Leo Koenigsberger: Hermann von Helmholtz

Helmholtz als Präsident der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt
von Ostern 1888 bis zum 8. September 1894


Anfang des Kapitels

Die Amerikareise 1893

Einladung zum Internationalen Elektrischen Kongress

Um diese Zeit [Frühjahr 1893] kam von seinem alten Freunde Knapp in New-York die dringende Einladung, die Weltausstellung in Chicago zu besuchen und sich seiner Führung anvertrauen zu wollen. Doch Helmholtz antwortete:
„… Wäre Werner von Siemens am Leben geblieben, so hätte ich es vielleicht ausgeführt und wäre dann natürlich ihrer liebenswürdigen Einladung gefolgt, und hätte Sie in Ihrem neuen Vaterlande und in Ihrem dort erworbenen Wirkungskreise kennen gelernt. Das wäre für mich gleichzeitig die beste und interessanteste Einführung in amerikanische Verhältnisse geworden. Und Amerika in seinem regelmässigen und gewöhnlichen Treiben kennen zu lernen, würde für mich immer eine grosse Anziehungskraft gehabt haben. Für die grossen Ausstellungen dagegen habe ich niemals mich begeistern können und nie gefunden, dass man dort irgend etwas von Bedeutung lernt, was man nicht vorher schon gewusst hätte, oder was der Unruhe und Aufregung, die man dabei durchmachen muss, werth wäre. So habe ich mich denn entschlossen, nicht nach Chicago zu gehen… Ich habe mich durch Dr. A. König bestimmen lassen, meine Vorlesungen über mathematische Physik, einen Cursus, der sich durch 6 Semester hinzieht, herauszugeben. Sie sehen, ich räume auf. Wenn man aber sieht, wie die Freunde ringsum scheiden, sieht man, dass es Zeit zum Aufräumen ist.“
Aber der von allen Seiten ausgeübte Druck, mit der Motivirung, dass er als grösste Autorität und gewaltigster Repräsentant deutscher Naturforschung bei dem grossartig geplanten Zusammenfluss aller Vertreter der theoretischen und technischen Wissenschaften nicht fehlen dürfe, war so gross, dass er nach mannigfachem Hin- und Herschwanken (Seite 72) den folgenschweren Entschluss fasste, Amerika zu besuchen.
„Nun ist es endlich dazu gekommen“, schreibt er am 20. Juni Knapp, „dass ich von unserer Regierung die Anfrage und Aufforderung erhalten habe, ob ich als Deutscher Delegirter zum Elektrischen Congress, der am 21. August eröffnet werden soll, mich nach Chicago begeben wolle. Der Entschluss ist mir etwas schwer geworden, denn obgleich ich mich selbst noch nicht als alten Mann fühle und noch nicht die allmählich eintretenden mancherlei kleinen Beschwerden des Alters als erhebliche Hemmnisse fühle, so sind doch meine Frau und Freunde ziemlich aufgeregt über meinen Entschluss, noch im 72. Jahre eine solche Reise antreten und im Wesentlichen unbegleitet machen zu wollen, und finden es ein unverantwortliches Wagniss. … Meine Frau hat gestern an Sie telegraphirt und angefragt, ob Sie im August in New-York sein würden, um einige Beruhigung darin zu finden, dass Sie wenigstens dort für mich sorgen würden und mir Rath und Hülfe verschaffen könnten, selbst wenn Sie Ihre so liebenswürdigen Anerbietungen, mich auf einem Theil der Reise zu begleiten, nicht mehr ohne Schwierigkeiten erfüllen könnten. … Ich rechne, dass ich am 5. August von Bremen mit dem Lloyd-Dampfer „Kaiser Wilhelm“ abreisen werde, also etwa am 14. in New-York eintreffe, gegen den 20. in Chicago sein muss und dort etwa 14 Tage bleiben werde, da mein amtlicher Auftrag nur auf den elektrischen Congress lautet, und den Rest des September noch mich etwas in den U. S. umsehen kann. Ich weiss sehr wohl, dass das Land die eigentliche Zukunft der civilisirten Menschheit repräsentirt, und dass es eine grosse Zahl interessanter Menschen einschließt, während wir in Europa das Chaos oder die russische Weltherrschaft immer näher rücken sehen …“
Aber Familie und Freunde hegten die schwersten Besorgnisse wegen der grossen Strapazen, denen der wenn (Seite 73) auch scheinbar noch äusserst kräftige Mann sich aussetzen wollte, und alle verlangten, wenn er den Entschluss nicht gänzlich fallen lassen wollte, dass seine Frau ihn begleite. Dies theilte nun Helmholtz dem Ministerium mit und stellte als Bedingung für die Uebernahme des amtlichen Auftrages eine Erhöhung der Reisekosten, welche es seiner Frau ermöglichen würde, ihn begleiten zu können.

Nachdem ihm von Seiten des Ministeriums mitgetheilt worden, dass sein Reisekosten - Aversum mit Genehmigung des Reichskanzlers nach seinen Wünschen erhöht worden, schreibt er am 22. Juli 1893 an den Minister v. Bötticher:

„Ew. Excellenz habe ich die Ehre auf die mir heute Morgen zugegangene ausserordentlich gütige Zuschrift gehorsamst zu erwidern, dass ich nunmehr mit Freuden bereit bin, das mir aufgetragene Commissorium bei dem in Chicago zu haltenden internationalen Elektriker-Congress zu übernehmen. Die Bedenken, welche mein Arzt sowie Angehörige und Freunde gegen eine so weite und in geistiger wie in körperlicher Beziehung anstrengende Reise in noch sehr heisser Jahreszeit mir gegenüber erhoben hatten, werden durch die mir von der Kaiserlichen Regierung gütigst gewährten breiteren Hülfsmittel in der That, soweit es möglich ist, beseitigt. Ich werde mich sogleich daran machen, meine Abreise mit dem Bremer Schnelldampfer „Kaiser Wilhelm“ für den 5. August vorzubereiten, und behalte mir vor, die Gesuche um die nöthigen Instructionen und Legitimationen demnächst Ew. Excellenz vorzulegen.

Ausserdem habe ich noch den Auftrag von meiner Frau, die entschlossen ist, mich zu begleiten, ihren besonderen Dank für Ew. Excellenz theilnahmsvolle Berücksichtigung ihrer Besorgnisse auszudrücken. …“

Aethertheorie

So rüstete er sich zur Abreise, schloss seine Vorlesung früher als gewöhnlich, legte aber zuvor noch am 6. Juli der Akademie eine wichtige Arbeit vor, betitelt „Folgerungen aus Maxwell's Theorie über die Bewegungen des reinen Aethers“. (Seite 74)

In Maxwell's Theorie der Elektrodynamik wird dem Aether, der als Träger der elektrischen und magnetischen Kräfte gilt, Beweglichkeit zugeschrieben, und es werden auch Werthe für die Richtung und Intensität der Bewegungskräfte angegeben, die auf ihn wirken. Diese Annahme führt in keine Schwierigkeit, so lange wir uns den Aether als durchdrungen von ponderabler Substanz vorstellen, die sich mit ihm bewegt. Aus den physikalischen Erfahrungen kann man aber schliessen, dass in der That solche Gemenge von Aether und ponderabler Materie, seien sie continuirlich oder discontinuirlich vertheilt, in allen Substanzen vorkommen, die entweder leitend oder lichtbrechend gegen das Vacuum sind oder Werthe der diëlektrischen und magnetischen Constanten haben, die von denen des Vacuums abweichen. Den ponderablen Theilen dieser Medien wird auch Beharrungsvermögen zukommen, und so weit wir uns diese Theile continuirlich vertheilt und fest anhaftend am Aether vorstellen dürfen, würden dieselben unter dem Einfluss endlicher ponderomotorischer Kräfte auch nur endliche Beschleunigungen empfangen; man würde dann nach den Bewegungen der wägbaren Theile, soweit diese beobachtbar oder durch die Theorie zu bestimmen sind, auch die damit übereinstimmenden Bewegungen des Aethers erschliessen können. Die Beobachtungen über die durch Bewegung der wägbaren Körper inducirten elektromotorischen Kräfte waren in Uebereinstimmung mit Maxwell's Theorie. Anders liegt nach Helmholtz die Sache für die von wägbaren Körpern freien, nur mit Aether gefüllten Räume, als welche uns der Weltraum, beziehlich die Molecularinterstitien der schweren Körper entgegentreten. In diesen Fällen tritt die Frage auf, ob reiner Aether ganz frei von allem Beharrungsvermögen bestehen und den Maxwell'schen Gleichungen genügen kann, und welche Bewegungen er in solchem Falle ausführen müsste. Damit hängt eng die Frage zusammen, ob er den sich durch ihn hinbewegenden wägbaren Körpern (Seite 75) ausweichen muss oder sie durchdringt, dabei entweder ganz in Ruhe bleibend oder sich zum Theil mit ihnen bewegend, zum Theil ausweichend nach der Vorstellung von Fresnel.

Helmholtz macht nun die Voraussetzung, dass der reine Aether in mechanischer Beziehung die Eigenschaften einer reibungslosen, incompressibeln Flüssigkeit habe, dabei aber ganz ohne Beharrungsvermögen sei, und findet, dass unter dieser Annahme die von Maxwell aufgestellten und von Hertz durch explicite Einführung der Geschwindigkeitscomponenten vervollständigten Gesetze in der That geeignet sind, vollständigen Aufschluss über die Gesetze der im Aether auftretenden Veränderungen und Bewegungen zu geben. Die Zusammenfassung der Gesetze der Elektrodynamik unter das Princip der kleinsten Wirkung stellt ein in sich vollständiges System von Wirkungen und Gegenwirkungen dar und bedarf keiner weiteren Ergänzung als der Einführung der Hypothese der Incompressibilität. Es gelingt ihm, dies dadurch nachzuweisen, dass dem früher von ihm aufgestellten Ausdrucke für das elektrokinetische Potential ein Ausdruck hinzugefügt wird, welcher für jede Bewegung einer incompressibeln Flüssigkeit den Werth jenes Potentials nicht ändert. Helmholtz findet, dass, wenn der nicht frei bewegliche Aether ruht, die ponderomotorischen Kräfte, welche theils von elektrischen Spannungen herrühren, theils magnetischen Ursprungs sind und sich nicht auf ein Potential zurückführen lassen, sondern in sich selbst zurücklaufende Kraftlinien hervorrufen, nur dann im Aether vorhanden sind, wenn der Energiestrom in der Zeit steigt oder nachlässt, dass sie ferner durch die Incompressibilität des Aethers nicht aufgehoben werden und den Aether selbst in Bewegung setzen müssen. Wenn dagegen der Aether frei beweglich ist, würden cyklische Kräfte, die durch den Druck nicht im Gleichgewicht gehalten werden können, augenblicklich strömende Bewegungen des Aethers hervorrufen müssen, die jeden Grad von Geschwindigkeit erreichen und (Seite 76) sich so weit steigern können, bis die inducirten Kräfte die ponderomotorischen Kräfte vernichten.

Diese äusserst schwierigen Fragen beschäftigen Helmholtz jetzt unausgesetzt, und wir finden eine gleichzeitige Aufzeichnung, welche einen erneuten Versuch macht, diese Fragen mathematisch zu ergründen, aber im Laufe dieses Jahres nicht mehr weitergeführt werden konnte; sie ist betitelt: „Wie man sich die Bewegung des Aethers in Maxwell's Theorie der Elektrodynamik denken darf?“ Wenn auch die Aufgabestellung im Wesentlichen keine andere ist als in der eben erwähnten Arbeit, so ist doch die Einleitung zu der beabsichtigten erneuten Durchführung klarer und durchsichtiger und mag deshalb hier eine Stelle finden:

Maxwell's Theorie der Elektrodynamik umschliesst die durch Bewegung der ponderabeln Träger inducirten elektrischen und magnetischen Kräfte; deshalb kommen in der von H. Hertz entwickelten expliciten Form der elektrodynamischen Gleichungen auch die Componenten der Geschwindigkeit vor, mit der das Medium sich fortbewegt, welches den Träger der elektrischen und magnetischen Kräfte bildet. Wenn dieses Medium ponderable, mit dem Aether sich bewegende Substanzen enthält, können wir mittelst der gewöhnlichen Beobachtungsmethoden die Art der Bewegung dieser Medien erkennen und kennen auch die Gesetze derselben hinreichend gut, um Schlüsse auf ihre Natur und Grösse zu ziehen in denjenigen Fällen, die der directen Beobachtung sich entziehen. Nur tritt natürlich dabei die Frage auf, ob sich der darin enthaltene Aether ganz ebenso, wie die ponderabeln Bestandteile der betreffenden Medien bewegen. In den bisherigen Erklärungsversuchen der beobachtbaren Erscheinungen ist das meist angenommen worden und hat zu keinen Widersprüchen geführt, woraus allerdings nicht viel zu schliessen ist, da in den meisten Fällen der Anwendung die elektrodynamischen Wirkungen der zwischen den bewegten Leitern liegenden (Seite 77) isolirenden Mittel ausserordentlich schwach sind, verglichen mit denen der bewegten Leiter.

Die Bewegungen ponderabler Diëlelektrica werden auch immer mit endlichen Geschwindigkeiten vorgehen müssen, da solche Medien nothwendig immer ein gewisses Mass von Trägheit haben und endliche Kräfte ihnen also auch nur endliche Beschleunigungen mittheilen können. Zunächst aber bleibt die Frage vollkommen offen, wie sich der reine Aether bewegen mag, der im Vacuum des Weltraums oder auch in den Molecularinterstitien der ponderablen Atome liegt.

Wenn auf dessen Inneres magnetische oder elektrische Bewegungskräfte einwirken können, die durch keine widerstrebende Kraft äquilibrirt werden, so würden dieselben Bewegungen von unendlicher Geschwindigkeit erzeugen müssen, an denen unsere Erklärungsversuche scheitern würden. Wir werden also zur Untersuchung der Frage schreiten müssen: Können nach den Voraussetzungen der Maxwell'schen Theorie ponderomotorische Kräfte im reinen Aether vorkommen, und können dieselben durch irgend welche Bewegungen des Aethers, beziehlich durch innere Kräfte des Aethers, die seinen übrigen Attributen nicht widersprechen, auf Null reducirt werden?“

Helmholtz findet durch mathematische Betrachtungen, dass „ponderomotorische Kräfte, die im Innern des Aethers kein Gleichgewicht finden, bestehen, so oft Lichtbewegung in ihm abläuft, und zwar ist die Richtung der ponderomotorischen Kraft in jedem Punkte des reinen Aethers dabei parallel derjenigen Richtung, nach welcher der Strom der Energie am meisten beschleunigt wird“.

Er zeigt weiter, dass allgemein genommen das Gleichgewicht im incompressibeln Aether davon abhängt, ob die ponderomotorischen Kräfte eine Kräftefunction besitzen; ist dies nicht der Fall, so ist die Arbeit der ponderomotorischen Kräfte längs geschlossener Wege nicht nothwendig gleich Null und würde also unendliche Bewegung (Seite 78) auf solchem Wege hervorbringen können, wenn nicht durch die eintretende Lichtbewegung die betreffende Gruppirung der Kräfte gleich beseitigt würde.

„Wir können solche Kraftlinien, die in sich selbst zurücklaufen, und bei denen das Längenintegral der Kraftcomponente von Null verschieden ist, entsprechend wie bei den Stromlinien von Wirbeln, cyklische Kraftlinien nennen. Wo solche bestehen, wird auch nothwendig Lichtbewegung bestehen, welche dieselben fortführt. Die hier übrig bleibenden ponderomotorischen Kräfte sind indessen bei der Lichtbewegung, wo die elektrischen und magnetischen Momente als verschwindend kleine Grössen aufzufassen sind, kleine Grössen zweiten Grades und wechseln während jeder Schwingungsperiode zweimal ihr Zeichen, so dass sie für gewöhnlich vernachlässigt werden können.

Immerhin zeigt dieser Umstand eine Lücke in der Theorie an, wenn man den Aether als eine Masse ohne Beharrungsvermögen betrachten wollte, da eine solche durch jede Kraft in unendlich schnelle Bewegung versetzt werden müsste. Aber das Beharrungsvermögen des Aethers dürfte ausserordentlich klein sein; wenn es sich zu dem einer ponderabeln Masse von der Einheit der Dichtigkeit nur verhielte, wie die Wellenlänge zur Lichtgeschwindigkeit, würde es die Bewegungen endlich halten können. Wir würden bei einer derartigen Annahme uns nicht wundern dürfen, dass eine solche Dichtigkeit des Aethers bei den uns bekannten Phänomenen nie zur Erscheinung gekommen ist.

Da nun transversale Wellen, die im Aether hervorgerufen worden sind, mit Lichtgeschwindigkeit ihren Ort verlassen und in unendliche Ferne hinauslaufen, wenn sie nicht vorher auf absorbirende Theile des Mediums getroffen und von diesen ausgelöscht sind, so folgt daraus, dass auch diejenigen Componenten jeder Gleichgewichtsstörung des Aethers, die cyklischen Kraftlinien entsprechen, sogleich vom Orte ihrer Entstehung verschwinden und nur solche (Seite 79) Spannungen zurücklassen werden, die einem dauernden Gleichgewichtszustand der elektrischen und magnetischen Kräfte entsprechen, wobei die Kräfte durch die Differentialquotienten eines elektrischen oder magnetischen Potentials dargestellt werden, was in der That der Wirklichkeit vollkommen entspricht.

Aber auch in denjenigen Fällen, wo Elektricität und Magnetismus an ponderabeln Körpern haftet, welche sich mit Geschwindigkeiten bewegen, welche verschwindend klein, verglichen mit der Lichtgeschwindigkeit, sind, ist zu erwarten, dass auch dann die cyklischen Spannungen so schnell verschwinden, dass der Zustand des reinen Aethers in jedem Augenblicke dem augenblicklichen Gleichgewichtszustände entspricht, wie er unter der Einwirkung der in den ponderabeln Massen enthaltenen elektrischen oder magnetischen Quanta und Ströme zu Stande kommen muss. Dann würden nur noch die Bewegungen des Aethers, die von der Oberfläche des Raumes her hervorgerufen werden, elektrische und magnetische Aenderungen hervorrufen können.“

Hinfahrt

Am 6. August erfolgte der Aufbruch zu der folgenschweren Amerikafahrt.

Einer gewissen Angst konnte sich seine Frau nicht erwehren. So hatte sie ihrer Tochter am 23. Juli geschrieben:

„Es ist zwar noch gar nichts Bemerkenswerthes geschehen, seit der Schlafwagen mit Euch in die schwarze Nacht gefahren ist und eigentlich Alles, was wir Liebes auf Erden haben, hinausgetragen hat — wir standen etwas einsam mit dem Gefühl, dass Altwerden nicht schön ist, und dass es besser ist, dann zu gehen, wenn man Anderen noch eine Freude sein kann, nicht nur eine Pflicht geblieben ist. Vielleicht hat dieses stille Berliner Abschliessen das Gute, wenigstens uns die Seereise als etwas weniger Unnatürliches erscheinen zu lassen …“
Sie fügte am 28. Juli hinzu:
„… Ich hoffe, die Reise soll Papa gut bekommen; er (Seite 80) sieht jetzt so müde und weiss aus — und ich fürchte jede kleine Extra-Anstrengung für ihn. Mehr und mehr wird er seiner Büste ähnlich, als habe Hildebrand das Kommende geahnt und festgesetzt in Ausdruck und Haltung; auch ist es mir unsagbar wehmüthig, inne zu werden, dass dies das wirkliche Alter bedeutet, was ich mir als Vorstellung so lange ferne gehalten habe. Dieser Erkenntniss gegenüber wird meine Aufgabe auch eine ganz andere, und als solche werde ich sie auch zu führen suchen, soviel Kräfte uns Gott dazu giebt. Er lasse mich auch an Dich und Dein Leben als Ruhepunkt und als Licht und Freude in den kommenden Schattenzeiten denken … Wie anders wäre Alles, wenn Robert mit seinem Vater hinüberführe! Aber alles „wäre“ bringt keine Stunde zurück, und das innere Nahesein bleibt ja doch bestehen … Gott bewahre Jeden vor diesem Jammer, der nie zu heilen ist, wenn auch von Aussen alles glatt wird und das Leben seinen Gang geht …“
In Hamburg zeigte Neumayer Helmholtz und seiner Frau die Sehenswürdigkeiten der Stadt. Nach Bremerhaven führte sie ein Directorialdampfer des Norddeutschen Lloyd und brachte sie an Bord des Schnelldampfers „Lahn“, auf welchem sie die Fahrt nach Amerika zurücklegten.
„Der Zufall hat es gefügt“, schreibt mir Felix Klein, „dass ich mit Helmholtz nicht nur auf der Hinreise — auf der Lahn — vom 8. bis 17. August zusammen war, sondern auch bei der Rückreise — auf der Saale. — In der Zwischenzeit habe ich Helmholtz nur beiläufig gesehen, nämlich bei dem Festessen, welches der Reichscommissar Dr. Richter für Helmholtz am 30. August gab.

Auf der Hinreise war Helmholtz von einem ganzen Stabe von Physikern begleitet, ich nenne besonders Dr. Lummer. So liebenswürdig Helmholtz auf Fragen von Laienseite zu antworten pflegte, so fand ich es zunächst sehr schwer, mit ihm in eine wissenschaftliche Unterhaltung zu kommen. Sehr viel Zeit war auch dazu nicht vorhanden, (Seite 81) weil vielfach schlechtes Wetter war. Ich erinnere mich insbesondere, dass mich Helmholtz eines Tages fragte, wesshalb Lie in den Comptes rendus den bekannten heftigen Angriff gegen ihn gerichtet habe, ob er dazu durch Bertrand angestiftet sei. Ich erwiderte, dass Letzteres gewiss nicht zutreffe, sondern dass Lie's eigenes, heftiges und an das Pathologische streifendes Temperament ausreiche, um den Ton des Angriffs zu erklären; Lie fühlte sich durch ständige Nichtbeachtung von Berliner Seite tief gekränkt. Wir sprachen dann u. a. über das Monodromieaxiom der Raumgeometrie, wobei Helmholtz mit der jenigen Erläuterung besonders zufrieden war, die ich in den Math. Ann. Bd. 37, S. 565 gegeben habe und deren Stellung zu Lie's eigenen Entwickelungen ich kurz vorher in Theil II meiner (inzwischen autographirten) Vorlesungen über höhere Geometrie erläutert hatte. — Am folgenden Tage sagte mir dann Frau von Helmholtz, ich möge ihren Mann lieber nicht mit so schwierigen Dingen unterhalten, das strenge ihn zu sehr an.“

Rundreise

Die Erlebnisse der amerikanischen Reise skizziren die geistvollen Schilderungen von Frau von Helmholtz in Briefen an ihre Tochter, denen Helmholtz einzelne Mittheilungen einreiht, welche von grossem Interesse sind:
Briefe aus Amerika an die Tochter Ellen

Rückfahrt

(Seite 93) Am 7. October trat Helmholtz mit seiner Frau die Rückreise nach Europa an.
„Auf der Rückreise“, schreibt mir Klein, „hatte der Verkehr ungezwungenere Formen angenommen. Ich zeigte Helmholtz die Correcturbogen meines „Evanstor Colloquium“, über die er dann allerdings nur sagte, er verstehe im Allgemeinen, was ich beabsichtige. Ein anderes Mal sprach ich mit ihm über die Notwendigkeit einer technischen Physik (Seite 94) im Sinne der bald hernach von mir bethätigten, Ihnen bekannten Auffassung; er schien diese Auffassung nicht eigentlich zu theilen, sondern die bestehende Ausbildung an der Universität für ausreichend zu halten. Ein anderes Mal wieder kam die Unterhaltung auf die Geltung des Princips der kleinsten Wirkung in der Physik, wobei ich dieselbe mit derjenigen des Gesetzes der Erhaltung der Kraft parallelisirte; Helmholtz erwiderte, beide Dinge seien für ihn in der That insofern ganz analog, als sie ihm bei Abfassung seiner bezüglichen Schriften beide von vornherein ganz selbstverständlich vorgekommen seien … Ueber den tragischen Abschluss der Reise, den unglücklichen Sturz von Helmholtz, kann ich etwas specieller berichten. Wir hatten bei völlig ruhiger See bis etwa 10 Uhr (Abends) im Rauchzimmer gesessen: Helmholtz, ein junger Arzt Dr. Morton aus Boston (Sohn des bekannten Morton, der die Betäubung durch Aether zuerst praktisch handhabte), der Capitän Rings und ich, als Helmholtz mit den Worten aufstand: „es ist Zeit, zu Bett zu gehen“, und die ziemlich steile Treppe zum Salon hinabstieg. Wir hörten dann einen dumpfen Fall, den jedenfalls ich im Augenblicke nicht beachtete, bis Dr. Morton rief: „dem Geheimrath ist etwas passirt“, worauf wir alle nach unten eilten und gerade noch sahen, wie Helmholtz von einer Anzahl Stewards am FUSS der Treppe aufgehoben und in die Cabine getragen wurde; auf dem Boden stand eine grosse Blutlache.“
Seine Frau schreibt am Bord der Saale am 14. October 1893:
„Wir sind also, aller Regel zum Trotz, Freitag, den 6. Abends spät an Bord gegangen, sind 7 Uhr früh ausgefahren und sofort in den Rand eines Wirbelsturmes gelangt, der uns treu begleitet hat — warm, neblig, hemmend. Ich unsagbar elend bis heute; Papa wohl, frisch und ganz besonders gut und lieb für mein Elend, erzählte mir Donnerstag, wie alle Abend, was er mit dem netten Kapitän (Seite 95) gesprochen — geht dann mit Kuno Fischer's Schopenhauer ins Herrenzimmer, und ich liege elender als je — da kommt Professor Klein zu mir herein, sagt mir zögernd, Papa sei gefallen, die Cajütentreppe herab, blute aus Stirn und Nase, zwei Aerzte seien bei ihm, führt mich in des Schiffdoctors Cabine — da liegt Papa mit Blut überströmt, aber anscheinend bei Bewusstsein und Antwort auf alle Fragen gebend. Erst fürchteten Alle einen Schlaganfall, was ich aber nicht einen Moment geglaubt habe, sondern es muss eine seiner alten lang vergessenen Ohnmächten ihn plötzlich befallen haben … Er ist aber offenbar vor dem Fall bewusstlos gewesen, denn er hat die Hände nicht vorgestreckt zum Schutz, sondern ist ganz schwer aufs Gesicht gefallen. …

Wie dankbar wir sein dürfen, dass diese schreckliche Gefahr so an uns vorbeiging, wird mir mit dem zurückgekehrten Bewusstsein erst klar. Mein Zustand geistiger Erloschenheit war noch eine Gnade, ich konnte gar nicht denken — nur wusste ich, dass wir mitten auf dem Ocean umhertrieben, im dicksten Nebel. Keine Sonne, kein Stern zur Orientirung … Für die Güte und Bereitwilligkeit des ganzen Schiffes vom Kapitän ab kann ich gar nicht genug dankbar sein. Wenn das Unglück schon kommen musste, dann war noch viel unverdientes Glück und göttliche und menschliche Güte dabei …“

Endlich kamen sie am 17. October in Bremen an, wo Helmholtz die ausgezeichnetste ärztliche Behandlung fand, und ihm wie seiner Frau von Seiten der ganzen Stadt Bremen wie von heraneilenden und fernen Freunden die liebevollste Theilnahme entgegengetragen wurde. Nach achttägigem Aufenthalte konnte die Rückreise nach Berlin unternommen werden. Wenn auch seine Kopfwunde äusserlich noch lange sichtbar blieb, war er doch Dank der sorgfältigen Behandlung von Bardeleben und Renvers schon nach wenigen Wochen so weit hergestellt, dass er im November in einem Schreiben (Seite 96) an den Staatsminister von Bötticher erklären konnte, „er fühle sich zur Wiederaufnahme seiner Amtsgeschäfte am 20; November genügend gekräftigt“. Am 4. December berichtet er seinem Freunde Knapp selbst über seinen Unfall:
„Meine Kopfwunde ist äusserlich geschlossen und scheint es auch zu bleiben; wenigstens kann das, was ich noch von fremdartigen Gefühlen habe, wohl als vom allmählichen Schrumpfen der Hautnarben herrührend erklärt werden, und auch lesen kann ich ziemlich anhaltend, ohne davon Schwindel oder Kopfschmerzen zu bekommen. Anfangs war das allerdings anders. Nicht nur hatte ich grosses Schwäche- und Schwindelgefühl beim Versuche zu gehen, sondern musste mich auch mit den Versuchen zu lesen sehr einschränken und hatte ein sehr entstelltes, mit Blut unterlaufenes Antlitz. Den Blutverlust muss ich nach den Wägungen, die ich zehn Tage nach dem Fall in Berlin vornahm, auf 4 bis 5kg schätzen. Der von Ihnen bei uns eingeführte Dr. Morton hat sich meiner mit der grössten Sorgfalt angenommen und bin ich ihm daher zum grössten Danke verpflichtet. Ob ich ohne seine sehr eifrige und ausdauernde Hülfe nicht gleich nach dem Sturze ganz verblutet wäre, scheint mir sehr zweifelhaft. In Bremen, wo wir acht Tage geblieben sind, fand ich in dem Director des städtischen Krankenhauses einen sehr guten Arzt, und auch sonst wurden wir mit Gefälligkeiten und Erfrischungen in der liebenswürdigsten Weise überhäuft. Aus der etwas grösseren Zeitdistanz betrachtet, hat mir die amerikanische Reise doch nun ein sehr interessantes und angenehmes Bild hinterlassen.“
Freilich äusserte er im Winter nach der Rückkehr aus Amerika häufig, dass er zu jeder Arbeit jetzt doppelt so vieler Zeit bedürfe als früher. Oefter klagte er darüber, dass er mit beiden Augen zwei verschiedene Bilder sehe und schob den Grund einer Muskelzerreissung zu. Quer über der linken Augenbraue zog sich eine tiefe Narbe hin, die sich auch auf den beiden herrlichen letzten Bildern findet, (Seite 97) welche Lenbach im Frühjahr 1894 in München von seinem „Reichskanzler der Wissenschaften“ auf dessen Heimfahrt von Istrien malte.

Pastellzeichnung von Franz von Lenbach 1894

Helmholtz nahm im Laufe des Winters alle seine Amtsgeschäfte und wissenschaftlichen Arbeiten wieder auf. Sein Wirken auf dem elektrischen Congress in Chicago wurde am Anfange des Jahres 1894 durch die Verleihung des Kronenordens erster Klasse anerkannt; zugleich wurde er Membre d'honneur de l'Association Internationale pour le progrès de l'Hygiène und Honorary membre of the American Institute of Electrical Engineers.

  Fortsetzung des Kapitels


S. 71-97 aus:
Koenigsberger, Leo: Hermann von Helmholtz. - Braunschweig : Vieweg
Band 3. - 1903


Letzte Änderung: 24.05.2014     Gabriele Dörflinger   Kontakt

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