Leo Koenigsberger: Hermann von Helmholtz

Helmholtz als Professor der Physiologie in Heidelberg
von Michaelis 1858 bis Ostern 1871.
(Fortsetzung)



Portrait von Franz von Lenbach 1884

(Seite 1) Von einer kurzen Pfingstreise mit seiner jungen Frau nach Heidelberg zurückgekehrt,

„mit tiefer Rührung sprach sie noch im letzten Jahre ihres Lebens von der ersten Fahrt, die sie mit ihrem Manne, dessen Hoheit und Grösse sie ahnend empfand, nach Eberstein Schloss damals von Baden aus gemacht hatte“,
findet er ein warmes Glückwunschschreiben seines alten Freundes Ludwig vor, der zugleich sein „grenzenloses Staunen über die an Bedeutung immer grossartiger werdenden Forschungen“ von Helmholtz ausspricht, aber von diesem die bescheidene Antwort erhält:
„Ich wollte aber, Du dächtest nicht so übermässig gross von meinen und so klein von Deinen Arbeiten. Jeder hat seine besonderen Fähigkeiten, und ich selbst weiss sehr genau, dass ich selbst unfähig gewesen wäre, die Abhängigkeit der Speichelsecretion von den Nerven zu entdecken oder andere Deiner Arbeiten auszuführen.“

Die neuen Verhältnisse lassen uns Helmholtz sehr bald in völlig veränderter Beleuchtung erscheinen; die düsteren Schatten, welche Jahre hindurch seinem Leben eine trübe Färbung gegeben, sind verflogen, im neu entstehenden Heim (Seite 2) fallen Dank der alle Welt bezaubernden Gattin funkelnde farbige Lichter auf Herz und Gemüth. Hatte der grosse Denker sich bisher zur ersten Autorität in der wissenschaftlichen Welt emporgearbeitet, alle Gelehrtenkreise mit Staunen und Bewunderung erfüllt, durch seine optischen und akustischen Arbeiten die Aufmerksamkeit und Anerkennung auch der Welt der Künstler auf sich gelenkt, so gelang es ihm jetzt, in seine Kreise immer weitere Schichten der gebildeten Welt hineinzuziehen. Wie er schon in Königsberg und Bonn durch öffentliche Vorträge seine grossen und umfassenden wissenschaftlichen Anschauungen in die weitere wissenschaftliche Welt hineinzutragen begonnen, so wurde jetzt sein Haus zum Brennpunkt wissenschaftlicher und künstlerischer Bestrebungen, und selbst bei den naturgemäss nicht ausgedehnten Heidelberger Verhältnissen fühlte man in diesem Hause ein Leben pulsiren, wie es sonst nur grosse Verhältnisse zu entwickeln gestatten.

„Durch Reisen nach England“, schreibt seine Schwägerin Freifrau v. Schmidt-Zabiérow, die ältere Tochter Robert v. Mohl's, „wie durch wiederholten langen Aufenthalt bei unseren Verwandten in Paris, in der durchgeistigten Atmosphäre des Salons unserer Tante in der Rue du Bac 120, dem Mittelpunkt vornehmer Geselligkeit, gelangte auch die glänzende Begabung meiner Schwester zur vollen Entfaltung, wurde ihr der Verkehr mit bedeutenden Menschen zum Bedürfniss. Reichliche Gelegenheit zur Anknüpfung fördernder Beziehungen ergab sich für meine Schwester nicht nur im elterlichen Hause, sondern in vielen damals in Heidelberg lebenden geistig und gesellschaftlich hochstehenden Freunden fremder Nationen. Erweiterung der Lebensanschauungen, gesteigerte Lebensbedürfnisse waren die nothwendige Folge dieser internationalen Verhältnisse. Die englische und französische Sprache beherrschte meine Schwester so vollständig wie ihre Muttersprache, jegliche Beschränkung auf abgegrenzte gesellschaftliche Kreise war ihr von früher (Seite 3) Jugend an unerträglich. Ihr frisches fröhliches Naturell, ihr Humor, ihr rasches Erfassen von Charakteren und Dingen mögen in ihrer Unmittelbarkeit beglückend auf Helmholtz gewirkt haben.“

Aber trotz der vielen und ausgebreiteten socialen Beziehungen spielte sich dieses durch seine Mannigfaltigkeit und geistige Vornehmheit wahrhaft wohlthuende Leben meist in seinem eigenen Hause ab, und gerade dadurch gelang es auch wiederum seiner durch Anmuth und Geist hervorragenden Frau, die Geselligkeit auf einem ungewöhnlich hohen Niveau zu erhalten und ihr stets die Grenzen zu ziehen, die mit einem unentwegten Denken und Forschen ihres Mannes verträglich waren. In seinem Arbeitszimmer und seiner Bibliothek begann Ordnung und Uebersicht zu herrschen Dank der Fürsorge seiner Frau, welche noch wenige Monate vorher als Braut ihm schrieb:

„Was werde ich noch an mir arbeiten müssen, um eine wirklich brauchbare Frau zu werden, die ihr Temperament zu angemessenem Nachdenken bringt. Verliere nur die Geduld nicht, Hermann, ich bin ohnedies leicht zu decouragiren, aber das muss ich Dir sagen, eine unordentliche Haushaltung führst Du in Deinem Schreibtisch. Wäre ich nicht viel zu gut erzogen in Beziehung auf gelehrte Unordnung, so würde ich mir erlauben, mit energischer Hand unbeschriebenes Papier von beschriebenem zu sondern und alle Briefe in eine Schublade zu legen, ungelesen notabene, — und dann nach Miss Nightingal's Princip mit einem feuchten Tuch darin zu hausen — so aber lasse ich's beim status quo und freue mich, eine menschliche Schwäche bei Dir entdeckt zu haben.“

Die Correspondenz mit seinen wissenschaftlichen Freunden nahm einen noch grösseren Umfang an als früher; wurde auch der wissenschaftliche Gehalt in seinem Briefwechsel mit du Bois dadurch geringer, dass die Arbeiten von Helmholtz allmählich auf Gebiete sich erstreckten, (Seite 4) welche den Untersuchungen du Bois' ferner lagen, so trat an die Stelle ein schon im Jahre 1856 beginnender und mit den Jahren immer reger und enger werdender brieflicher und persönlicher Verkehr mit W. Thomson, der nicht nur die eigenen epochemachenden Untersuchungen dieser beiden grossen Naturforscher zum Gegenstande hatte, sondern in welchem sie sich auch gegenseitig Mittheilung machten von den wichtigsten Arbeiten und Entdeckungen anderer Forscher während des langen Zeitraumes von fast 50 Jahren. So war Helmholtz der erste, welcher Thomson Nachricht gab von der Kirchhoff'schen Entdeckung der Metalle in der Sonnenatmosphäre; wenn auch der darauf bezügliche Brief sich bei Lord Kelvin nicht mehr vorfindet, so mögen doch dessen am 26. September 1902 an mich gerichtete hochinteressante Zeilen hier eine Stelle finden:

„..... There must be several others between that date and 1856, when I first had the great pleasure of making personal acquaintance with Helmholtz in Kreutznach where he came to see me, and in Bonn where I returned his visit.

„There must be a letter of November or December 1859 telling me of Kirchhoff's discovery of metals in the solar atmosphere by spectrum analysis. You may possibly find my answer which I wrote immediately on receiving it, telling him that, as chanced two or three days before, I had, in a lecture to my students in Glasgow University, told them that I had learned from Stokes that the double dark line D in the spectrum of sunlight proves that there is sodium vapour in the sun's atmosphere, and that other metals might be found there by the comparison of the Fraunhofer dark lines in the solar spectrum with the dark lines produced in flames by metals. I am sure I must also have told him that I had been giving this doctrine regularly in my lectures for several years.

„I well remember that at that time I was making (Seite 5) „Properties of Matter“ the subject of my Friday morning lecture. On one Friday morning I had been telling my students that we must expect the definite discovery of other metals in the sun besides sodium by the comparison of Fraunhofer solar dark lines with artificial bright lines. The next Friday morning I brought Helmholtz's letter with me into my lecture and read it, by which they were told that the thing had actually been done with splendid succes by Kirchhoff. …“

Die Fertigstellung des grossen akustischen Werkes hatte nach dem Erscheinen der zweiten Lieferung der physiologischen Optik schon in der ganzen letzten Zeit seine Kraft fast ausschliesslich in Anspruch genommen, und Helmholtz durfte mit dem Beginn des Jahres 1861 nach den vieljährigen Vorarbeiten endlich hoffen, in kurzer Zeit der ganzen gebildeten Welt seine tiefen akustischen und musikalischen Forschungen vorlegen zu können. Kurz nach dem schweren Unfall, der Thomson getroffen, schrieb er am 16. Januar 1861 an dessen Frau:

„ … Ich habe den Winter hindurch an meiner physiologischen Theorie der Musik gearbeitet und habe nur noch zwei Capitel zu schreiben, dann bin ich mit dem ersten Entwurf fertig, wonach ich freilich im Einzelnen noch viel werde nachbessern und umarbeiten müssen. Ich hoffe, das Buch nach Ostern zum Druck geben zu können. Mr. Thomson wird ausser dem, was ich ihm schon im Sommer darüber auseinandergesetzt habe, noch manches Neue darin finden, was ich erst später beim Ausarbeiten des Einzelnen gefunden habe. Ich bin mit meinen physikalischen Theorien ziemlich weit in die Theorie der Musik eingedrungen, weiter als ich anfangs selbst zu hoffen wagte, und die Arbeit ist mir selbst äusserst amüsant gewesen. Wenn man aus einem richtigen allgemeinen Principe die Folgerungen in den einzelnen Fällen seiner Anwendung sich entwickelt, so kommen immer neue Ueberraschungen zum Vorschein, auf die man vorher nicht gefasst war. Und da sich die Folgerungen nicht nach (Seite 6) der Willkür des Autors, sondern nach ihrem eigenen Gesetze entwickeln, so hat es mir oft den Eindruck gemacht, als wäre es gar nicht meine eigene Arbeit, die ich niederschreibe, sondern als ob ich nur die Arbeit eines Anderen niederschriebe. Mr. Thomson muss an seinen eigenen Arbeiten über die mechanische Wärmetheorie ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Ich habe dabei viele Musikstücke durchsehen müssen und Geschichte der Musik studirt. Dabei sind mir auch die schottischen Lieder nützlich gewesen, weil in ihnen manche eigenthümliche alte Formen sich erhalten haben. …“

Die Bearbeitung jener zwei noch nicht abgeschlossenen Capitel bot aber abgesehen von den schon oben besprochenen Untersuchungen über die arabisch-persische Tonleiter noch grössere physikalische und mathematische Schwierigkeiten, deren Behandlung er noch vor dem Erscheinen seines Werkes in kurzen Mittheilungen veröffentlichte.

Am 26. Juli 1861 hielt Helmholtz im naturhistorisch-medicinischen Verein in Heidelberg einen Vortrag „Zur Theorie der Zungenpfeifen“, unter denen er alle solche Blasinstrumente versteht, in welchen dem Luftstrom durch einen schwingenden elastischen Körper der Weg bald geöffnet, bald verschlossen wird. Die Mechanik derselben war bisher nur von W. Weber für Pfeifen mit metallenen Zungen untersucht worden, welche wegen der grossen Masse und Elasticität der Zungen nur dann von der Luft kräftig bewegt werden, wenn sich der von der Pfeife angegebene Ton nicht zu sehr von dem Eigenton der freien Zunge unterscheidet, und somit meist unter den theoretisch möglichen Tönen nur einen einzigen Ton und zwar den angeben, welcher dem eigenen Ton der Zunge am nächsten liegt. Anders verhält es sich mit Zungen von leichtem, wenig Widerstand leistendem Material, wie es die Rohrzungen der Clarinette oder die menschlichen Lippen bei den Trompeten und Hörnern sind; Helmholtz unterscheidet zum Zwecke einer eingehenderen (Seite 7) Untersuchung einschlagende und ausschlagende Zungen, je nachdem die von diesen geschlossene Oeffnung frei wird, wenn sich die Zunge dem Winde entgegen nach der Windlade zu bewegt, wie die Zungen der Clarinette und die Zungenwerke der Orgel, oder wenn sie sich mit ihm gegen das Ansatzrohr bewegt, wie die menschlichen Lippen bei den Blechinstrumenten.

Indem nun die Zunge als ein Körper betrachtet wird, der durch elastische Kräfte in seine Gleichgewichtslage zurückgeführt und durch den mit dem Sinus der Zeit periodisch wechselnden Druck der Luft im Ansatzrohr wieder daraus entfernt wird, gelang es Helmholtz, aus den Bewegungsgleichungen mit Benutzung seiner Untersuchungen über die Luftbewegung im Inneren eines offenen cylindrischen Rohres, für Zungen mit cylindrischem Ansatzrohr zu folgern, dass der Augenblick des stärksten Druckes in der Tiefe des Ansatzrohrer fallen muss zwischen eine grösste Elongation der Zunge nach aussen, die ihm vorauf geht, und eine grösste Elongation nach innen, welche nachfolgt. Indem er die Schwingungsdauer in 360 Grade eintheilt, ergiebt sich ihm die trigonometrische Tangente des zwischen -180° und +180° zunehmenden Winkels, um welchen das Maximum des Druckes vor dem Durchgange der Zunge durch ihre Mittellage eintritt, als eine einfache rationale Function von drei Grössen: der Wellenlänge des Tones der freien Zunge in der Luft, der Wellenlänge des wirklich eingetretenen Tones und einer Constanten, welche bei Zungen von leichtem Material und grösserer Reibung grösser ist als bei solchen von schwerem und vollkommen elastischem Material. Zugleich folgt, dass bei einschlagenden oder ausschlagenden Zungen das Maximum der nach aussen gerichteten Geschwindigkeit der Luft zusammenfallen muss mit der grössten Elongation der Zunge nach innen oder nach aussen. Hieraus ergiebt sich aber leicht, dass die Töne gut ansprechen, bei denen die Luftsäule des Ansatzrohres wie die einer gedeckten Pfeife (Seite 8) schwingt, und dieselben, wie bei der Clarinette, fast unabhängig sind Ton der eigenen Tonhöhe der Zunge. Aehnlich behandelt nun Helmholtz Zungen mit kegelförmigem Ansatzrohr, indem er die früher in seiner grossen akustischen Arbeit für cylindrische Bohren gegebenen Betrachtungen auf kegelfömige Röhren erweitert, und findet, während man gewöhnlich die Töne der Blechinstrumente den Tönen einer offenen Pfeife gleich setzt, dass die oberen Töne bis auf einen halben Ton zu tief gegen die unteren sein können.

Mit dieser Arbeit beschliesst er zunächst wenigstens die Veröffentlichung seiner einzelnen akustischen Untersuchungen und geht nun an die Thomson schon früher angekündigte zusammenfassende Darstellung einer physiologischen Akustik.

Freude am Leben, Befriedigung und Glücksgefühl in den neuen Verhältnissen verleihen ihm wieder die alte Spannkraft des Geistes, Unermüdlichkeit in der Arbeit, zugleich aber auch wieder Sehnsucht nach Natur und Kunst — er ist eben im Begriff, die Brücke zu schlagen, die von der Physik und Physiologie zur Aesthetik führt. Nach Beendigung der Vorlesungen und einer Cur in Kissingen macht er mit seiner jungen Frau eine längere Reise in die Schweiz und nach Italien und kehrt, wie seine Freunde es später so oft erzählten, körperlich und geistig erfrischt und verjüngt, heiter und theilnehmend an allem, was ihm das Leben entgegenbrachte, in die herrliche Neckarstadt zurück, die ihm nun erst eine neue Heimath werden sollte. Seine Kinder Käthe und Richard, welche vom April an sich bei ihrer Grossmutter in Dahlem aufgehalten, holte er selbst noch im September nach Heidelberg ab, wo er nunmehr im Hause von Häusser auf der Anlage gemeinsam mit Frau von Velten eine geräumige Wohnung inne hatte.

Mit frischer Kraft nahm er die Bearbeitung seiner Akustik auf, vertiefte sich in überaus schwierige optische Probleme, deren Lösung die dritte Lieferung seiner physiologischen Optik bringen sollte, machte sich an den Bau und (Seite 9) die Ausführung seiner Erkenntnisstheorie, gestaltete aber auch zu gleicher Zeit die elektrischen Untersuchungen weiter aus, auf die ihn früher die Arbeiten von du Bois und seine eigenen physiologischen Probleme geführt hatten.

In einem Vortrage, gehalten im naturhistorisch-medicinischen Verein in Heidelberg am 8. December 1861 und betitelt „Ueber eine allgemeine Transformationsmethode der Probleme über elektrische Vertheilung“, liefert Helmholtz, ohne die Untersuchungen Anderer über diesen Gegenstand zu kennen, eine Reihe von interessanten und weittragenden Sätzen.

Denkt man sich um den Anfangspunkt der Coordinaten eine Kugel gelegt und zwei Punkte in gerader Linie mit dem Mittelpunkt liegend construirt, für deren Entfernungen vom Mittelpunkt der Kugelradius die mittlere Proportionale ist, so wird von den beiden Punkten der eine das elektrische Abbild des anderen in Bezug auf die Kugelschale genannt. Wenn nämlich in dem einen Punkte die elektrische Masse M sich befindet und auf der Kugel eine solche Vertheilung der Electricität eintritt, dass längs der ganzen Oberfläche ihr Potential gleich dem der Masse M wird, so wird die elektrische Vertheilung auf der Kugelschale nach dem inneren und äusseren Raum gerade so wirken, als wäre alle Elektricität einmal in dem einen, das andere Mal in dem anderen Punkte concentrirt. Indem nun Helmholtz eine beliebige Function der Coordinaten des einen Punktes in eine Function der Coordinaten des Bildpunktes transformirt, findet er, dass der Laplace'sche Ausdruck der ersten, von einem von der Entfernung des ersten Punktes abhängigen Factor abgesehen, gleich ist dem Laplace'schen Ausdruck der mit einem von der Entfernung des Bildpunktes abhängigen Factor multiplicirten transformirten Function, und kann daraus schliessen, dass, wenn die eine Function eine Potentialfunction elektrischer Massen ist, welche in begrenzten Räumen, Flächen, Linien, Punkten verbreitet sind, die mit (Seite 10) dem bezeichneten Factor versehene transformirte Function die Potentialfunction von elektrischen Massen darstellt, welche in den Abbildern dieser Räume, Flächen, Linien, Punkte verbreitet sind, und einer im Mittelpunkte der Kugel befindlichen Masse. Ist somit die Vertheilung der Elektricität im Gleichgewichtszustand auf einer Fläche gefunden unter dem Einfluss gewisser Massen, so liefert die angegebene Transformation die Lösung eines anderen Problems für das elektrische Gleichgewicht auf dem Abbilde jener Fläche. Dem Vertheilungsproblem für Ellipsoide und andere Flächen zweiten Grades entsprechen Vertheilungsprobleme auf Flächen vierten Grades, dem Problem, welches Helmholtz für Kanten, in denen zwei unendliche Ebenen unter beliebigem Winkel zusammenstossen, gelöst hat, entsprechen solche für linsenförmige, von zwei sich schneidenden Kugelflächen begrenzte Körper; ähnliche Resultate ergeben sich für die Abbilder des inneren Raumes rechtwinkliger Parallelepipede und regelmässiger Tetraeder. Wesentlich andere Transformationsmethoden hat er später noch in seinen Vorlesungen gegeben.

Unmittelbar nachdem Helmholtz seine interessante Arbeit veröffentlicht hatte, wurde er darauf aufmerksam gemacht, dass die wesentlichsten Resultate derselben sich bereits in zwei an Liouville gerichteten Briefen W. Thomson's befinden, und er erkannte dies sogleich an in einer Stelle der Heidelberger Verhandlungen vom 30. Mai 1862. Zugleich schrieb er am 27. Mai an W. Thomson:

„ … Ich möchte Sie noch um Beantwortung einer wissenschaftlichen Frage bitten. Im vorigen Herbste verfiel ich wieder auf Potentialfunctionen. Die Schwierigkeiten, welche in meiner Arbeit über Schallbewegung in einer cylindrischen offenen Röhre unbesiegt geblieben sind, quälten mich. Die Schwierigkeit der Behandlung jener Aufgabe beruhte wesentlich darauf, dass an der Kante des offenen Endes der Pfeife die Luftbewegung discontinuirlich ist. Dies führte mich zur Untersuchung der Elektricitätsvertheilung an einer (Seite 11) kreisförmigen Kante. Ich fand, dass ich diese herleiten könne in gewissen Fällen aus derjenigen an einer geraden Kante zweier sich schneidenden unendlichen Ebenen, und für letzteren Fall habe ich die Sache dann gelöst. Nun bin ich aber später darauf aufmerksam geworden, dass Sie schon früher im Cambridge Math. Journ. erklärten, diese Aufgabe gelöst zu haben, und ich möchte deshalb wissen, ob Sie die Lösung veröffentlicht haben oder noch zu veröffentlichen gedenken, in welchem Falle es für mich nicht lohnt, die Druck auszuarbeiten. Das Princip der Spiegelung an einer Kugelfläche, durch welches eine gerade Kante in eine kreisförmige verwandelt werden kann, hatte übrigens ein anderer sehr tüchtiger junger Mathematiker Lipschitz, wie er glaubte, neu gefunden, bis wir es in Ihren früheren Arbeiten noch glücklicherweise zeitig genug entdeckten. Ich habe es leider in einer kurzen Notiz in den Sitzungsberichten unserer hiesigen naturwissenschaftlichen Gesellschaft als neu veröffentlicht, wofür ich um Verzeihung bitte; in der ausführlichen Veröffentlichung derselben durch Lipschitz wird aber Ihr Eigenthumsrecht anerkannt werden.“

Thomson giebt ihm umgehend ausführliche Auskunft über seine mathematischen Fragen.

Inzwischen näherte sich aber auch sein grosses akustisches Werk der Vollendung; er schreibt am 29. April 1862 an Donders, nachdem er ihm mitgetheilt, dass ihm am 3. März ein Sohn geboren worden, der die Namen Robert Julius erhalten hat, und dessen Leben die Mutter fast mit dem eigenen erkauft hätte:

„Von meiner akustischen Arbeit „Physiologische Grundlagen für die Theorie der Musik“ sind die Holzschnitte jetzt gemacht, der Druck des Textes soll beginnen, zwei Drittel des Manuscriptes sind abgeschickt; an dem letzten Drittel ist noch mancherlei zu flicken und zu ändern, es ist aber der Hauptsache nach auch schon aufgeschrieben. Ich werde (Seite 12) sehr vergnügt sein, wenn ich die letzten Worte dieser sehr langathmigen Arbeit werde niedergeschrieben haben; denn ich arbeite jetzt sieben Jahre daran, was man dem Umfange des Buches nicht ansehen wird. Und dann werden Philosophen und Musiker das Buch vielleicht als einen Einbruch in ihr eigenes Gebiet betrachten, während unter den Physikern und Physiologen wieder nicht viele musikalische Leute sind, wie Sie z. B. Sie werden zunächst mein hochverständigster Kritiker sein, und ich bin deshalb sehr gespannt, ob mein kecker und verwegener Versuch, naturwissenschaftliche Methode in das Gebiet der Aesthetik hineinzutreiben, Ihren Beifall haben wird.“

Thomson meldet er am 27. Mai:

„Der Druck meines Buches über Akustik hat endlich begonnen und wird, wie ich denke, im Anfang August beendet werden. Ich habe noch an den letzten Capiteln einiges zu verbessern, dann ist die Arbeit fertig, an deren ersten Theilen ich noch in Arran gearbeitet habe.“

Mit dem Jahre 1862 begann für Helmholtz in Heidelberg die arbeitsvollste und schaffensreichste Periode seines Lebens; die Lehre von den Tonempfindungen, die physiologische Optik gingen ihrer Vollendung entgegen, seine erkenntnisstheoretischen Anschauungen gestalteten sich zu einem consequenten philosophischen Systeme aus, hydrodynamische und elektrodynamische Untersuchungen beschäftigten ihn unausgesetzt, und schon jetzt wandten sich seine Gedanken den Forschungen über die Axiome der Geometrie zu, die aber erst einige Jahre später der naturwissenschaftlichen Welt die Tiefe seiner mathematischen und philosophischen Conceptionen erkennbar machen sollten. Es zeigt sich in Helmholtz während der nächsten zehn Jahre eine Abklärung in der Auffassung naturwissenschaftlicher Probleme, eine Höhe der philosophischen Anschauungen, ein zielbewusstes sich Gegenüberstellen zu den Fragen und Räthseln der Natur, ein Zusammenfassen aller Hülfsmittel, welche (Seite 13) das Denken und Fühlen der Menschen gewährt, um zu erforschen, was der Erkenntniss der Menschen überhaupt sich erschliessen lässt — wie es uns in der Geschichte der Wissenschaften nur selten begegnet, und wie in seiner ganzen Ausdehnung nur derjenige es zu sehen und zu würdigen verstand, welchem das Glück einer persönlichen Berührung mit diesem herrlichen Menschen und grossen Forscher zu Theil wurde.

Hatten früher seine Jugendfreunde du Bois, Brücke, Ludwig den unaufhörlichen grossen Entdeckungen von Helmholtz zugejubelt, so staunten jetzt Bunsen und Kirchhoff seine wissenschaftliche Grösse an, und wie oft konnte man von Kirchhoff noch lange, nachdem er durch seine Spectralanalyse sich unsterblichen Ruhm erworben, die bescheidenen, aber wahren Worte hören: „Ich bin schon zufrieden, wenn ich nur eine Arbeit von Helmholtz verstehen kann, aber ich kann manche Punkte in seiner grossen akustischen Arbeit noch immer nicht enträthseln.“

Von dieser Zeit geistigen Schaffens spricht Helmholtz, wenn er 30 Jahre später in seiner berühmten Tischrede, welche er am 2. November 1891 bei der Feier seines 70. Geburtstages gehalten, sagt:

„Es giebt ja viele Leute von engem Gesichtskreise, die sich selbst höchlichst bewundern, wenn sie einmal einen glücklichen Einfall gehabt haben oder ihn gehabt zu haben glauben; Ein Forscher oder Künstler, der immer wiederholt eine Menge glücklicher Einfälle hat, ist ja unzweifelhaft eine bevorzugte Natur und wird als ein Wohlthäter der Menschheit anerkannt. Wer aber will solche Geistesblitze zählen und wägen, wer den geheimen Wegen der Vorstellungsverknüpfungen nachgehen, dessen
Was vom Menschen nicht gewusst,
Oder nicht bedacht,
Durch das Labyrinth der Brust
Wandelt in der Nacht.
Ich muss sagen, als Arbeitsfeld sind mir die Gebiete, man sich nicht auf günstige Zufälle und Einfälle zu verlassen braucht, immer angenehmer gewesen. Da ich aber (Seite 14) ziemlich oft in die unbehagliche Lage kam, auf günstige Einfälle harren zu müssen, habe ich darüber, wann oder wo sie mir kamen, einige Erfahrungen gewonnen, die vielleicht Anderen noch nützlich werden können. Sie schleichen oft ganz still in den Gedankenkreis ein, ohne dass man gleich von Anfang ihre Bedeutung erkennt; dann hilft später nur zuweilen noch ein zufälliger Umstand zu erkennen, wann und unter welchen Umständen sie gekommen sind; sonst sind sie da, ohne dass man weiss woher. In anderen Fällen aber treten sie plötzlich ein, ohne Anstrengung, wie eine Inspiration. So weit meine Erfahrung geht, kamen sie nie dem ermüdeten Gehirn und nicht am Schreibtisch. Ich musste immer erst mein Problem nach allen Seiten so viel hin und her gewendet haben, dass ich alle seine Wendungen und Verwickelungen im Kopfe überschaute und sie frei, ohne zu schreiben, durchlaufen konnte. Es dahin zu bringen, ist ja ohne längere vorausgehende Arbeit nicht möglich. Dann musste, nachdem die davon herrührende Ermüdung vorübergegangen war, eine Stunde vollkommener körperlicher Frische und ruhigen Wohlgefühls eintreten, ehe die guten Einfälle kamen. Oft waren sie wirklich, den citirten Versen Goethe's entsprechend, des Morgens beim Aufwachen da, wie auch Gauß angemerkt hat (Gauss' Werke, Bd. V, S. 609; das Inductionsgesetz gefunden 1835, Januar 23., Morgens 7h vor dem Aufstehen). Besonders gern aber kamen sie, wie ich schon in Heidelberg berichtet, bei gemächlichem Steigen über waldige Berge in sonnigem Wetter. Die kleinsten Mengen alkoholischen Getränks aber schienen sie zu verscheuchen. Solche Momente fruchtbarer Gedankenfülle waren freilich sehr erfreulich, weniger schön war die Kehrseite, wenn die erlösenden Einfälle nicht kamen. Dann konnte ich mich wochenlang, monatelang in eine solche Frage verbeissen, bis mir zu Muthe war,
wie dem Thier auf dürrer Haide:
Von einem bösen Geist im Kreis herumgeführt,
Und ringsumher ist schöne grüne Weide.
Schliesslich war (Seite 15) es oft nur ein grimmer Anfall von Kopfschmerzen, der mich aus meinem Banne erlöste und mich wieder frei für andere Interessen machte.“

  Fortsetzung des Kapitels


S. 1 - 15 aus:
Koenigsberger, Leo: Hermann von Helmholtz. - Braunschweig : Vieweg
Band 2. - 1903


Letzte Änderung: 24. Mai 2014     Gabriele Dörflinger   Kontakt

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