Im Jahre 1863 erfolgte der Umzug der Familien Helmholtz und Kirchhoff in den mittlerweile vollendeten „Friedrichsbau“, einen für jene Zeit schönen und geräumigen Gebäudecomplex, welcher die Laboratorien, Lehrsäle und die Wohnungen für die Vorstände umfasste. Schon damals bildete das Helmholtz'sche Haus den Mittelpunkt schönster Geselligkeit, welche von geistiger Vornehmheit und harmonischer Einfachheit getragen wurde; innige Freundschaft verband ihm die Collegen Kirchhoff, Bunsen, Zeller, die engsten socialen Beziehungen verknüpften sein Haus mit dem von Vangerow, Haeusser, Gervinus, Friedreich, Kopp, (Seite 48) Wattenbach u. A. In den bequemeren Wohnungsverhältnissen vermochte er sich nun auch seinen Kindern mehr zu widmen und unternahm nach vielen Richtungen hin zum grossen Theil selbst die Unterweisung seines Sohnes Richard, welcher im Jahre 1862 das Heidelberger Gymnasium bezogen.
„Was den Verkehr zwischen dem Vater und uns Kindern anbelangt“, schreibt mir sein Sohn Richard, „so fand derselbe abgesehen von den Mahlzeiten hauptsächlich auf Spaziergängen statt, wo er uns sehr häufig mitnahm. Bei schlechtem Wetter Rohrbacher Landstrasse, sonst meist Wolfshöhle, Gaisberg, Sprung, Philosophenweg etc. Besondere Freude machte es ihm, wenn er uns irgend ein Naturphänomen vorführen konnte; einen dick-nebeligen Herbstmorgen, wo er erkannte, dass oben Sonnenschein war und uns auf den Sprungweg führte, das wolkenartig zusammengeballte, vollständig scharf abgegrenzte Nebelmeer, aus dem nur einige Thurmspitzen hervorschauten, werde ich nie vergessen … In seinem ersten Heidelberger Laboratorium, im „Riesen“, waren wir einmal mit, zum Zwecke der Auffüllung unserer schlaff gewordenen Kinderluftballons mit Wasserstoff. Im Winter 1862 brachte mir der Vater das Zeichnen mit dem Reisszeug bei, und 1863 suchte uns der Vater die Grundbegriffe des Generalbasses klar zu machen, was wenigstens bei meiner Schwester gut gelang; ja sogar das Schwimmen lehrte mich der Vater ohne Stange, Leine und Schwimmgürtel, bloss indem er mich mit einem Arme an der Brust unterstützte … In den Ferien 1863 waren wir wieder in dem uns sehr lieb gewordenen Dahlem, und nach unserer Rückkehr war der Umzug in den Friedrichsbau bereits vollzogen; Käthe wohnte von nun ab eine Treppe hoch bei den Eltern, die Grossmama Velten mit mir in drei Zimmern des Entresols, nach hinten gegen die Anatomie … Mit dem folgenden Jahre begannen für mich häufige Besuche bei den Grosseltern Mohl in Frankfurt a. M., wo ich stets (Seite 49) auf das freundlichste aufgenommen wurde, meist in den Ferien oder auf der Reise nach und von Berlin.“
In den Osterferien führte nun Helmholtz in der That die geplante, mehrwöchentliche Reise nach England aus und besuchte auf dem Wege nach London in Utrecht seinen Freund Donders, den er „blühend, liebenswürdig und poetisch wie immer“ fand, und in dessen Hause er sich einige Tage sehr wohl fühlte.
„… Dann gingen wir“, schreibt er am 14. März 1864 seiner Frau, „in ein Herrenconcert, d. h. in die Probe zu den grösseren Orchesterconcerten, wozu noch einzelne Soli kommen, die in den grossen Concerten wegbleiben, und welche von den Utrechter Herren bei Wein und Cigarren angehört werden. … Ich hörte symphonische Präludien von Liszt, die merkwürdig und effectreich genug, aber kaum schön waren, die Oberon-Ouverture sehr gut, und dazwischen als Solo für Clavier die variations sérieuses von Mendelssohn im Kirchenstyl, die sehr schön waren, und die ich Dir zum Studium vorschlagen möchte … Donders hat hier Vorlesungen vor gemischtem Publikum über Akustik gehalten, und deshalb ist mein Buch über Tonempfindungen hier Jedem bekannt, auch den Musikern. O. Jahn hatte es nicht verstehen können, hoffte es aber mit G. zusammen studiren zu können und erzählte mir, dass er einen enthusiastischen Brief darüber von Claus Groth bekommen habe …“
Ueber Brüssel reiste er nun nach London, wo er sich sogleich der liebenswürdigsten Aufnahme seines Freundes Bence Jones erfreute; von dort aus sandte er seiner Frau ausführliche Berichte, aus denen einiges von dem, was von allgemeinerem Interesse ist, hier eine Stelle finden mag:
„… Ich habe mich in den Strudel des grossen Babel gestürzt und schwimme vorläufig rüstig darin herum. Nachdem ich neulich Deinen Brief in der Royal Institution (Seite 50) geschrieben und vergebens auf Tyndall gewartet hatte, besuchte ich Faraday, der ebenda wohnt; er war wie in alter Zeit äusserst liebenswürdig, hat aber seine Vorlesungen aufgegeben, weil er über sein Gedächtniss klagt; er machte in der That einen etwas stumpferen Eindruck als sonst … Dann ging es zur Versammlung der Royal Society, wo Tyndall einen Vortrag hielt über einige neue sinnreiche Versuche, die er gemacht hat, deren Deutung aber Anlass zu einer längeren Debatte gab. Nachdem ich mit Professor Stokes am Freitag nach Ostern in Cambridge zu sein verabredet hatte, ging ich noch um 11 Uhr mit B. Jones auf einen Rout zum Minister Gladstone …Gestern habe ich mehr gearbeitet; am Vormittag an meiner Croonian Lecture geschrieben; um 12 Uhr hatte ich Professor Tyndall in der Royal Institution zu treffen, um die Vorbereitungen zu meinen ersten beiden Vorlesungen zu besprechen; zur zweiten habe ich selbst ein Gemälde in Wasserfarben angefertigt, darstellend einen Sonnenflecken von der Seite gesehen, wobei ich in kühnen Farben und Wolken mit Turner zu wetteifern strebte … Am Mittwoch habe ich Vormittags gearbeitet, dann ging ich in das College of Surgeons, um Mr. Huxley zu sehen, Professor der Zoologie, der jetzt hier der Hauptkämpfer für die Aufklärung und gegen die biblische Naturgeschichte ist, ein junger, sehr intelligenter Mann, den ich von früher schon kannte …
Gestern bin ich früh nach Oxford gefahren und wohne bei Max Müller. Er ist ein junger, eleganter und gewandter Mann, wie ich noch keinen Professor der Philologie gesehen habe, und fasst alles, auch die ihm fremderen naturwissenschaftlichen Verhältnisse, außerordentlich schnell auf. Seine Frau ist eine Engländerin, auch sehr liebenswürdig, unterrichtet und hübsch, so dass ich zwei sehr angenehme Tage dort zugebracht habe. Dazu kommt, dass (Seite 51) Oxford vielleicht einzig in der Welt ist in seiner Art; alle die vielen alten, charakteristisch schönen und wohl gepflegten Gebäude zusammen mit sauberen Grasplätzen und schönen Bäumen; alles höchst stattlich und von ausserordentlichem Reichthum zeugend. Man kann sich bei uns freilich keine Idee davon machen, ehe man es gesehen hat, und ich begreife nun auch die Liebe der Engländer zu der Universität, auf der sie gewesen sind. Um Gentlemen gut auszubilden, ist es offenbar vortrefflich geeignet, für die Wissenschaft aber kann nicht viel herauskommen, und es gehört offenbar ein ungewöhnlich starkes Interesse für die Wissenschaft dazu, um als Fellow nicht in Trägheit zu versinken …
Meine Fahrt nach Glasgow ging ganz angenehm von Statten … Thomson's haben seit kurzer Zeit ihre Dienstwohnung hier im Universitätsgebäude eingerichtet und bezogen, während sie bisher mehr auf dem Lande zu leben pflegten. Er selbst hat gar keine Ferien zu Ostern, dagegen ist sein Bruder James, Professor of Engineering in Belfast, und ein Neffe, Student ebenda, eingetroffen. Ersterer ist ein sehr gescheidter Kopf mit sehr guten Einfällen, aber hört und weiss nichts als engineering und spricht fortdauernd davon zu allen Zeiten des Tages und der Nacht, so dass kaum ein anderes Gespräch in seinem Beisein aufkommen kann. Es ist übrigens komisch, wie jeder der Brüder fortdauernd dem anderen etwas auseinandersetzt, und keiner auf den anderen hört, und von ganz verschiedenen Gegenständen redet Aber der engineer ist von beiden der hartnäckigste und setzt sein Stück gewöhnlich durch. Inzwischen habe ich eine Menge neuer und sehr sinnreicher Apparate und Versuche von W. Thomson gesehen, die mir die beiden Tage sehr interessant gemacht haben. Er ist aber so schnell in seinen Gedanken, dass man ihm erst durch eine lange Reihe von Fragen, zu deren Beantwortung er schwer zu bringen ist, die nöthigen Angaben über die Einrichtung der Instrumente u. s. w. (Seite 52) herauswinden muss. Wie seine Studenten ihn verstehen, die ihn nicht so festhalten können bei der Sache, wie ich es mir erlauben durfte, begreife ich nicht; übrigens war aber eine ganze Anzahl Studenten in dem Laboratorium beschäftigt, welche sehr eifrig waren und im Ganzen auch begriffen zu haben schienen, um was es sich handelte … Bei Thomson's Experimenten ist übrigens mein neuer Hut ums Leben gekommen. Er hatte eine schwere Metallscheibe in sehr schnelle Rotation versetzt, die auf einer Spitze sich drehte; um mir zu zeigen, wie unbeweglich sie durch die Rotation werde, schlug er mit einem Hammer dagegen, was die Scheibe aber doch übelnahm, indem sie in einer Richtung davonflog, und der eiserne Fuss, auf dem sie sich drehte, in einer anderen. Letzterer nahm meinen Hut mit fort und schlitzte ihn auf. Die Scheibe selbst zertrümmerte glücklicher Weise nur einige Gläser …
Ich kam am 4. April in Manchester an; Roscoe's wohnen weit draussen in einer reizenden Cottage am Rande eines grossen Parkes … Zum Diner hatte Roscoe zwei Freunde, Mr. Joule, Brauer und Haupterfinder der Erhaltung der Kraft, und seinen Collegen Clifton, Physiker, eingeladen, beides sehr angenehme und lebhafte Leute, so dass unser Abend sehr interessant war … Am Sonntag Vormittag waren wir beide nach dem Frühstück allein und haben Pläne für kühne neue physikalisch-chemische Untersuchungen gemacht und die englischen Universitäten besprochen, wobei wir ganz zusammenstimmten …
Gestern war ich in London bei Mr. Graham, Master of the Mint, einem der ersten Chemiker Englands, der mich zuerst selbst herumführte und mir alles erklärte. Am interessantesten war mir Graham's eigenes Laboratorium, wo er mir eine Menge der merkwürdigsten neuen Versuche zeigte und mich mit Münzen, Instrumenten und Chemikalien reich beschenkte … Mit einem alten Berliner Freunde (Seite 53) fuhr ich zu Professor Maxwell nach Kensington, dem Physiker von Kings College, einem sehr scharf mathematischen Kopfe, der mir sehr schöne Apparate zur Farbenlehre zeigte, in welchem Zweige ich früher selbst gearbeitet hatte; er hatte einen farbenblinden Collegen eingeladen, an dem wir Experimente machten …“
Mitten in die Anregungen, welche Helmholtz's Interesse nach allen Seiten wachriefen, sowie in die intensive Arbeit, welche die Vorbereitung zur Croonian lecture und zu anderen in Aussicht genommenen Vorträgen erforderte, fielen die ersten Schatten der verhängnissvollen Erkrankung seines Sohnes Robert. „Die ergreifende Kindergeschichte dieses an Prüfungen so reichen und dennoch an Geisteserfolgen und Herzensbesitz so gesegneten Lebens setzt hier ein mit dem von Anbeginn muthig und hochsinnig getragenen Erkennen der Muttersorge.“ Trotzdem waren aber die Berichte seiner Frau in schonendster Weise abgefasst, um Helmholtz von einer sofortigen Rückkehr nach Heidelberg abzuhalten, und dieser durfte die Hoffnung hegen, dass durch die Rathschläge, welche er selbst gab, und durch die von den befreundeten Aerzten angewandten Mittel sehr bald eine Besserung in dem Leiden eintreten würde.
Am 14. April 1864 hielt Helmholtz seine Croonian lecture in der Royal Society „On the Normal Motions of the Human Eye in relation to Binocular Visionuo; und gab einen Abriss der über den Horopter und die Augenbewegungen von ihm gewonnenen Resultate,
„Es war 10 Uhr, ehe ich mit dem ersten Theile meines Vertrages fertig war. Ich brach deshalb ab und verliess die Tribüne. Doch wurde auf den Antrag von General Sabine als Präsidenten beschlossen, ich solle weiter sprechen, und so habe ich noch über die Bewegungen des menschlichen Auges und ihre Beziehungen zu den Gesichtswahrnehmungen bis 10 ½ Uhr gepredigt, wo ich ziemlich zu Ende (Seite 54) war. Doch beruhigte mich, dass noch verschiedene Herren nach mir aufstanden und eigene zustimmende Beobachtungen zum Besten gaben. Sabine hielt mir eine Dankrede, in der er besonders meine Fertigkeit im Englischen lobte. Es floss aber auch wie ein Waldstrom von meinen Lippen, zuletzt aber konnte ich kaum noch laut reden.“
Ausserdem hielt er in der Zeit seines vierwöchentlichen Aufenthaltes in England sechs populäre Vorlesungen in London „Lectures. on the Conservation of Energy“, über welche er du Bois am 15. Mai von Heidelberg ausführlichen Bericht erstattet, damit zugleich die Mittheilung verbindend, dass ihm am 24. April eine Tochter geboren sei, welche die Namen Ellen Ida Elisabeth erhalten habe:
„Ich war sechs Wochen in England, meist in London, in der Osterwoche auch in Oxford, Glasgow und Manchester. Ich habe viel Interessantes gesehen und finde von Zeit zu Zeit einen Aufenthalt in London immer wieder anregend und angenehm. Was die populären Vorlesungen in der Royal Institution betrifft, so muss ich Dir aber in der That Recht geben, dass man sich immer mehr wird besinnen müssen, ehe man dergleichen wieder übernimmt. Ich habe durchaus keine Ursache, mit dem äusseren Erfolge der meinigen unzufrieden zu sein, da ich fortdauernd ein Publicum von 300 Leuten und darunter eine Menge wissenschaftlich gebildeter Männer hatte. Aber die Concurrenz der populären Vorlesungen in London ist so gross, dass sie im Begriff sind, in die allergemeinste Eftecthascherei herabzusinken … Tyndall hat in der That ein ausgezeichnetes Talent für populäre Vorträge und ist im Publicum sehr anerkannt Ein Medium für Klopfgeister liess neulich seinen Namen im Himmel buchstabiren, welcher war „Poet of science“ … Da ich fand, dass die Meinung ganz verbreitet war, Deine Versuche seien zu subtil, um sicher zu gelingen, so habe ich Gelegenheit genommen, in (Seite 55) meiner letzten Vorlesung noch einige Deiner Fundamentalversuche zu zeigen.“
Dieser Freundschaftsdienst gegen du Bois hat Helmholtz mancherlei Unannehmlichkeiten bereitet; durch einige Ausdrücke, die in dem Report der Helmholtz'schen Vorlesung in der Medical Times vorkamen, glaubte sich Matteucci unrechtmässig hintangesetzt und liess Helmholtz eine Abschrift seiner Reclamation zukommen, welche er an den Editor des Journals gesendet hatte. Helmholtz verfasste nun „eine möglichst höfliche Antwort“, in welcher er Matteucci zugiebt, was ihm in Wirklichkeit zukommt, und auseinandersetzt, warum er du Bois und nicht ihn genannt habe:
„Sie müssen entschuldigen, dass ich nicht schweigen konnte über das Urtheil, das Sie in Ihrem Briefe über die Forschungen meines Freundes du Bois-Reymond gefällt haben; dieser ist seit vielen Jahren ein sehr naher Freund von mir, und es war meine Pflicht, zu accentuiren, wie sehr ich seine Forschungen schätze. Ich will nicht versuchen, die Art zu rechtfertigen, wie er Ihre Forschungen kritisirt hat, und ich kann Sie versichern, dass ich es ihm oft selbst gesagt habe.“ Bei grösster Anerkennung der Verdienste Matteucci's, welcher zuerst die schwierige Materie der thierischen Elektricität in Angriff genommen, bestreitet er gesagt zu haben, dass die von ihm besprochenen Versuche vor den Vorlesungen von du Bois überhaupt noch nicht gemacht, sondern nur, dass sie in England nicht häufig ausgeführt worden seien. Mit Bezug auf eine Stelle des Matteucci'schen Briefes schliesst er mit den Worten:
„Was Ihre politischen Allusionen betrifft, so kann ich Sie versichern, dass in der protestantischen Bevölkerung Deutschlands, zu der auch ich gehöre, nicht die geringste Spur von Antipathie gegen Italien und die Italiener besteht, sondern eine warme Sympathie mit jedem Fortschritt in der (Seite 56) italienischen Freiheit Unter unseren Katholiken sind natürlich viele Fanatiker, die alles auf dem Altar der römischen Hierarchie opfern würden.“
Nach seiner Rückkehr ans England legte er noch, bevor er seine physiologisch-optischen Untersuchungen wieder aufnahm, am 23. Mai 1864 der Berliner Akademie eine Arbeit „Versuche über das Muskelgeräusch“ vor, deren Gegenstand für ihn ein akustisches und muskelphysiologisches Interesse hatte, und die er am 15. Mai du Bois mit dem Bemerken überschickte: „Sie enthält nur die Resultate gelegentlich angestellter Versuche, die aber doch vielleicht hier oder da nützlich sein können.“ Der schon längst von Grimaldi, Wollaston und Erman in stiller Nacht an den Muskeln beobachtete leise Ton wurde trotz seiner grossen Bedeutung für die Herztöne doch erst von Helmholtz genauer untersucht. Indem er die Zusammenziehung der Muskeln durch einen Inductionsapparat mit schwingender Feder hervorbrachte, der so weit entfernt war, dass man von seinem Tone nichts vernehmen konnte, hörte er bei genügend grosser Stromstärke deutlich einen Ton, der, wie er sich überzeugte, nicht in Folge einer Reibung des Muskels an den umliegenden Theilen oder dieser an einander entstanden sein konnte. Die Existenz desselben hielt er für einen directen Beweis der von du Bois aufgestellten Ansicht, dass die elektrischen Wirkungen der Muskeln auf die Existenz sehr kleiner elektromotorischer Molekeln zurückgeführt werden müssen. Er fand, dass, wenn eine Stimmgabel von 120 Schwingungen den Strom unterbrach, er im Muskel verhältnissmässig stark auch den Ton von 240 Schwingungen hörte. Es ergab sich ferner aus den fortgesetzten Versuchen, die er am 20. Juli 1866 dem naturhistorisch-medicinischen Verein in Heidelberg vorlegte, das wichtige Resultat, dass unser Rückenmark, sobald wir einen Muskel zusammenziehen wollen, demselben 18 bis 20 Reize in jeder Secunde ertheilt, so dass nur seine Obertöne hörbar sind. Helmholtz nahm diese (Seite 57) Untersuchungen später nicht mehr auf; eine Andeutung Ludwig's, dass er über diesen Gegenstand in seinem Laboratorium arbeiten lassen wolle, beantwortet Helmholtz am 4. December 1866 mit den Worten:
„Ihr braucht Euch nicht zu geniren, über den Herzmuskel zu arbeiten; ich selbst hoffte Aufschlüsse über die Actionen des Rückenmarkes bei der willkürlichen Bewegung daraus zu erhalten, habe aber wenig Hoffnung mehr, weil die Bewegung zu unregelmässig ist. Sie ist nur ein Geräusch, welches sich einem musikalischen Tone nähert, das heisst eigentlich einem unhörbaren Grundtone von etwa 19 Schwingungen. Die Resonatoren, die ich anzuwenden versucht habe, haben mir gar nichts geholfen.“
Nun wandte sich Helmholtz wieder ganz der physiologischen. Optik zu. Die wichtigen Arbeiten Hering's über die Raddrehung nöthigten ihn, da er für die Ausarbeitung des Capitels über die Gesichtswahrnehmungen in seinem Lehrbuch eine gründliche Durcharbeitung aller Untersuchungen über den Horopter und die Bewegungen des Auges anstellen musste, auf seine früheren Arbeiten über diesen Gegenstand wieder zurückzukommen. Er ging in einem am 25. November 1864 im naturhistorisch-medicinischen Verein zu Heidelberg gehaltenen Vortrage „Ueber den Einfluss der Raddrehung des Auges auf die Projection der Retinabilder nach aussen“ auf den von Hering aufgestellten Satz näher ein, dass wir die Objecte so projiciren, als wenn die Netzhautbilder sich in einem in der Mitte zwischen beiden wirklichen Augen gelegenen ideellen Auge befänden, dessen Gesichtslinie nach dem Convergenzpunkte der beiden wirklichen Gesichtslinien gerichtet ist. Eine Erklärung für denselben suchte er darin, dass wir beim gewöhnlichen Sehen keine bewusste Trennung der Eindrücke beider Augen bewerkstelligen und die Richtung der Gegenstände daher auch nicht auf je ein oder das andere Auge, sondern auf den Kopf und dessen Mittelebene beziehen lernen. Dagegen (Seite 58) glaubt er die Annahme von Hering, dass die Projection der Objecte immer so vollführt wird, als ob gar keine Raddrehung da wäre, dadurch ersetzen zu müssen, dass man die Objecte so sieht, wie das ideelle Auge sie sehen würde, wenn es die normalen Drehungen eines Auges mitmachte, welches auf den Convergenzpunkt der beiden Gesichtslinien gerichtet ist, und dessen Drehung also immer nahehin dem Mittel aus den Raddrehungen beider Augen zusammengenommen entsprechen würde.
Er legt sich endlich noch bezüglich dieser äusserst schwierigen Probleme in einem am 13. Januar 1865 gehaltenen Vortrage „Ueber die Augenbewegungen“ die Frage vor, wie die Erscheinung zu erklären sei, dass sich normale Augen unter gewöhnlichen Verhältnissen nur so bewegen können, wie sie sich bewegen müssen, um beide ein und denselben Punkt zu fixiren und deutlich zu sehen, also gleichzeitig nach oben oder unten, rechts oder links. Während bisher angenommen wurde, dass die Wege der Nervenleitung zu den Muskeln in der Weise verbunden seien, dass nur diese bestimmten Bewegungsgruppen entstehen können, schliesst Helmholtz auf Grund vielfacher Versuche, nach denen man auch lernen kann, das eine Auge nach oben, das andere nach unten zu richten, dass der Zwang in der Combination der verschiedenen Augenbewegungen nur davon herrührt, dass wir die Intention unseres Willens auf keinen anderen Zweck richten können als den, ein bestimmtes Object einfach und deutlich zu sehen, und dass wir deshalb abnorme Augenbewegungen ausführen lernen, sobald wir die Augen unter abnormen Bedingungen sehen lassen. Helmholtz zeigt noch in Uebereinstimmung mit dem von ihm gegebenen Beweise des Listing'schen Gesetzes durch interessante Versuche mit rotirenden Prismen, dass eine abnorme Raddrehung stattfinden kann, die sofort wieder aufhört, wenn die abnormen Bedingungen entfernt werden, und dass daher auch die Raddrehung der Augen dem Willen (Seite 59) unterworfen ist und vollzogen werden kann, sobald sie nöthig ist.
Im Zusammenhange mit diesen Untersuchungen behandelte er in einem Vortrage am 30. Juni 1865 die von ihm angestellten Versuche „Ueber stereoskopisches Sehen“. Mit Hülfe eines Ton ihm construirten Stereoskops, welches keine Prismen, sondern nur Linsen enthält und eine doppelt so starke Vergrösserung hervorbringt, als die gewöhnlichen Stereoskope, zeigt er — während man bisher bei den stereoskopischen Bildern nur berücksichtigte, dass die horizontalen Abstände der einzelnen Objectpunkte beiden Augen verschieden erscheinen — wie auch der Umstand Einfluss auf die stereoskopische Projection hat, dass die verticalen Abstände nach rechts gelegener, senkrecht über einander befindlicher Punkte dem rechten Auge grösser als dem linken erscheinen müssen.
Das Jahr 1865 brachte ihm wieder eine Reihe äusserer Anerkennungen; auch konnte er am 30. April Ludwig mittheilen, dass er den schon einige Zeit in Aussicht stehenden Ruf an das Josephinum nach Wien in höflichster Weise definitiv abgelehnt habe, „ohne weiter die Antwort von Karlsruhe abzuwarten, ob man ihm von dort gewisse kleine Wünsche, die er noch hatte, erfüllen würde oder nicht“. Der badische Minister Jolly bewilligte ihm im Juli alles, was er wünschte, mit den Worten: „Man redet uns zwar allerhand schlimme Reactionsgelüste nach, so schlimm steht es aber doch noch nicht mit der neuen Aera, dass sie nicht alles thäte, um den Glanz von Heidelberg zu erhalten.“
Aber mehr als alle diese äusseren Ehrenbezeugungen freute es ihn, dass kaum zwei Jahre nach dem ersten Erscheinen das Bedürfniss nach einer neuen Auflage seiner Lehre von den Tonempfindungen sich fühlbar machte. Wieder war sein Freund Ludwig der erste, dem er im Februar 1866 die zweite Auflage seines Werkes überschickt, (Seite 60) und der von Neuem sich voller Bewunderung über die grossartige Schöpfung Ton Helmholtz äussert, jedoch die nachfolgende Stelle in dessen Werke beanstanden zu müssen glaubt:
„Unter unseren grossen Componisten stehen Mozart und Beethoven noch am Anfange derjenigen Periode, in welcher die Herrschaft der gleichschwebenden Temperatur beginnt. Mozart hat noch Gelegenheit gehabt, reiche Studien in Gesangcompositionen zu machen. Er ist Meister des süssesten Wohllauts, wo er ihn haben will, aber er ist darin auch fast der Letzte. Beethoven hat mit kühner Gewalt Besitz ergriffen von dem Reichthum, den die ausgebildete Instrumentalmusik hervorbringen konnte, seinem gewaltigen Willen war sie das gefügsame und zu allem bereite Werkzeug, in welches er eine Gewalt der Bewegung zu legen wusste, wie vor ihm Keiner. Die menschliche Stimme aber hat er als dienende Magd behandelt, und deshalb hat sie ihm auch nicht mehr die höchsten Zauber ihres Wohlklanges gespendet.“
Gegen diese Ansicht lehnt sich nun Ludwig auf, dem Helmholtz am 30. März 1865 antwortet:
„In Deinem ersten Briefe aus Leipzig opponirst Du gegen meine Aeusserungen über Beethoven; ich hätte vielleicht nicht bloss kritisch über ihn sprechen sollen, um nicht missverstanden zu werden, denn auch ich finde, dass er der gewaltigste und erschütterndste aller Componisten ist, und ich selbst spiele auch fast nichts, wenn ich einmal spiele, als Beethoven'sche Sachen. Und wenn ich über die Mittel der musikalischen Bewegung zu sprechen gehabt hätte, würde ich ihn auch allen anderen vorangestellt haben. Ich hatte aber vom Wohlklang und der feinen künstlerischen Schönheit des Flusses der Harmonie ausschliesslich zu reden, und da glaube ich allerdings, dass Mozart der Erste ist, wenn er uns auch nicht so mächtig erschüttert Und überhaupt, wenn man älter wird und mehr und mehr Narben (Seite 61) an der Seele mit herumträgt, hört man auf, die Erschütterungen als das Grösste in der Kunst zu betrachten.“
Ernster und gewichtiger waren die Einwände und Zweifel, welche der von Helmholtz so hoch geschätzte geistvolle Forscher Fechner in einem Schreiben vom 6. Juni 1869 ihm entgegenhielt:
„Die gerechte Bewunderung, welche die Welt, mich selbst eingeschlossen, Ihren Arbeiten zollt, hat durch Ihre Tonlehre nur gesteigert werden können. In dem bindenden Zusammenhange von Thatsachen und Schlüssen, auf den sich dieselbe stützt, ist mir nur ein Punkt nicht vollständig liquid erschienen, und da ich mich in einer Schrift über Elemente der Aesthetik, an der ich arbeite, darauf zu beziehen habe, so möchte ich mich gern auf eine authentische Erklärung von Ihnen darüber beziehen und meiner eigenen Unsicherheit über diesen Punkt steuern. Sie erklären die melodischen Beziehungen der Töne nicht minder als die harmonischen durch das Dasein von Obertönen, und, wenn ich Ihre Ansicht richtig fasse, obwohl ich dessen nicht ganz sicher bin, würden ohne das Dasein von Obertönen zwei Töne sich nicht anders, nur in anderer Richtung, nach ihrer Höhe als nach ihrer Stärke unterscheiden, hiermit die so eigenthümlichen und abgestuften Verwandtschafts- und Verschiedenheitsbeziehungen zwischen den Tönen, die wir als melodische bezeichnen, wegfallen. Eine Octave erscheint deshalb dem Grundtone so ähnlich, weil der Grundton alle Partialtöne der Octave in seinen Obertönen enthält, die, Quinte deshalb weniger ähnlich, weil eine minder vollständige Coincidenz in dieser Hinsicht stattfindet u. s. w. Diese Auffassung ist unmittelbar so einleuchtend und fügt sich den factischen Verhältnissen der Töne bei den üblichen Instrumenten so vollständig, dass das Columbus-Ei damit gefunden scheint Man sagt sich, es muß aus der grösseren oder geringeren Coincidenz der Theile der Töne eine grössere oder geringere Verwandtschaft der ganzen Töne für die (Seite 62) Empfindung resultiren. Aber ich weiss nicht damit fertig zu werden, dass durch die Verwandtschaft der Octave mit dem Grundton die melodischen Beziehungen der Töne überhaupt, noch ganz ebenso deutlich bei den Tönen von Stäben, Platten und Glocken als bei den Saiteninstrumenten und der menschlichen Stimme hervortreten, ungeachtet bei Instrumenten jener Art nach Ihrer Bemerkung die Obertöne musikalisch vernachlässigt werden können oder, sollten sie in Rücksicht kommen, ganz abweichende melodische Beziehungen bedingen müssten …“
Helmholtz erwidert ihm am 3. Juli:
„… 1) Eine schwache Begleitung von harmonischen Obertönen ist wenigstens bei allen starken einfachen Tönen immer vorhanden. Sie entstehen nach demselben Princip, wie die Combinationstöne, theils gelegentlich ausserhalb des Ohres, theils regelmässig im Ohre, so oft die Schwingungen so gross werden, dass die elastischen Kräfte den Verschiebungen nicht mehr genau proportional bleiben. Dass im Ohr besonders günstige Verhältnisse hierfür gegeben sind, dass sogar Klirrtöne zwischen Hammer und Amboss entstehen können, haben mich meine Untersuchungen über die Mechanik des Ohres (Pflüger's Archiv f. Phys., Bd. 1) gelehrt. Ich habe dies in der ersten Ausgabe meiner Tonempfindungen wohl nicht genug hervorgehoben, und es bestimmter gethan in der neuen, deren Manuscript ich vor Kurzem an Vieweg gesendet habe, und deren Druck jetzt beginnen soll. Dadurch bekommt nun unverkennbar die Reihe der harmonischen Obertöne noch eine neue subjective Bedeutung. Ich hatte sie ursprünglich nur charakterisirt als die Reihe, welche bei allen genau periodischen Schwingungen, die dauernd gleichmäßige Empfindung erregen, vorkommt.2. Glaube ich aber doch, dass eine Melodie wiedererkannt werden kann, wenn sie in schwachen einfachen Tönen ausgeführt wird, ohne dass hierbei Obertöne von (Seite 63) wahrnehmbarer Stärke eintreten. Aber ich glaube andererseits, Musik wäre nie erfunden worden, wenn den Tönen immer die Beziehungen der Obertöne in der Weise fehlten, wie sie es in den Farben thun. — Tonhöhen und Tonintervalle können im Gedächtniss aufbewahrt und wiedererkannt werden, auch wo ihnen einmal ganz und gar die Merkzeichen, nämlich die Obertöne, fehlen, die ihnen die hervorstechende Bedeutung vor den benachbarten Tonintervallen geben, und auf denen die unmittelbare sinnliche Controlle ihrer richtigen Grösse beruht. Wenn Sie damit einen Fall vergleichen, wo wir einen gewöhnlich rothen Gegenstand einmal weiss sehen, so haben wir im letzteren Falle eine positiv neue Empfindung, die sonst fehlt. Fehlen uns die Obertöne bei einem melodischen Intervall, so kommt nichts Neues hinzu, es fehlt uns nur ein gewöhnlich vorkommender, bald schwach, bald stark entwickelter Theil der Empfindung, der uns über die Grösse des Intervalls sicherer macht, als die Erinnerung. Aber es tritt nichts Neues, Fremdes an die Stelle. Ich möchte die Sache eher vergleichen mit der binocularen Betrachtung eines Objects und mit der eines Bildes. Jene giebt wie eine Melodie mit Obertönen Momente in der Empfindung, welche ganz bestimmt entscheiden lassen über die Tiefendimensionen; das Bild giebt diese nicht, wie die Melodie ohne Obertöne; aber wir können uns, wenn wir das Object gut kennen, daraus doch eine hinreichend lebendige Anschauung bilden, und unter vielen Umständen ist es sogar schwer zu erkennen, ohne directes Experiment, ob binoculares Sehen unsere Tiefenanschauung unterstützt oder nicht. Mir scheint das Wesentliche zu sein, dass Melodie Bild einer Bewegung ist, und dass in unmittelbarer sinnlicher Empfindung eine Messung der Distanzen der Tonhöhe möglich gemacht ist. Kennen wir nun aus der Erinnerung ein Intervall als ein bekanntes, so können wir im einzelnen Falle die messenden Kennzeichen entbehren, ohne darum ganz irre zu werden, (Seite 64) wenn auch dadurch der Eindruck der Melodie etwas von der Mattigkeit des Erinnerungsbildes erhält. Dagegen muss ich nach eigener Erfahrung behaupten, dass Töne mit unharmonischen Nebentönen, wenn diese nicht sehr schwach oder sehr weit entfernt vom Obertone sind, nur ganz falsch klingende Melodien geben, die allerdings als Copien richtiger Melodien durch die Erinnerung wieder erkannt werden können. Das Princip, was Sie verlangen, um das unterschiedslose Zusammenfliessen der Obertöne zu verhindern, und dann wieder das Verhältniss der Töne in der Melodie geben soll, ist, wie ich meine, gegeben in der Thatsache (oder Hypothese), dass verschieden hohe Töne verschiedene Nervenfasern afficiren.“
Harmonisch tönt die Unterhaltung der beiden grossen Naturforscher in dem Antwortschreiben Fechner's vom 12. Juli aus:
„Vor Allem habe ich Ihnen für die freundliche Weise zu danken, mit der Sie auf meine Zweifel eingegangen sind. Das Hauptbedenken, was ich erhob, hätte ich mir freilich selbst so lösen sollen, wie Sie es gethan haben; kann auch nicht umhin, das Beispiel, was Sie an die Stelle des von mir gewählten zur Erläuterung der hier einschlagenden Associationsverhältnisse setzen, der Sachlage entsprechender zu finden als meines … Jedenfalls werde ich mich wohl zu hüten haben, selbst, wenn schliesslich ein Zweifel für mich bleiben sollte — denn von mehr könnte nicht die Rede sein — einer übrigens so einleuchtenden Theorie und Ihnen damit zu widersprechen, der Sie in der Sache zu Hause sind und die alleinige Autorität haben. Nur wiederholen aber kann ich den Wunsch, dass Sie selbst einmal gelegentlich diesen Gegenstand einer etwas eingehenderen Besprechung unterziehen möchten, als er in Ihrem Werke gefunden, da Ihnen mein Beispiel zeigt, dass denen, die nicht ganz in der Sache zu Hause sind, sonst leicht ebensolche Schwierigkeiten kommen könnten.“
Die Beschäftigung mit der physiologischen Optik erlitt nur eine ganz vorübergehende Unterbrechung durch seine Eis- und Gletscheruntersuchungen. Er hatte zunächst zu deren Begründung im naturhistorisch-medicinischen Verein in Heidelberg am 24 Februar 1865 in einem Vortrage „Ueber Eigenschaften des Eises“ die Frage nach der Ursache des Phänomens der Regelation des Eises erörtert, um dann noch in demselben Monat in einem öffentlichen Vortrage „Eis und Gletscher“ nach einer einleitenden ausgezeichneten Schilderung der Gletscherwelt auf die damals sehr viel erörterte Frage der Bewegung der Gletscher näher einzugehen. Nach der Lectüre des Vertrages schreibt ihm du Bois am 8. Juni 1866:
„… Du siehst, ich bin etwas rabiat; das ist stets der Fall, wenn ich mit meiner Arbeit nicht vom Flecke komme, namentlich wenn ich noch dazu Andere so eine schöne Sache nach der anderen aus dem Aermel schütteln sehe. Dein Versuch mit dem luftleeren Kolben am Schlusse des ersten Heftes Deiner gemeinfasslichen Vorträge, welche denen Bessel's ebenso an Schärfe gleich kommen, wie sie sie an Schönheit des Ausdruckes und an Umfang des Vorstellungsgebietes übertreffen, erfüllt mich mit jenem Neide, der in die Bewunderung überschlägt Der gute Tyndall wird sich nicht wenig wundern, selbst in Gletschersachen einen Meister in Dir zu finden.“
Blaserna schildert in einer mir vor Kurzem gemachten Mittheilung diese Beobachtungen an Eis und Gletschern auf seinen mit Helmholtz gemeinsam unternommenen Wanderungen:
„Seit jener Zeit (1870) wurden wir Freunde, wir trafen uns beinahe alle Jahre im Engadin, wohnten in demselben Hotel Saratz in Pontresina, machten sehr viele Besteigungen und Spaziergänge, verlebten alle Jahre vier bis sechs Wochen zusammen und hatten Gelegenheit, uns, so zu sagen, über alles auszusprechen. Ich kann gar nicht sagen, mit welchem (Seite 66) Vergnügen ich an jene Zeiten zurückdenke, in denen sein hoher Geist, seine stets bereite Mittheilsamkeit und sein nobles Wesen immer zu meiner Verfügung standen. Unser gemeinschaftliches Leben in Pontresina war sehr einfach und regelmässig. Helmholtz war nicht einer von jenen Bergsteigern ersten Ranges, denen alle schon bekannten Touren zu wenig sind, und die sich gerne nur auf neue Besteigungen einlassen. Aber er liebte es sehr, auf Berge und Gletscher zu steigen und von ihrer Höhe die wundervolle Aussicht zu gemessen, die die Natur in so reichem Maasse bietet Er war ein kräftiger und sicherer Steiger, dem es auf vier bis sechs Stunden Steigung nicht ankommt. Ich war ungefähr von derselben Force, so dass wir sehr oft unsere Touren zusammen machten. Ich bewunderte sehr seine Elasticität und sagte immer, dass ich nicht in der Lage sein würde, das zu leisten, was er leistete, sobald ich sein Alter erreicht hätte.(Seite 67)Sehr interessant war es, mit ihm Gletscher zu begehen. Sein Auge war überall, und alles, was das Eis bieten konnte an merkwürdigen Erscheinungen und Formationen, wurde sogleich Gegenstand seiner Untersuchungen. Seine Studien über Gletscher und Eis, die veröffentlicht wurden, sind offenbar so entstanden. Mich fesselte am Gletscher mehr das Gefühl der grossen, erhabenen Natur, wo die Zeit sich so langsam abspielt, und die der Mensch nur durch seinen Muth, durch seine Ausdauer und durch seine Intelligenz sich schliesslich unterworfen hat; aber ich hörte Helmholtz mit grossem Interesse zu, wenn er von seinen Untersuchungen sprach, und gestehe mit Vergnügen, viel von ihm gelernt zu haben. Eine kurze Theorie der grossen Eisperiode, die ich veröffentlichte und in der ich zum Schlusse komme, dass zur Zeit der grössten Entwickelung der Montblanc-Gletscher die mittlere Temperatur jener Region etwa 1 bis 2° höher war als jetzt, war eine Folge unserer Gespräche.“
In der obenerwähnten Arbeit, die auch im folgenden Jahre im Philosophical Magazine unter dem Titel „On the Regelation of Ice“ erschien, bestätigte Helmholtz durch Versuche die von James Thomson gegebene Erklärung für das Phänomen der Regelation des Eises von Null Grad, wonach zwei Eisstücke beim Aneinanderpressen zusammenfrieren und sich fest vereinigen. Er weist nach, dass bei gesteigertem Druck eine Erniedrigung des Gefrierpunktes eintritt, und hebt Faraday gegenüber hervor, dass bei dieser Erscheinung die Zeit wesentlich zu berücksichtigen ist; er zeigt durch zahlreiche Versuche, dass unter starkem Drucke zwei Eisstücke durch das an ihrer Berührungsfläche gefrierende Wasser unter Umständen in ein zusammenhängendes Stück Eis vereinigt werden können, während man bei schwächerem Drucke länger warten muss, und die Stücke nachher desto leichter wieder zu lösen sind. Er findet die Plasticität des Eises am ausgezeichnetsten in Eis, welches durch hohen Druck aus Schnee zusammengepresst ist, während regelmässig krystallinisches Eis zwar auch durch Regelation vereinigt werden kann, dann aber nur eine Zusammensetzung unregelmässiger Stücke bildet.
Indem er nun die Anwendung dieser Beobachtungen auf die Gletscher macht, kann er auf Grund seiner Versuche die bekannte und nie genügend begründete Erscheinung erklären, dass das Eis im Gletscher gleich einer zähflüssigen Masse fliesst. Die Eismasse des Gletschers ist nämlich überall von Wasseräderchen durchrieselt und hat deshalb in ihrem Inneren überall die Temperatur des Gefrierpunktes, da bei niedrigerer Temperatur das Wasser erstarren, bei höherer das Eis schmelzen müsste. Nun wird aber ein Gemisch von Eis und Wasser kälter und kälter, je grösser der Druck ist, der auf demselben lastet; da keine Wärme entzogen wird, muss daher freie Wärme latent werden und es muss Eis in dem Gemische schmelzen. Bei dem Druck, den die Gletschermassen ausüben und bei (Seite 68) dem das Wasser durch die Spalten entweicht, wird somit, wie Helmholtz meinte, das gepresste Eis, entsprechend der Erniedrigung seines Gefrierpunktes durch den Druck — indem der Gefrierpunkt des nicht zusammengepressten Wassers nicht erniedrigt wird — Eis geben, welches kälter als 0° in Berührung mit Wasser von der Temperatur von 0° ist. Es wird daher fortdauernd ringsum das gepresste Eiswasser frieren und neues Eis bilden, während dafür ein Theil des gepressten Eises fortschmilzt und das Eis selbst somit wie eine zäh-flüssige Masse sich bewegt.
Bemerkenswerth ist noch die in seinem öffentlichen Vortrage „Eis und Gletscher“ gegebene Erklärung der bis dahin vollkommen dunkeln und missverstandenen Föhnerscheinungen, welche jetzt die Grundlage der gesammten Lehre von den Niederschlagen bildet. Wird die warme Luft des Mittelmeeres durch den Südwind nach Norden getrieben, so wird ein Theil derselben gezwungen, zur Höhe des grossen Gebirgswalles der Alpen hinaufzusteigen. Sie wird sich hierbei entsprechend dem geringeren Luftdruck etwa um die Hälfte ihres Volumens ausdehnen, sehr beträchtlich abkühlen und gleichzeitig den grösseren Theil ihrer Feuchtigkeit als Regen oder Schnee absetzen. Kommt nun dieselbe Luft nachher auf der Nordseite des Gebirges als Föhnwind wieder in die Thäler und Ebenen hinab, so wird sie wieder verdichtet und erwärmt sich auch wieder; derselbe Luftstrom also, der in den Ebenen diesseits und jenseits des Gebirges warm ist, kann auf der Höhe schneidend kalt sein und dort Schnee absetzen, während wir ihn in der Ebene unerträglich heiss finden.
S. 47 - 68 aus:
Koenigsberger, Leo: Hermann von Helmholtz. - Braunschweig : Vieweg
Band 2. - 1903
Letzte Änderung: 24. Mai 2014 Gabriele Dörflinger Kontakt
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