnitt Ihres wissenschaftlichen Lebens die Reichsverwaltung auf Ihre hingebende Mitwirkung rechnen kann. Dass glückliche (Seite 54) Erfolge und reiche Befriedigung Ihre Thätigkeit an der Spitze der Reichsanstalt krönen mögen, ist an dem heutigen Tage mein lebhaftester Wunsch.“

Der um das Unterrichtswesen in Preussen so hochverdiente Minister von Gossler wendet sich mit den Worten an ihn:

„Aus den Zeitungen ersehe ich, dass Sie vor den Ehren des heutigen Tages geflohen sind, und mich um die Freude bringen, Ihnen wieder einmal von Mund zu Mund meine Verehrung und Dankbarkeit auszusprechen. Dieser Schmerz soll aber Ihr Herz nicht drücken. Auch schriftlich freue ich mich des Glücks, als Deutscher — als Freund der Wissenschaft — als ein Mann, dem es vergönnt war, Ihrem Streben und Arbeiten aus der Nähe zuschauen zu dürfen, Ihnen und dem Vaterland Glück zu wünschen zu Ihrem Ehrentage, zu der Frische und Kraft, mit welcher Sie ihn begehen. Die ersten fünfzig Jahre des Ringens und Schaffens sind zwar die leichteren und angenehmeren, aber Ungezählte auf dem ganzen Erdenrunde hegen heute die Zuversicht und den innigen Wunsch, dass Sie auch in dem zweiten Halbhundert noch einen langen und an Erfolgen reichen Weg zurücklegen werden. Möge Ihnen im Beruf und in der Familie der Segen weiter das Leben erhellen, dessen Sie Sich heute erfreuen. …“

Die medicinische Facultät in Berlin, in der er vor 50 Jahren sein Doctorexamen abgelegt, übersandte ihm das erneuerte Diplom mit herzlichen Glückwünschen; in der von dem derzeitigen Decan Jolly verfassten Adresse wird die Freude der Facultät betont, bei dieser für die ganze wissenschaftliche Welt so bedeutungsvollen Feier bezeugen zu dürfen, dass ein sichtbares und unlösliches Band den Jubilar mit ihr verknüpft:

„Die Wege Ihrer Forschungen und Entdeckungen haben Sie freilich weit über den Rahmen der medicinischen Wissenschaft hinausgeführt, und es würde gegenüber einem Manne (Seite 55) von so universeller Bedeutung und Wirkung nicht gestattet sein, ihn für eine einzelne Facultät ausschliesslich in Anspruch zu nehmen. Aber so wie der Ausgangspunkt Ihrer Forscherarbeit in der Medicin gelegen hat, so sind auch die Resultate derselben für alle Zweige dieser Wissenschaft, die theoretischen sowohl, wie die praktischen, fruchtbringend und segensreich gewesen. Und nicht minder fruchtbringend war Ihre Thätigkeit als Lehrer für Generationen von Medicinern, welche Ihnen die Einführung in die durch Ihre Entdeckungen bereicherte Physik und Physiologie verdanken, wie Sie denn auch den Fragen des medicinischen Unterrichts jeder Zeit ein warmes und wirksames Interesse entgegengebracht haben.“

Die aus Charlottenburg vom 3. November datirte Antwort von Helmholtz lautet:

„Eure Spectabilität ersuche ich, der medicinischen Facultät hiesiger Universität meinen herzlichsten Dank auszusprechen für die von so ehrenvollen und freundlichen Worten begleitete Erneuerung meines vor 50 Jahren bei ihr rite erworbenen Doctordiploms. Ich bin mir immer bewusst geblieben und habe es auch schon oft ausgesprochen, dass ich dem Studium der Medicin viel verdanke, selbst für meine spätere Laufbahn als Physiker. Es hat mir eine viel breitere Kenntniss der Natur gegeben als ich, durch ein Studium beschränkt auf die unorganische Natur und die Mathematik je gewonnen haben würde, und die dem Arzte auferlegte ernste Verantwortlichkeit für den Erfolg seiner Bemühungen hat mich früh daran gewöhnt, vor Allem nach sicherer Kenntniss der wirklichen Thatsachen und ihrer Consequenzen zu streben. Eben deshalb habe ich der Medicin mich immer eng verbunden gefühlt, als meiner ersten geistigen Heimath, wenn ich auch in späteren Jahren ihr nicht mehr ausgiebige Arbeit habe zuwenden können, und in diesem Sinne haben mich die in dem Anschreiben der Facultät mir gegebenen Versicherungen hoch erfreut.“

(Seite 56) In der Beantwortung des schriftlichen Glückwunsches der philosophischen Facultät sagt er:

„ … Ich war immer der Empfänger von freiwillig ihrerseits gespendeten Wohlthaten und Ehren; sie nahm mich aus eigenem Antrieb unter ihre Doctoren, dann unter ihre Ordinarien auf, bewilligte mir schliesslich eine Ausnahmestellung mit allen Rechten und ohne die Verpflichtungen der Ordinarien. Es legt mir dies eine kaum abzumessende Schuld der Dankbarkeit gegen die Facultät auf, der ich, so lange meine Kräfte reichen, nachzukommen mich bestreben werde.“,
während er das Glückwunschschreiben der Berliner Universität mit den Worten erwidert:
„ … Meine Thätigkeit ist während eines so langen Theiles meines Lebens den deutschen Universitäten gewidmet gewesen, dass ich mich innerlich immer noch wesentlich als Mitglied derselben fühle, wenn auch meine äussere Beziehung zu ihnen überwiegend die eines Veteranen geworden ist. Daher ist es mir eine grosse Freude, wenn auch Seitens der berufenen Vertreter der Universität, der ich noch jetzt angehöre, mir eine solche Anerkennung meiner wissenschaftlichen und amtlichen Bemühungen zu Theil wird.“

Ueberaus grosse Freude machte Helmholtz die warm gefühlte und schwungvolle Adresse der Berliner Akademie:

Hochgeehrter Herr College!

Unter den unzähligen Körperschaften, welche im vorigen Jahre Eurer Excellenz ihre Glückwünsche zur siebzigsten Wiederkehr Ihres Geburtstages in bleibender Gestalt darbrachten, fehlte gewiss für Viele, vielleicht für Sie selber, auffallender Weise Ihre eigene Akademie, die Berliner Akademie der Wissenschaften. Nicht dass sie an der die ganze mathematische, naturwissenschaftliche, ärztliche, philosophische Welt aufregenden Feier keinen Theil genommen (Seite 57) hätte. Vielmehr liess sie Ihnen die Urkunde einer durch ihre Mitglieder ins Leben gerufenen Stiftung überreichen, welche Ihren Namen tragen und als höchstes Zeichen der Anerkennung wissenschaftlicher Verdienste in gemessenen Zeiträumen eine goldene Denkmünze mit Ihrem Bilde austheilen sollte. Dagegen untersagte der Akademie ein Gebrauch, von welchem sie glaubte nicht abweichen zu dürfen, die Berücksichtigung eines Geburtstages und verwies sie, um sich Ihnen mit feierlichem Glückwunsche zu nahen, auf den heute gekommenen Tag Ihres fünfzigjährigen Jubiläums als Doctor der Medicin und Chirurgie. Die Akademie ist dadurch freilich in die missliche Lage gerathen, nur wiederholen zu können, was Ihnen schon von den verschiedensten Seiten in begeisterten Worten ausgesprochen wurde: die Bewunderung alles von Ihnen Geschaffenen, den tiefen Dank der um Sie als Meister geschaarten Schüler und Fachgenossen.

Doch eignet sich die heutige Erinnerungsfeier ganz besonders dazu, den wunderbaren Gang Ihrer Entwickelung ins Licht treten zu lassen. Sie erscheinen zunächst als Zögling der Königlichen militär-ärztlichen Bildungsanstalten, zu einer praktischen, in vorgeschriebenen Formen aufsteigenden Laufbahn bestimmt. Wie anders sollte es kommen. Schon Ihre Inaugural-Dissertation gab ein Maass ab des von Ihnen zu erwartenden Ungewöhnlichen. Sie lösten eine Frage, welche Ihr Lehrer Johannes Müller für die wichtigste im damaligen Zustande der Nervenanatomie erklärt hatte, die des Zusammenhanges der Nervenfasern mit den Ganglienkugeln. Fast unmittelbar darauf folgte eine Untersuchung über das Wesen der Gährung und Fäulniss, welche zu den Incunabeln der heutigen Bacteriologie zählt, der Nachweis eines Stoffverbrauches bei der Muskelaction, sowie der sie begleitenden Wärmeentwickelung und eine kritische Darstellung der thierischen Wärmelehre. Dies Alles bewegte sich indess noch in dem Rahmen der damals sich (Seite 58) vollziehenden Umgestaltung der Physiologie zur Physik und Chemie der Organismen. Wie erstaunten aber nicht sogar die Ihnen am nächsten Stehenden, als Sie kurz darauf in Ihrer berühmten Schrift über die Erhaltung der Kraft ein mächtiges mathematisch-physikalisches Vermögen, ungeschult und doch in scheinbar vollkommener Schulung, entfalteten. Ganz nebenher, in einer gemeinfasslichen Darlegung über die Wechselwirkung der Naturkräfte, gaben Sie, im Anschluss an die von Ihnen erweiterte Kant-Laplace'sche Theorie des Planetensystems, die erste befriedigende Erklärung der Sonnenwärme. Inmitten dieser tiefen theoretischen Forschungen liessen Sie in Ihren experimentellen Fortschritten nicht nach. Denn während noch Johannes Müller die Unmöglichkeit beklagte, in dem kleinen Bereich eines Thierkörpers etwas über die Fortpflanzungsgeschwindigkeit des Nervenprincipes auszumachen, die er sich von gleicher Ordnung mit der des Lichtes dachte, zeigten Sie durch Versuche von bis dahin in der Physiologie ungeahnter Schärfe, dass diese Geschwindigkeit über zehnmal kleiner sei, als die des Schalles in der Luft, wobei Sie zugleich die autographische Methode der Curvenzeichnung auf den zeitlichen Verlauf der Muskelzusammenziehung übertrugen und die überraschende Thatsache eines Latenzstadiums der Reizung aufdeckten. Aber auch noch beinahe gleichzeitig traten Sie als kühnster Bahnbrecher in der Physiologie der Sinne auf. Durch messende Beobachtung der Sanson'schen Bildchen, welche bisher wohl mehr dem Dichter und Maler als dem Physiologen bedeutend erschienen waren, lösten Sie das alte Räthsel der Accommodation des Auges für das Sehen in verschiedenen Entfernungen. In dem Augenspiegel, dessen Erfindung gerade deshalb um so verdienstlicher war, je näher sie lag und je weniger doch sonst Jemand sich etwas davon hatte träumen lassen, schufen Sie ein Werkzeug, welches alsbald in Albrecht von Gräfe's Händen der Augenheilkunde neue Wege von unermesslicher praktischer (Seite 59) Wichtigkeit eröffnete und Ihren Namen durch die ganze Welt trug. In der Farbenlehre zerstreuten Sie Sir David Brewster's verfehlte Spectraltheorie und erweckten Thomas Young's fast vergessene glückliche Vermuthung zu sicherem neuem Leben. Nach fundamentalen Forschungen in der physikalischen Akustik bewältigten Sie in der physiologischen Akustik gleichfalls zwei uralte Probleme, das Pythagoraeische von dem Wesen der Consonanz und Dissonanz, und indem Sie Stimmgabeln die Vocale singen liessen, das Problem von der Natur der sogenannten Klangfarbe. Als Seitenstück zu Ihrer „physiologischen Optik“ entstand so Ihre erstaunliche „Lehre von den Tonempfindungen als physiologische Grundlage für die Theorie der Musik“. Mittlerweile hatte bei Betrachtung der Meereswellen am Strande Ihres damaligen ostpreussischen Wohnortes die Hydrodynamik Ihre Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. Aus Ihren transcendenten Studien in diesem Gebiete ging Ihre Theorie der Wirbelbewegungen hervor, welche Lord Kelvin zu dem Wagniss seiner Hypothese ermuthigte, dass die Atome der Materie ausserordentlich kleine, von Ewigkeit fort und fort sich drehende, mannigfach geknotete Wirbelringe seien. Durch alle diese, die ganze theoretische Naturwissenschaft umfassenden Arbeiten aber zieht sich endlich noch die eingehendste Beschäftigung mit der überall eingreifenden Elektricität. Sie begann mit Ihrer Feststellung des zeitlichen Verlaufes der durch Stromschwankungen inducirten elektrischen Ströme und der Vertheilung elektrischer Ströme in körperlichen Leitern, wodurch Sie der thierischen Elektricität sichere Bahnen anwiesen. Aber bald erhoben Sie sich auch hier zur Behandlung der höchsten und letzten Probleme, zur Theorie der Elektrodynamik, welche für Sie eine besondere Wichtigkeit dadurch erlangte, dass, wie Sie zeigten, das von Wilhelm Weber aufgestellte Gesetz der Fernwirkung zwischen zwei elektrischen Theilchen mit der Erhaltung der Kraft in Widerspruch geräth. In neuester (Seite 60) Zeit haben Sie das vor anderthalb Jahrhunderten aus dieser Akademie hervorgegangene Princip der kleinsten Wirkung im Gebiete der Elektrodynamik fruchtbar zu machen gewusst und haben sogar im weiteren Verfolg von Faraday's und Maxwell's Vorstellungen eine elektromagnetische Erklärung der Farbenzerstreuung des Lichtes gegeben. Zur Chemie, die Sie seit Ihren ersten Arbeiten vergleichsweise weniger berücksichtigt hatten, kehrten Sie noch einmal in Ihrer Thermodynamik der chemischen Vorgänge, wie überall Verständniss und Helligkeit spendend, zurück. Neben dem Allem gehen noch Ihre erkenntnisstheoretischen Bemühungen einher. Ihrem früh ausgesprochenen Principe gemäss, dass wir von der Begreiflichkeit der Natur ausgehen müssen, verwerfen Sie den Nativismus und huldigen der Lehre von dem empirischen Ursprung der Raumanschauung und anderer ähnlicher Denkformen. Sie haben ausgeführt, wie das Kind dahin gelangen könne, das ihm flächenhaft vorschwebende Bild der Gegenstände als dreidimensionalen Raum auszudeuten, und sehen Molyneux' Problem als durch Cheselden's und Wardrop's Erfahrungen im empiristischen Sinne entschieden an. In einer tiefsinnigen Untersuchung über die thatsächlichen Grundlagen der Geometrie haben Sie überdies gezeigt, dass die von Kant angenommene Kenntniss der Axiome der Geometrie aus transcendentaler Anschauung erstens eine unerwiesene, zweitens eine unnöthige und drittens eine für die Erklärung unserer Kenntniss der wirklichen Welt gänzlich unbrauchbare Hypothese ist.

Wir schweigen von Ihrem neuerlichen Streifzug in die Meteorologie, von Ihrer Bestimmung der Grenzen der Mikroskopie, von noch vielem Anderen, das hier Erwähnung verdiente. Doch es ist unmöglich, in den uns gesteckten Grenzen ein wirklich entsprechendes Bild von der Welt von Thatsachen und Einsichten, von Beobachtungen, Versuchen und Gedanken zu geben, die Sie, die höchste Analyse wie (Seite 61) die feinsten Instrumente mit gleicher Meisterschaft und Leichtigkeit handhabend, mit unerschöpflicher Arbeitskraft zu Tage gefördert haben. Das von uns Uebergangene würde allein hinreichen, einen hervorragenden akademischen Namen zu begründen. Das Staunen über Ihre Leistungen wächst aber noch, wenn wir uns erinnern, dass Sie, durch Alexander von Humboldt's Fürsprache von Ihren Verpflichtungen als Militärarzt entbunden, zuerst an der hiesigen Akademie der Künste plastische Anatomie, dann in Königsberg Physiologie und allgemeine Pathologie, dann in Bonn Anatomie und Physiologie, zuletzt endlich in Heidelberg Physiologie allein zu lehren hatten. Durch den 1870 erfolgten Tod Ihres Lehrers Gustav Magnus trat dann für Sie die glückliche Wendung ein, dass Sie, ein unerhörter Vorgang in der Geschichte der deutschen Universitäten, vom Lehrstuhl der Physiologie als Magnus' Nachfolger auf den Lehrstuhl der Physik berufen wurden. Seit dem 15. Januar 1857 correspondirendes, seit dem 1. Juni 1870 auswärtiges Mitglied der Akademie, sind Sie so seit dem 1. April 1871 ganz der Unsrige geworden. Nachdem Sie für die Universität ein die heutigen Anforderungen erfüllendes physikalisches Institut geschaffen hatten, sollten Sie indess noch eine Wandlung Ihrer Lage erfahren, indem Sie beauftragt wurden, für das Reich eine physikalisch-technische Anstalt zu gründen und zu leiten, welche Sie auf dem durch die grosssinnige Freigebigkeit Eines aus unserer Mitte dazu geschenkten Boden erbauen durften. Aber indem Sie zugleich fortfahren, an der Universität Vorlesungen über ausgewählte Capitel der mathematischen Physik zu halten, entrollt sich so mit einem Blick die ganze Weite des von Ihnen durchlaufenen Weges: von Ihrer mikroskopisch-anatomischen Doctor-Dissertation bis zu der in Ihren Formeln gipfelnden höchsten dem Menschen gegebenen Naturerkenntniss.

Brauchen wir den Wunsch hinzuzufügen, dass Eure Excellenz in dieser Ihrer würdigen Stellung noch lange der (Seite 62) Wissenschaft eine weithin strahlende Leuchte, unserer Akademie eine ruhmreiche Zierde mit derselben unvergleichlichen Productions- und Penetrationskraft bleiben mögen, welche die Welt seit einem halben Jahrhundert anstaunt und preist ?

Am 4. November richtet Helmholtz seine Antwort an du Bois:

„Verehrter Freund, als Vorsitzender Secretär ersuche ich Dich, der Königlichen Akademie der Wissenschaften den Ausdruck meines tiefgefühlten Dankes für die in ihrem äusseren Schmucke, wie in ihrem rednerischen Ausdrucke und ihrem Inhalte so ungewöhnlich schöne Zuschrift vorzulegen, mit welcher die Akademie des von mir gefeierten 50jährigen Doctorjubilaums gedacht hat. Ich selbst kann den Zweifel nicht ganz unterdrücken, ob ich eines so hohen Lobes würdig bin, aber für die Meinigen wird diese Zuschrift ein ehrenvolles Document bleiben, welches ihnen bis in ferne Generationen hin verkünden wird, dass ihr Vorfahr das Eine erreichte: den Besten seiner Zeit zu genügen.“

Helmholtz vermuthete aus Inhalt und Form jener ausgezeichneten Adresse in du Bois den Verfasser derselben, und dieser erwidert ihm am 7. November:

„Du kennst den Schützen, suche keinen anderen, und auch das Latein auf Deinem erneuten Diplom habe ich verbrochen; leider habe ich zu spät gefunden, dass Du auf Deiner Dissertation Dich Arminius genannt hast, da, wo heute Mode geworden ist, Hermannus zu sagen. Ich bin sehr glücklich, dass Du mit meiner Ansprache wenigstens nicht unzufrieden zu sein scheinst, ich kenne deren schwache Seiten nur zu gut, tröste mich aber damit, dass die Aussenstehenden davon nicht viel gewahr werden. Uebrigens war es mir abgesehen von der Hast, mit der ich fertig werden musste, eine liebe Arbeit, denn ich war dabei mit Herz und Phantasie …“

Ein Jahr später verfasste Helmholtz die von der (Seite 63) Akademie an du Bois gerichtete, schon früher erwähnte Gratulationsadresse zu dessen 50 jährigem Doctorjubiläum.

Correspondenz mit Heinrich Hertz

Die Arbeiten von Helmholtz über das Princip der kleinsten Wirkung und dessen Bedeutung in der Elektrodynamik hatten Hertz, welcher wegen Krankheit in seinen grösseren experimentellen Arbeiten immer längere Unterbrechungen eintreten lassen musste, zu theoretischen Arbeiten von der hervorragendsten Bedeutung geführt.

Im December 1892 schreibt er an Helmholtz:

„Es war mir sehr schmerzlich, als Ew. Excellenz im Anfang November das 50jährige Doctorjubiläum feierten, dass ich durch Krankheit verhindert war, Ihnen meine Glückwünsche zu übersenden. Ich dachte viel an die Feier, aber es war mir unmöglich zu schreiben, und ich dachte deshalb meinen Glückwunsch später bei passender Gelegenheit darzubringen. Nun ist es freilich ein trauriger Anlass, welcher mich meine Versäumniss gerade jetzt nachholen lässt; ich wünschte Ew. Excellenz auch mein inniges Beileid auszusprechen bei dem Verluste Werner v. Siemens'. Ich begreife, wie schwer Ew. Excellenz diesen Verlust des ebenbürtigen Freundes und Verwandten empfinden, mit welchem zusammen Sie das Emporblühen der Naturwissenschaft in Deutschland erlebten und herbeiführten. Möge Gott Sie selbst recht viele Jahre gesund erhalten als Vorbild und als Gegenstand der Verehrung für uns Jüngere.

Ich habe während meiner Krankheit gehört, dass Ew. Excellenz sich bei Professor Pflüger erkundigt haben, und diese Theilnahme hat mir unendlich wohl gethan, ich bin jetzt fortwährend in der Besserung, aber diese geht doch so langsam und mit so vielen kleinen Zwischenfällen voran, dass das Frühjahr oder der Sommer herankommen dürfte, ehe ich wieder ganz gesund und arbeitsfähig bin.

Ew. Excellenz haben sich auch bei Dr. Richarz, wie er mir sagte, nach meiner jetzigen Arbeit erkundigt. Ich habe in den letzten Zeiten durchaus theoretisch (Seite 64) gearbeitet über Dinge, zu welchen ich durch das Studium Ihrer Arbeiten über das Princip der kleinsten Wirkung angeregt wurde. Ich habe mich gefragt, welche Gestalt man der Mechanik, von dem ersten Anfang an, geben müsse, damit das Princip der kleinsten Wirkung an den Anfang gestellt werden könne, und dass die verschiedenen Formen desselben nicht als Resultate verwickelter Rechnung, sondern als einleuchtende Wahrheiten von einfacher Bedeutung erscheinen und sich klar und deutlich als verschiedene Formen eines und desselben Satzes darstellen. Ich bin auch in gewissem Grade zufrieden mit meinen Erfolgen, aber ich habe doch noch ein halbes oder ein ganzes Jahr an der Sache zu arbeiten, und da jetzt meine Krankheit eine Unterbrechung macht, so muss ich vielen als unthätig erscheinen. Ich bitte Ew. Excellenz zu glauben, dass ich nicht unthätiger bin, als ich jetzt durch die Krankheit gezwungen werde.

Eine sehr merkwürdige Entdeckung hat hier in den letzten Wochen Herr Dr. Lenard, mein Assistent, gemacht. Er hat Geissler'sche Röhren durch Aluminiumplättchen von äusserster Dünne verschlossen, und es ist ihm gelungen, Plättchen von solcher Dicke zu erhalten, dass dieselben schon vollständig luftdicht schliessen und doch noch so dünn sind, dass ein merklicher Theil der Phosphorescenz erregenden Kathodenstrahlen hindurchgeht. Dabei hat er gefunden, dass sich diese Strahlen, einmal erzeugt, auch im lufterfüllten Raume fortpflanzen, in verschiedenen Gasen verschieden gut, wodurch ein ganz neues Feld der Untersuchung geöffnet ist, denn man kann nun die Erzeugung dieser Strahlen von ihrer Beobachtung vollständig trennen. Ich habe ihm gerathen, die Wichtigkeit seines Resultates dadurch zu documentiren, dass er zunächst eine kurze Mittheilung der Berliner Akademie schickt. Ich hoffe, sie wird seiner Zeit der Aufnahme in die Sitzungsberichte für würdig gehalten werden.

(Seite 65) Ich schliesse, indem ich nochmals meine verspäteten Glückwünsche wiederhole.

Voll Ehrfurcht und Dankbarkeit verharre ich immer …“

Schwer lastete auf Helmholtz die Gewissheit, dass Hertz in kurzer Zeit seinem Ende entgegengehe.

Tod Werner von Siemens'

Am 6. December 1892 hatte ihn der Verlust seines treuen Freundes Werner von Siemens getroffen. Die vornehme Gesinnung des genialen Mannes, der mit Recht in seinen Lebenserinnerungen sagen durfte, dass er nie ein Unternehmen ins Werk gesetzt habe, bloss um sich zu bereichern, sondern dass er stets das allgemeine Wohl dabei im Sinne gehabt, hatte von jeher Helmholtz sympathisch angemuthet, seine enorme Thatkraft, welche immer den so hoch und ideal als möglich gesteckten Zielen in den realen Verhältnissen Rechnung zu tragen wusste, hatte Helmholtz während seines ganzen Lebens fördernd zur Seite gestanden und noch kurz zuvor ihm den Boden zu seinem Arbeitsfelde geebnet. Der unersetzbare Verlust dieser Quelle sprudelnder Genialität und liebenswürdigsten Realismus liessen Helmholtz die Vereinsamung auf vielen Gebieten geistigen Schaffens wie im anregenden Verkehr des täglichen Lebens tief und schmerzlich empfinden.

Unaufhörlich folgten die Sorgen um die gefährdete Lebenskraft seines Sohnes Fritz, dessen wiederkehrende Leiden seine Energie lähmten und seiner geistigen Entwickelung andauernd Hindernisse in den Weg legten — Beruhigung und Ergebenheit in sein Schicksal konnte Helmholtz nur wieder durch die intensivste geistige Arbeit zu Theil werden.

An allen neuen Entdeckungen und Untersuchungen nahm er den regsten Antheil; so schrieb er am 20. November an seinen alten Heidelberger Schüler Lippmann in Paris, als dieser ihm seine farbigen Photographien eingesandt:

„ … Ich hatte noch keine Proben dieser Ihrer famosen Erfindung selbst gesehen und bin erstaunt über die Sättigung (Seite 66) und Intensität dieser Farben. … Die Grundzüge Ihrer Theorie der Erscheinung scheinen mir unzweifelhaft richtig zu sein, aber Einiges verstehe ich noch nicht ganz, z. B. dass man den Reflex der grünen Pflanzenblätter beim Drehen der Platte in ihrer Ebene nur in einer bestimmten Richtung sieht. … Ich hatte eigentlich vor, schon in diesem August mich persönlich meinen neuen Collegen von der Akademie vorzustellen, bin aber schliesslich durch die Scheu vor der Cholera-Quarantaine zurückgehalten worden.“

Am 15. December 1892 legte Helmholtz der Berliner Akademie eine Arbeit vor, betitelt „Elektromagnetische Theorie der Farbenzerstreuung“, die ihn schon längere Zeit beschäftigt hatte.

Die herrschende Optik hatte früher entschieden den Gedanken abgewiesen, dass die Wellen des Lichtes auch wohl anderer als elastischer Natur sein könnten. Maxwell wusste in seiner 1865 unter dem Namen der elektromagnetischen Lichttheorie veröffentlichten Arbeit zwei Vermuthungen, die jede für sich so fern lagen, derart mit einander zu verknüpfen, dass sie sich gegenseitig stützten. Bewegte Elektricität übt magnetische Kräfte, bewegter Magnetismus elektrische Kräfte aus, diese Wirkungen werden aber nur bei sehr grossen Geschwindigkeiten merklich. Die Constante, welche die Wechselbeziehungen zwischen Elektricität und Magnetismus beherrscht, ist eine sehr hohe Geschwindigkeit, die sich der Geschwindigkeit des Lichtes gleich zeigt. Die Erklärung der Farbenzerstreuung nun auf Grundlage der elektromagnetischen Theorie des Lichtes ist nur möglich mit Rücksicht auf die ponderabeln Massen, welche dem Aether eingelagert sind, da die Dispersion des Lichtes zu denjenigen Vorgängen gehört, welche, wie die Brechung, die galvanische Leitung, die Ansammlung wahrer Elektricität und das Bestehen magnetischer Pole, niemals, im reinen Aether eines Vacuums, sondern nur in oder an der Grenze von Räumen vorkommen, die ausser dem Aether (Seite 67) auch ponderable Masse enthalten. Nun erkannte Helmholtz wohl, dass nach der mathematischen Theorie von Maxwell auch ponderomotorische Kräfte innerhalb des von elektrischen Oscillationen durchzogenen Aethers wirksam werden müssen und eventuell schwere Atome, die im Aether liegen, in Bewegung setzen könnten. Aber wenn die ponderabeln Theilchen nicht selbst elektrisch sind, wären diese Kräfte den Quadraten der elektrischen und magnetischen Momente des oscillirenden Aethers proportional, und also für negative Werthe derselben in Grösse und Richtung gleich denen für positive. Sie würden deshalb während jeder Schwingungsperiode zweimal ihren grössten und zweimal ihren kleinsten Werth erreichen, so dass sie in der Regel nicht Schwingungen von der Länge einer einfachen Periode hervorbringen oder unterstützen könnten. Nur wenn die wägbaren Theilchen Ladungen wahrer Elektricität enthalten, können die periodischen Wechsel der elektrischen Momente im Aether ponderomotorische Kräfte der gleichen Periode hervorbringen. Die entsprechende Annahme, dass eingelagerte Atome nur nördlichen oder nur südlichen Magnetismus enthalten sollten, lässt Helmholtz als zu unwahrscheinlich bei Seite. Dagegen haben die elektrolytischen Erscheinungen, namentlich Faraday's Gesetz der elektrolytischen Aequivalente, Helmholtz schon viel früher zu der Annahme geführt, dass elektrische Ladungen von bestimmter Grösse an den Valenzstellen chemisch verbundener Ionen haften, die bald positiv, bald negativ sein können, aber überall dieselbe absolute Grösse für jede Valenzstelle eines jeden Atoms haben müssen.

Helmholtz nimmt also an, dass die eingelagerten Atome Träger von bestimmten Mengen wahrer Elektricität seien, wie es das Faraday'sche Gesetz verlangt. Wird nun der Aether in der Nähe eines Paares verbundener Ionen von elektrischen Kräften getroffen und diëlektrisch polarisirt, so wird die Axe des lonenpaares verlängert oder verkürzt werden und der Richtung der Kraftlinien zu- oder von (Seite 68) ihr abgelenkt. Angenommen muss werden, dass die Kräfte, die von den Ionen als ihren Centren ausgehend sich im Raume ausbreiten, bei eintretenden Lagenänderungen der Moleküle sich in solcher Art verändern und im Raume fortschieben, wie es Maxwell's Gleichungen beschreiben. Das einzige, was die elektrochemische Theorie mehr verlangt, als bisher in Maxwell's Gleichungen vorgesehen ist, ist die Möglichkeit, dass diese Centralpunkte elektrischer Kräfte bei chemischen Umsetzungen von einem zum andern Ion herüber gleiten können, und zwar unter grosser Arbeitsleistung, so, als ob sie an einem substantiellen Träger hafteten, der von den Valenzstellen verschiedenartiger Ionen mit verschiedener Kraft angezogen würde. Wird der ein Paar verbundener Ionen umgebende Aether von elektrischen Kräften getroffen und dadurch dielektrisch polarisirt, so werden die entgegengesetzt polarisirten Ionen den in Richtung der Kraftlinien fallenden Spannungen ausgesetzt, also zwei gleich grossen, aber entgegengesetzt gerichteten Kräften, die mit einander ein Kräftepaar bilden, welches den Schwerpunkt des Moleküls nicht in Bewegung setzen, wohl aber die elektrische Axe des Moleküls verlängern oder verkürzen, sie der Richtung der Kraftlinie zu- oder ablenken würde.

Das durch diese Voraussetzung mathematisch bestimmte Problem führt auf ein kinetisches Potential, dessen genaue Discussion die anomale Dispersion richtig wiedergiebt. Er zeigt, dass in den zu bildenden Bewegungsgleichungen die elektrischen Momente, da auch noch nicht elektrische Kräfte, Beharrungsvermögen, Reibung u. s. w., hinzukommen, von denen des freien Aethers zu trennen und die Wellenschwingungen in dem mit beweglichen Molecülen beladenen und im freien Aether besonders zu untersuchen sind, und leitet aus den entwickelten mathematischen Ausdrücken her, dass das normale Dispersionsspectrum durch Absorptionen im Ultraviolett hervorgerufen werden kann. Ein in der mathematischen Entwickelung begangenes Versehen, welches (Seite 69) zu Widersprüchen zwischen der Helmholtz'schen Theorie und den früheren Dispersionstheorien führte, wurde später von Reiff bemerkt.

Besonders interessant ist die Folgerung, dass zwischen den elektrischen und magnetischen Schwingungen sowie zwischen den elektrischen Schwingungen und denen der Ionen Phasendifferenzen existiren, so dass starke Schwingungen die Ionen möglicherweise aus ihren Verbindungen reissen können, namentlich wenn noch eine elektrostatische Ladung der Substanz hinzukommt; es würde dann bei allen Substanzen, wo starke Absorption an der Grenze des Ultraviolett vorkommt, die von Hertz beobachtete Entweichung der Elektricität unter dem Einfluss der violetten Strahlen eintreten können. Für nicht absorbirende Medien führt die Theorie auf eine Dispersionsformel, die sich der von Cauchy nähert; durch die Brechung wird vollständige Polarisation erzeugt, und wenn die elektrischen Schwingungen in der Einfallsebene angenommen werden, ergiebt sich Fresnel's Werth für die Intensität des reflectirten Strahles in der andern Polarisationsrichtung. In einem Zusatz wird die Prüfung der Dispersionsformel an den Beobachtungen von Fraunhofer angestellt, die sehr befriedigende Resultate liefert.

Zum fünfzigjährigen Doctorjubiläum seines ältesten Freundes du Bois verfasste er im Februar dieses Jahres im Auftrage der Akademie der Wissenschaften eine von den Gefühlen inniger Zuneigung und hoher Werthschätzung der Leistungen seines ehemaligen physiologischen Mitarbeiters getragene Adresse. Der Bewunderung der physiologischen Arbeiten von Helmholtz, denen du Bois früher so schöne Worte geliehen und der rückhaltlosen Anerkennung desselben, dass Helmholtz sich vor 50 Jahren in kürzester Zeit zu dem bei Weitem bedeutendsten der Jünger Johannes Müller's emporgearbeitet, sucht Helmholtz unverkennbar in den Worten zu begegnen: „Sie blieben nicht allein in (Seite 70) dem Kampfe für die wissenschaftlichen Grundlagen der Physiologie, aber auch Ihre mitkämpfenden Freunde haben immer anerkannt, dass Sie es waren, der unter ihnen allen die strengsten Anforderungen an sich selbst und an die Zuverlässigkeit der als Beweismittel vorgeführten Thatsachen gestellt hat, und am unermüdlichsten und erfindungsreichsten in der Aufsuchung neuer Versuchsmethoden war.“ Wie sein Vater und er ein halbes Jahrhundert zuvor es gethan, so preist er auch jetzt wieder an du Bois sein „grosses Talent für Formenschönheit der Rede“ und sieht in seinen Festreden in der Akademie „mustergültige Beispiele rednerischer Darstellung an meist naturwissenschaftlichen Themen“.

Vereinzelte Ehrenbezeugungen, die ihm zum 50jährigen Doctorjubiläum zugedacht waren, folgten noch beim Beginn des Jahres 1893; er wurde Membre honoraire de l'Association des Ingenieurs électriciens sortis de l'Institut Montefiori à Liège und Honorary Member of the Royal Medical Society zu Edinburgh.

Nachdem Helmholtz seine Wintervorlesung geschlossen, noch einer interessanten Sitzung der Luftschiffahrtscommission beigewohnt und bei der grossen dritten Fahrt selbst anwesend gewesen, welche in den ersten Tagen des März stattfand, aber nicht ganz nach Wunsch ausgefallen war, reiste er im April zur Hochzeit der Tochter seines Bruders Otto nach Ruhrort und war dort körperlich und geistig so frisch, dass Augenzeugen nicht genug von seiner Unterhaltungsgabe und seiner jugendfrischen Heiterkeit zu erzählen wussten. Den Frühling verlebte er, nachdem er sich in Baden-Baden einige Wochen erholt hatte, in vollster Kraft. Eine grosse Reihe von Abenden blieb in seinem Hause wie von je der Musik geweiht, bei denen die ersten Künstler sein Urtheil anstrebten. Als Steinway ihm aus Amerika einen neuen Flügel geschickt, setzte er sich selbst recht oft an denselben, um seine Wagner'schen Partituren (Seite 71) darauf zu studiren; „er könne kein Instrument gut spielen, aber alle etwas, weil er sich so viel damit beschäftigt habe; ausserdem verschärfe sich auch das Gehör sehr durch dauernde Beschäftigung mit den Tönen“.

  Fortsetzung des Kapitels


S. 48 - 71 aus:
Koenigsberger, Leo: Hermann von Helmholtz. - Braunschweig : Vieweg
Band 3. - 1903


Letzte Änderung: 24.05.2014     Gabriele Dörflinger   Kontakt

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