Leo Koenigsberger: Hermann von Helmholtz

Helmholtz als Eleve des Königl. medicinisch-chirurgischen Friedrich-Wilhelms-Instituts in Berlin
von Michaelis 1838 bis Michaelis 1842.


Am 26. September 1838 verliess Hermann Helmholtz im Alter von 17 Jahren das elterliche Haus, um in das Königl. medicinisch-chirurgische Friedlich-Wilhelms-Institut in Berlin einzutreten, deren Zöglinge, zu Militärärzten bestimmt, an der Universität wie die übrigen Studirenden der Medicin ihre Ausbildung erhielten und dann im Charité-Krankenhause eine Zeit lang praktische Dienste leisteten.

Kaum angekommen, giebt er am 31. October seinen Eltern eine kurze Schilderung der ihm ungewohnten, streng geregelten Verhältnisse:

„Ich bin den Freitag hier gesund angelangt. Meine Sachen langten kurz danach an. Die Aufwärter und der Portier machten erst Schwierigkeiten wegen des Instruments, weil ich auf eine Stube quartirt worden war, wo es keinen Platz hatte. Die Nebenstube von dieser ist für zwei bestimmt und hatte hinreichenden Raum, ich liess es also in diese stellen und sagte, der Oberstabsarzt Grimm habe mir erlaubt, es mitzubringen. Die Stube ist für uns beide ziemlich geräumig, sie liegt zwei Treppen hoch an dem dem Eingange gegenüberliegenden Ende des Gebäudes, so dass ich einen Weg wie die halbe Hoditzstrasse machen muss, um von ihr aus auf die Strasse zu kommen. Ein Unangenehmes hat die Stube, nämlich dass die (Seite 23) nebenwohnenden drei Eleven immer durch dieselbe hindurchgehen, obgleich es ihnen eigentlich verboten ist, und sie über den Hof gehen sollten, indessen ist es nicht zu ändern; auch wäre es hart für sie, wenn sie, um zum Aufwärter zu kommen, sollten zwei ziemliche Treppen hinab und dann eben so hoch wieder hinaufsteigen. Um Euch das Ganze deutlicher zu machen, will ich einen kleinen Plan zeichnen ..... Mein Stubengenosse ist der Sohn eines schlesischen Baumeisters; er ist schon hier ein halbes Jahr auf der Akademie gewesen, d. h. er hat die Collegien und Stunden auf der Anstalt gehabt, aber nicht darin gewohnt und gegessen. Er hat eine wahrhaft rasende Geschicklichkeit im Clavierspielen, aber findet auch nur an solchen colorirten Sachen und der neueren italienischen Musik Geschmack. Es sind bis jetzt auch einige andere auf unsere Stube gekommen, die in den Ferien die Instrumente, welche sie gemiethet hatten, weggeschickt hatten, das wird jetzt hoffentlich aufhören ..... Frau v. Bernuth hat mich höchst reichlich bis jetzt beköstigt, oft so, dass ich kaum noch die beiden Treppen zu meiner Stube ersteigen konnte. Jedesmal, wenn ich von Tisch aufstehe, zählt sie alles her, was ich schlecht gemacht habe, und findet, dass ich mich schon etwas gebessert habe ..... Auf der Ausstellung sind einige neue Bilder, aber es ist nicht viel daran, das einzige, was mir mehr gefallen hat, ist eine Jephta ..... Den Studienplan haben wir noch nicht. Sobald ich das wirkliche Leben hier werde etwas kennen gelernt haben, werde ich Euch wieder schreiben. Bis jetzt habe ich schon die Entfernung von Euch unangenehm genug gefühlt, dadurch, dass Alles bezahlt sein will, und die älteren Eleven, die häufig zu uns kommen, um sich die Füchse zu besehen, rauben fast alle ruhigen Augenblicke .....“

Schon am 2. November trifft ein Brief des Vaters ein voll guter Lehren und Sorge für ihn, den Stolz und die Freude der Familie:

(Seite 24) „Lieber Sohn! Wir haben uns sehr gefreut, aus Deinem Briefe zu ersehen, dass Du glücklich angekommen bist und Deine Sachen erhalten hast; besonders konnte Mutter es kaum erwarten, dass ein Brief von Dir ankomme; sie war förmlich krank aus Verlangen nach Nachrichten von Dir. Deine Stube liegt nicht weit von dem Zimmer, in welchem ich selbst meine Universitätsjahre verlebt habe, es waren die Fenster nach der Friedrichstrasse über dem Dir zunächst liegenden Thorweg. Mögest Du in dem Deinen so glücklich sein und so viel schöne Augenblicke eines höheren Lebens in dem Deinigen verleben, als mir in dem Meinigen zu Theil geworden sind. Die Unannehmlichkeiten des ersten Empfanges als Fuchs waren vorauszusehen, sie werden keinem erlassen, doch tröste Dich damit, dass es das letzte Mal ist, dass Du Dich durch dergleichen durcharbeiten musst, und benimm Dich besonnen und selbständig, so wird die Sache bald aufhören: ich wünsche Dir nur, dass Dein Stubenbursche ein wackerer und fleissiger Mensch sei, das wäre für Dich ein grosses Glück; dass Ihr so tüchtig Clavier spielt, giebt Dir ja die beste Gelegenheit, Dich selbst darin zu vervollkommnen, und sei nicht so bequem, weil er besser als Du spielt, ihm das Spielen zu überlassen, denn durch ein ähnliches Verhältniss habe ich das Wenige verlernt, was ich gekonnt: besonders aber lass Dir nicht den Geschmack für die geistige, tiefe, deutsche und alte Musik durch den Ohrenkitzel und das Geflimmer der neuen italienischen Ueberspanntheit rauben, die letztere ist verführend, die erste bildend. Den Unterricht der Cousine Bernuth nimm Du dankbar an, wenn er auch in einer rauhen Form gegeben wird; hinter den Formen des feineren Umgangs liegt in der Regel ein tiefer Sinn, der nur vergessen ist, daher sie denn auch gar sehr in der Welt beliebt machen und fördern; ihnen Seele zu geben, damit sie aufhören leere Form und Schein zu sein, kommt auf einen jeden selbst an ..... Wir sind alle wohl, haben Dich alle sehr lieb, (Seite 25) und hoffen, dass Du auch ferner so unser Stolz und unsere Freude sein werdest, wie Du es bisher warst, bleibe gut und weihe Dich mit Ernst und Liebe Deinem Berufe, der Wissenschaft und der Tugend, und schreibe so bald wie möglich, wie sich Deine Studien und das Treiben Deines Lebens gestalten, auch wirst Du uns erfreuen, wenn Du einmal selbst erscheinst, vorausgesetzt, dass es Deine Geschäfte erlauben; ist Dein Stubenbursche ein wackerer Mensch, und glaubst Du, dass es Deinem Verhältnisse zu ihm förderlich sei, so kannst Du ihn später einmal mitbringen.“,
und die Mutter fügt hinzu:
„Lieber Hermann! Die Zeit, bis ich Deinen Brief hatte, ist mir schrecklich ängstlich gewesen, ich konnte nichts denken, als nur an Dich, und tausenderlei Vorstellungen peinigten mich; die Hauptsache dabei ist mir freilich, dass Du uns von nun an nur auf kurze Zeiträume besuchst, wie ein Gast und unser Zusammenleben mit Dir wahrscheinlich für immer aufgehört hat; es ist der Welt Lauf, mir aber schmerzlich; es geht mir jetzt schon besser, man gewöhnt sich an gar viel, und so werde ich auch wieder ins Geleise kommen, nur an ein zu langes Stillschweigen von Dir werde ich mich wohl schwerlich gewöhnen. Die Beschreibung Deiner Stube ist mir recht erwünscht gewesen, nun kann ich im Geiste Dich dort besuchen; auf Deine Stube hier bin ich noch nicht gewesen, Marie hat aufgeräumt, und nun würde ich den Mischmasch auf Deinem Tische vermissen. Neues habe ich nicht gehört, ich bekümmere mich freilich auch um gar nichts weiter, als höchstens um die Dampfwagen, die mir noch interessanter werden, wenn Du einmal damit kommst.“

Der junge Eleve lebt sich nun schon nach wenigen Tagen in die neuen Verhältnisse ein und sucht in seiner liebevollen Anhänglichkeit seine wegen der Gesundheit des Sohnes um Kost und Wohnung besorgten Eltern zu beruhigen:

(Seite 26) „Euer Brief hat mir viel Freude gemacht, da ich sehe, dass Ihr mich noch nicht vergessen habt. Ich befinde mich wohl. Die Collegia sind nunmehr heute angegangen, und damit die regelmässige Beschäftigung, die uns hoffentlich mehr Ruhe auf unserem Zimmer verschaffen wird. Bisher waren mir diese Gäste oft lästig, besonders wenn ich spielte, verlangten sie oft, ich sollte ihnen Tänze u. dergl. vorspielen. Zuletzt kehrte ich mich nicht mehr daran und liess meinen Stubenburschen spielen, wo sie dann zuweilen sogar tanzten, so dass, wie mir Dr. Knapp sagte, schon Klage von dem darunter wohnenden Compagnie-Chirurgen eingelaufen ist. Mit ihnen viel eingelassen habe ich mich nicht, dadurch bin ich in den Ruf der Ungeselligkeit gekommen, wie mir K. erzählt. Er räth mir übrigens auch, mich zu gedulden, er habe es auch ertragen müssen, dass von den Alten mehrere auf ihre Stube gekommen seien, um da zu spielen, was im Institut verboten ist, ohne dass er oder sein Stubenbursche etwa mitspielten. Mein Stubenbursche ist ein gutmüthiger, aber eben nicht talentvoller Mensch, wie ich aus seinen Heften ersehe, nach denen ich meines ausarbeiten wollte, weil ich heute noch nicht mitschreiben konnte und ausserdem das erste Collegium, Splanchnologie, versäumt habe. Nämlich ich ging mit ihm, da er schon ein halbes Jahr studirt hat, und er führte mich in der Universität zu dem Auditorium, wo der Professor Schlemm gewöhnlich liest, an dessen Thür bemerkt war auf dem Stundenplan: Montag 9 - 10: Prof. Schlemm, und in dem auch schon eine Anzahl Studenten warteten. Indessen da wir die anderen aus der Anstalt dort nicht fanden, ging er herunter, um sich näher zu erkundigen, ich wartete bei den schwarzen Tafeln auf ihn, aber er verlor sich in dem Gedränge und kam nicht wieder. Ich kehrte zum Auditorium zurück, wo indessen noch mehr Studenten angelangt waren, wir warteten alle, der Professor kam nicht. Zuletzt gingen wir denn nach dem anatomischen Theater (Seite 27) hinter der Garnisonkirche und hörten, dass der Professor Schlemm hier wirklich lese. Da es bald beendet sein musste, so konnten wir nicht mehr gut hineintreten, und ich besah mir indessen unten die Leichen, die zum Seciren hingebracht und zum Theil schon zerschnitten waren; ich hatte dabei weiter keine unangenehmen Empfindungen.

Wir haben wöchentlich 48 Stunden: 6 Chemie in Mitscherlich's Wohnung, 6 allgemeine Anatomie, 4 Splanchnologie, 3 Osteologie, 3 Anatomie der Sinnesorgane. Diese alle ausser der Osteologie im anatomischen Theater. Letztere nebst 4 Physik bei Turte und 2 medicinische Encyclopädie bei Hecker in der Universität, 2 Logik bei Wolf im anatomischen Theater! 3 Geschichte bei Preuss, 2 Latein bei Hecker, l Französisch bei einem Prediger Gosshauer in dem Institut. Ausserdem haben wir 12 Repetitionsstunden, die aber erst in 14 Tagen angehen.

Was Ihr fürchtet, dass ich die Musik werde liegen lassen, glaube ich wird dadurch verhindert, dass mir eben die neuere Musik, welche mein Gefährte so liebt, nicht genügt, und ich daher, um tiefere zu hören, selbst spielen muss; auch ist mir selten der Ausdruck und Vortrag eines anderen genügend; ich habe immer weit mehr Vergnügen an der Musik, wenn ich sie selbst ausführe ..... Das Essen hier im Institut ist nicht so schlecht, wie es die Meisten beschreiben, obgleich nicht so kräftig wie Privatkost. Suppe und Gemüse können wir zweimal bekommen, nur Fleisch giebt es nur einmal. Statt Gemüse können wir auch Sauce über das Fleisch mit Kartoffeln haben. Neulich kam der Oberstabsarzt Grimm, um zu sehen, ob alles in Ordnung ist, kam zu mir heran, fragte nach den Collegiis, wie mir das Essen schmeckte etc. .....“

Aber die ängstliche Mutter veranlasste trotz der guten Nachrichten den Vater, sich persönlich in Berlin von dem Wohlbefinden des Sohnes zu überzeugen, und jetzt erst beruhigt, spricht sie schon beherzter dem Sohne zu, „aller (Seite 28) Anfang ist schwer“, und zeigt ihrem Hermann auch wieder die muntere Laune und den fröhlichen Sinn, woran der Sohn bei ihr gewöhnt war. „Wilhelm Wilkens“, schreibt sie, „war neulich hier, als Vater bei Dir gewesen war, was er erfahren hatte; er war stumm mit raschen Schritten neben Vater zur Schule gegangen, was aber der Vater gut verstand und Auskunft über Dich gab. O! über Euch, Ihr stummen, verschlossenen Menschen! Wird es nicht anders mit Euch, so wird die Welt von Euch nichts haben und nichts wissen . . . Schreibe mir von Deinen Collegien von Frieren, von Aergern, von Unzufriedensein und was es sonst Gutes giebt. Gott gebe Dir ein, das Rechte zu thun und das Unrechte zu lassen!“

Der junge Student widmet sich nun mit gleichmässigem Interesse dem Studium der Physik, Chemie und Anatomie, sucht sich aus Vorlesungen und Büchern die nothwendigen Kenntnisse in diesen Wissenschaften zu erwerben, weilt aber in freien Augenblicken in seinen Gedanken immer noch gern im elterlichen Hause, und wenn er auch bisweilen am Sonntag die Seinigen in dem nahe gelegenen Potsdam besucht, so treibt ihn doch immer wieder jede, wenn auch nur vorübergehende Missstimmung, den um ihn so besorgten Eltern alle seine Gedanken und Gefühle schriftlich kundzugeben.

„Seit ich bei Euch war, hat das Arbeiten recht tüchtig begonnen. Die Repetitionsstunden bis auf zwei osteologische werden jetzt alle gehalten, und da müssen wir denn oft des Abends sitzen und Muskeln über Muskeln lernen, dass uns der Kopf raucht. Mir wird es zwar etwas leichter als den andern, aber doch hatte ich auch einmal einen Anfall von Aerger über Gott und die Welt, wie ihn alle, die hier in das Institut aufgenommen werden, einige Male empfinden. Indessen geht es gewöhnlich in wenigen Stunden vorüber, und die jugendliche Heiterkeit siegt wieder ob. Die Zeit, welche mir bei Tage übrig bleibt, verwende ich zur Musik, bisher war es an den schlimmsten Tagen im Ganzen doch (Seite 29) ziemlich eine Stunde, Freitag, Sonnabend und Sonntag ist dann mehr Zeit. Allein spiele ich Mozart'sche und Beethoven'sche Sonaten, mit meinem Stubenburschen zusammen, dann öfters neuere Sachen, die derselbe herbeischafft, vom Blatte. Des Abends habe ich Goethe gelesen und Byron, welche mir K. geborgt hat, und zur Abwechslung auch Integralrechnung getrieben.

Den Tag nachdem ich in Potsdam gewesen war, erhielt ich eine Einladung vom Geheimerath Langner, an den mich die Wilkens empfohlen hat. Ich fand daselbst mehrere junge Leute, meistens Studiosos juris, aber nun wurde Whist gespielt! Glücklicherweise konnten von meinen Mitspielern einer ebenso wenig, und die beiden andern wenig mehr spielen als ich. Es war eine grandiose Parthie. aber auch grandioser Unsinn, uns zum Whistspielen zu zwingen. Dadurch verlor ich alle Gelegenheit, die jungen Leute weiter kennen zu lernen, worunter ein junger Seemann, eben aus Nordamerika heimgekehrt, sich befand. Tante Bernuth hat sich sehr darüber amüsirt; auch hat sie mir ein Paar Handschuhe geschenkt, die mir sehr zu Statten kommen bei der jetzigen zarten [= harten ?] Witterung; denn wir haben jeden Morgen eine anatomische Repetitionsstunde in einem ungeheizten Zimmer, und das Endchen nach der Anatomie ist auch hübsch ohne Mantel. In unseren Stuben ist es seit einigen Tagen besser geworden, weil zweimal geheizt wird; sonst war es so kalt, dass man nicht schreiben und kaum spielen konnte .....“

Nachdem er das Weihnachtsfest im elterlichen Hause verlebt und die zweite Hälfte des ersten Semesters fleissig gearbeitet, führt ihn der Schluss der Vorlesungen wieder für längere Zeit zu seinen Eltern und Geschwistern zurück.

„Wir sind jetzt fertig mit allen unseren Collegien bis auf Mitscherlich, welcher erst den nächsten Sonnabend schliessen will. Ich muss deshalb diese Woche noch hier bleiben und sehen, wie ich die Zeit hinbringe; bis jetzt (Seite 30) habe ich sie ausgefüllt durch Lesen von Homer, Byron und Biot, Kant; ich bin nur mit allen diesen Studien, besonders dem letzteren, etwas ausser Zusammenhang gekommen und muss mich erst wieder hineinarbeiten; ist das erst geschehen, dann fesseln sie mich auch mehr; besonders habe ich vom Homer mich kaum wieder losreissen können, sondern in einem Abend immer zwei oder drei Gesänge hinter einander fast verschlungen. Ich werde also nächsten Sonnabend oder Sonntag zu Euch hinüberkommen, schickt mir dann doch diese Woche die Botenfrau, um einige Bücher und die Wäsche abzuholen.“,
und so verbringt er die Osterferien im Kreise der Verwandten und Freunde, emsig beschäftigt mit mathematischen und physikalischen Studien, in welchen der angehende Mediciner schon damals die Grundlage für alle seine weiteren naturwissenschaftlichen Bestrebungen erkannt hatte.

Im zweiten Semester fühlt sich der junge Eleve schon gemüthlicher in seiner Behausung; seine Studien fangen an, eine ernstere Richtung zu nehmen, die Physiologie bei Johannes Müller fesselt ihn besonders, in seinen Mussestunden studirt er Kant und den zweiten Theil des Faust, und da er dem Bibliothekar des Instituts zur Unterstützung überwiesen wird, findet er Gelegenheit, seine Kenntnisse durch das Studium seltenerer Werke zu erweitern. Im April 1839 schreibt er seinen Eltern:

„. . . . . Unterdessen waren in unserer Section zwei wichtige Veränderungen vorgefallen, nämlich mein Stubenbursche rückte in die nächst ältere Section, wo einer abgegangen war, und ein Anderer, des Lebens im Institut überdrüssig, hatte um seinen Abschied gebeten und bekam ihn auch; es mussten daher zwei Akademiker in die offenen Stellen eintreten. Da ich indessen unter diesen mehrere ziemlich liebenswürdige Leutchen hatte kennen lernen, so mochte ich nicht zum zweiten Male die Wahl meines Stubenburschen dem Glücke anvertrauen, und beschloss deshalb (Seite 31) mit dem frommen Königsberger, der indessen sich doch in dem Semester sehr verbessert hat, zusammenzuziehen. Wir konnten nun entweder meine bisherige oder seine Stube bewohnen. Um dem Durchlaufen zu entgehen, und um geräumiger zu wohnen, zog ich zu ihm hin, denn seine Stube ist eigentlich für drei Mann bestimmt. So wohne ich denn jetzt in der dritten Stube des Flügels, während ich bisher die erste bewohnte, und kann nun das Durchlaufen wieder zurückbezahlen. Mein jetziger Stubenbursche ist ein langer, in allen irdischen Dingen ungeschickter und unordentlicher Mensch, aber gutmüthig, gewissenhaft und talentvoll. Er hat ein immenses Gedächtniss, hat z. B. im vorigen Semester in den Zwischenviertelstunden auf der Anatomie zum Spass Euripides Hekuba auswendig gelernt; er übersetzt metrisch aus dem Englischen und jenem Tragiker, der sein Lieblingsschriftsteller ist, er malt mit Deckfarben Mondscheinlandschaften etc., wie er denn überall etwas sentimental ist, besonders beim Vorlesen und auf der Flöte, auf welcher er aber eben nicht excellirt, weil ihm kein Begriff von Tact beizubringen ist; er ist auch derjenige unter der Section, dem die Wissenschaft noch am meisten am Herzen liegt, der sich auch auf Disputiren einlässt, obgleich er ziemlich orthodox und in der Kunst manchmal von sonderbaren Ansichten ist. Ich habe neben allen diesen Vortheilen auch noch den, dass nicht mehr alle die auf meine Stube kommen, welche durch das Spiel meines früheren Kameraden angelockt wurden.

Ich bin unter denen, welche für dieses Semester zur Unterstützung des Bibliothecarius dienen sollen. Es gehen mir zwar dadurch wöchentlich zwei Stunden verloren, aber es ist dies das einzige Mittel, zu erfahren, was in der Bibliothek Gutes vorhanden ist unter der unendlichen Menge alter Schmöker.

Für das Sommersemester sind uns 42 Stunden wöchentlich zuertheilt. Nach dem Stundenplan (auf dem aber erst (Seite 32) 39 stellen, indem man die Geschichte auf ihm vergessen hat) haben wir an den drei ersten Nachmittagen der Woche nur eine Stunde von 4 bis 5 oder 5 bis 6, die drei letzten sind frei. Wir haben aber meistens Vormittags von 6 bis 1 anhaltend zu thun. Zu den Collegien ist noch Mitscherlich's Zoochemie hinzugefügt. Wir haben 6 Stunden Botanik und 6 Naturgeschichte bei Link, 6 Physiologie bei Müller, 6 Chemie, 6 Zoochemie bei Mitscherlich. Hausstunden 3 Geschichte bei Preuss, 2 Latein bei Hecker, 1 Französisch bei Gosshauer. Repetitionen 4 Chemie, 3 Physiologie (bei Herrn v. Besser, der bei Müller im Collegium gerade Klotzen im Angesicht sitzt), 2 Osteologie, 1 Botanik. Nichts von Logik oder Psychologie, Mineralogie soll Link auch niemals vortragen, und im ersten Examen werden wir doch in dem allen examinirt .....“

Trotz der vielen Vorlesungen und der nothwendigen Durcharbeitung derselben bleibt ihm aber immer noch Zeit, sich an der ausgezeichneten Aufführung der Euryanthe zu erfreuen, in welcher Tichatschek und die Fassmann excellirten, und in einer Vorstellung des Faust, wie er sie noch nie gesehen, Seydemann's Mephistopheles und der Clara Stich Gretchen zu bewundern, „jener ebenso satanisch und humoristisch, wie diese zart und einfach“. Die Zeit wird ihm nun aber immer knapper, denn alle freien Nachmittage sind ihnen der vielen Vorlesungen wegen gestrichen; Müller's Physiologie gefällt ihm ausgezeichnet, auch Mitscherlich's Zoochemie ist ihm sehr interessant, seine Experimentalchemie „zum Sticken voll, jedoch ein ganz klein wenig langweilig“ — aber Link leidet „offenbar an einem Ueberfluss von Geist, nach zwei Monaten steht er in der Naturgeschichte noch bei einer philosophischen Einleitung (ach Gott!)“. Und zu alledem nimmt er noch, um jeglichen Anforderungen zu genügen, die an einen Studenten zu stellen sind, Fecht- und Schwimmunterricht und hofft so sein gespartes Geld loszuwerden, „denn sonst (Seite 33) sorgt der verfluchte Frühling dafür, dass es sich in alle Winde verstreut“.

Nachdem er am 17. August einen zehnwöchentlichen Urlaub genommen, reist er zur Stärkung für die im Winter bevorstehenden Prüfungen zu seinem Onkel, dem Kaufmann August Helmholtz in Königsberg i. N. M., dessen Tochter Emilie mit Hermann und seinen beiden Schwestern in freundschaftlichstem Verkehr stand, und entwirft am 23. August in humoristischen Worten seinen Eltern ein Bild von dem dortigen Leben:

„Ich bin am letzten Sonntag glücklich mit meinen Sachen hier in Königsberg eingetroffen. Auf der Postwagenreise machten mir meine Sachen weiter keine Umstände, meine Gedanken geriethen bald in den nöthigen Zustand von contemplativem und vegetativem Leben, um von der Langenweil nicht allzusehr angegriffen zu werden. Den Onkel nebst Familie traf ich gesund an, ..... Onkel kündete mir an, dass er wegen eines hier abzuhaltenden Jahrmarktes noch bis zum nächsten Sonntag hier bleiben müsse. Des is nu freilich eene schreckliche Tücke des Schicksals, indessen habe ich die Zeit noch ziemlich gut auszufüllen gewusst durch Lektüre von Schiller (seit drei oder vier Jahren zum ersten Male wieder), Rellstab (ein Paar ausgezeichnete Schilderungen und Biographien des Devrient und der Schröder-Devrient) und durch Clavierspielen. An den beiden ersten Tagen musste ich mich mit Onkels Noten begnügen, die ausser einer Mozart'schen Sonate aus lauter fürtrefflichen Werken von Strauss, Lanner, Czerny, Hünten, Auber, Ross und Bellini etc. etc. bestanden; ich jagte sie alle hinter einander durch, wurde zuletzt aber ganz schlimm davon, dass ich immer wieder zu der Mozart'schen Sonate und Cramer's Etüden retirirte, um meinen geistigen Magen wieder etwas zu stärken. Am Mittwoch fand ich bei Schmidt's noch eine zweite Mozart'sche Sonate.

Am Montag waren wir im Theater (!!!); nämlich die (Seite 34) Ueberbleibsel der berühmten Krausnick'schen Truppe halten hier in einem am Markt gelegenen Gasthof die Sommersaison und entzücken Königsberg bis auf einige Leute von ganz verdrehtem Geschmack (zu denen ich mich leider auch bekennen muss), welche behaupten, es sei kaum anzusehen. Trotz dieser Mäkler und Neider ist das Theater doch, wie z. B. gestern bei Schmidt's, das Caffe- (im besagten Falle Warmbier-) Gespräch der Damen. Natürlich wird geklatscht und herausgerufen, ganz à la Berlin .... Am Sonntag werde ich mit Onkel und Wilhelm absegeln. Nach Rügen wird er wohl nicht mitkommen, weil die Dampfschiffiahrt zwischen Stettin und Putbus mit Ende August aufhört. Es wird wohl einige künstliche Mechanik kosten, dass ich ohne ihn hinkomme, denn er will, dass ich von Stettin wieder nach Königsberg zurückkomme. Wir haben übrigens jetzt hier eben kein vielversprechendes Wetter.

Aus meinem Stilo werdet Ihr sehen, dass ich grässlich melancholisch bin, ich hoffe, Ihr seid es auch. (Hier bitte ich einige jämmerliche Stossseufzer zu suppliren) es wird Euch jetzt wohl endlich besser gehen, als den Sommer über, und Ihr habt Erholung nöthig.“,

und am 6. September schildert er, nach Königsberg i. N. zurückgekehrt, seinen Eltern in jugendlicher Begeisterung seine erste Seereise:
„Da sitze ich nun wieder im schönen Königsberg und führe ein den schönen Wissenschaften und Künsten, sowie auch der Zoologie geweihtes Leben. Ich habe mir nämlich in Erwartung dieses Falles ein Lehrbuch der letzteren von Berlin mitgebracht. Ich würde schon heute abfahren-, wenn ich mich nicht zu einer Komödienaufführung bei Schmidt's engagirt hätte, welche sich länger hinauszieht als ich berechnet hatte, in der nächsten Woche aber werde ich auf jeden Fall abreisen.

Unsere Fahrt nach Swinemünde begann am Sonntag, den 24. v. M. Wir kamen am Abend in Stettin an, am (Seite 35) Montag früh machte der Onkel seine Geschäfte ab; am Nachmittage führte uns der Neffe von einem Geschäftsfreunde des Onkels in den Umgebungen umher. Es sind dort einige schöne Aussichten über die Verzweigungen der Oder, die besonders durch die schönen Seeschiffe sehr belebt werden. Am Dienstag Mittag fuhren wir bei trübem Himmel nach Swinemünde. Die grosse Wasserfläche des Haffs machte einen imposanten Eindruck, der freilich bei der Rückkehr verschwunden war. In der Swine zwang uns ein Platzregen, die Cajüte zu suchen, und bei unserer Ankunft durchnässte uns derselbe auf den paar Schritten bis zum Wirthshause recht anständig.

An den beiden Tagen, die wir in Swinemünde zubrachten, war das Wetter besser. Ich badete mich an beiden in der See. Ein solches Bad hat einen merkwürdigen aufregenden und belebenden Einfluss, trotz der Temperatur von nur 10° Wärme glaubt man in Wasser von 16 bis 18° sich zu befinden; man wird sehr ermattet, so dass ich nicht an einem Tage mich hätte zwei Male baden mögen, und doch fühlt man sich so frisch und wohl. Am Mittwoch Nachmittag fuhren wir nach Heringsdorf, wo man von der wohl 100 Fuss steil vom Strande aufsteigenden Küste einen schönen weiten Blick über das Meer hat und bei hellem Wetter sogar Rügen soll sehen können. Besonders entzückte mich das Meer durch sein stets wechselndes Farbenspiel, welches aus der durch verschiedene Wolkenschichten dringenden Beleuchtung entstand. Ganz berauscht wurde ich am Abend, wo ich an die Spitze des einen der beiden vom Eingang des Hafens weit in die See hinausgeführten colossalen Steindämme ging und die Brandung beschaute, welche gerade so hoch ging, dass man noch trockenen Fusses auf dem Damme stehen konnte. Zwar war der Wellenschlag den Badegästen nicht stark genug; auf mich aber machten schon diese Wogen einen grossartigen Eindruck. Am anderen Tage machten wir noch eine Fahrt zu einigen schönen (Seite 36) Punkten der Insel und eine Segelparthie, wobei ich nicht einmal die Seekrankheit kennen lernte wegen der fast vollkommenen Windstille. Nach Rügen gingen keine Dampfschiffe mehr, der Wind war zu unbeständig, als dass der Onkel sich ihm in einem Segelboot anvertrauen wollte, die Landfahrt war ihm zu langweilig; daher gab er diese Parthie ganz auf, und wir fuhren am Freitag Morgen in glühendem Sonnenbrande auf dem Dampfboot nach Stettin zurück, am Sonnabend Mittag per Landkutsche nach Schwedt, und von da per Extrapost nach Königsberg, wo wir um 1 3/4 Uhr in der Nacht anlangten.

Ich habe nun die Reise sehr gemächlich und vornehm abgemacht; ob mit so vielem Genuss, wie wenn sie mit etwas mehr Mühsalen verknüpft gewesen wäre, und ich sie auf eigene Hand gemacht hätte, wollen wir weiter nicht untersuchen, da ich doch auch so das gigantische Chamäleon des Meeres mit wahrhafter Bewunderung gesehen habe.

Ich habe fast Lust, die Reise nach Rügen von hier aus noch nachzuholen, der Weg von Stettin ist dann freilich vergebens gemacht. Es kommt jedoch noch an auf Wetter, Lust und Fortschritte in der Zoologie. „Möglich ist es, wahrscheinlich ist es nicht. Schwören könnte ich wohl darauf, aber wetten möchte ich nicht.“ Bis zum Wiedersehen lebet wohl.“

Am 9. November kehrt Helmholtz ins Institut zurück, zeichnet sich bei einer mit 17 Zöglingen vorgenommenen Prüfung, die sich auf die Aggregatzustände verschiedener Körper, auf die atmosphärische Luft und deren Bestandtheile mit ihren chemischen Eigenthümlichkeiten, sowie auf den Stickstoff speciell und auf seine Verbindungen erstreckte, besonders aus und legt bereits am 10. December das Tentamen philosophicum ab.

„Ich habe gestern das Examen philosophicum glücklich überstanden und auch ein gutes Zeugniss davongetragen. In der Chemie ist mir nämlich das Prädicat vorzüglich gut, (Seite 37) in der Physik, Psychologie, Zoologie und Botanik sehr gut, in der Mineralogie ziemlich gut zuerkannt worden. Das letztere Prädicat ist das beste, was Weiß für gewöhnlich giebt, wenigstens hörte ich, dass er selbst Examinanden, welche sehr viel in der Mineralogie wussten, kein besseres zuertheilt hat. Uebrigens war mein Zeugniss von uns Vieren das beste, und Kunth gratulirte mir dazu, als er es mir überreichte. Wenn auch zu dem Examen nicht so viel specielle Kenntnisse, sondern mehr ein Ueberblick des innern Zusammenhangs erfordert werden, so hat es doch seinen Nutzen als eine Nöthigung, sich tiefer mit den Wissenschaften zu beschäftigen und an ihnen Interesse zu gewinnen.“

Unmittelbar darauf demonstrirte er am 12. December in einer Versammlung der Eleven ein von ihm selbst ausgeführtes anatomisches Präparat des Peritoneum, das sauber angefertigt war und durch einen recht guten Vortrag erläutert wurde, den der anwesende Professor der Botanik Ritter Dr. Frost aus London sehr rühmte.

Das Ende des Jahres erfüllte ihn mit Sorge für die Gesundheit seiner zärtlich von ihm geliebten Mutter, die jedoch das Weihnachtsfest wieder heiter mit den Ihrigen verleben konnte, und er benutzte nun den Rest des Wintersemesters und die Osterferien, die er vom 5. bis 18. April im elterlichen Hause zubrachte, zu den Vorbereitungen für die klinischen Vorlesungen, über die er im Sommer 1840 seinem Vater berichtet:

Schönlein hat gestern angefangen, es waren eine Menge Studenten aller Facultäten im Auditorio, draussen standen noch eine ebenso grosse Menge, daher wurde das Zimmer gewechselt, wobei die ersten natürlich die letzten wurden. Er sprach in der ersten Stunde über die verschiedenen medicinischen Schulen etwas stark gegen die Gegner, mit einigen Seitenblicken auf die Unfehlbarkeit des Papstes, auch die Hoffnung der Juden auf einen Messias nicht verschonend. Heute entwickelte er denn die (Seite 38) philosophischen Grundzüge seines Systems, wobei er meistens Schelling herbeizog. Von den hiesigen pathologischen Theorieen weichen seine meistens sehr ab; z. B., wenn die hiesigen Aerzte behaupteten nach Hufeland, es gebe nur allgemeine Krankheiten, so behauptet er, es gebe nur örtliche; und dabei stützt er seinen Beweis rein auf Schlüsse, da werden sie wohl drüber brummen.“

Der Besuch der Kliniken hatte aber seine Gesundheit von Neuem angegriffen, und er nahm desshalb am 25. August 1840 einen zehnwöchentlichen Urlaub zu einer Reise nach Schlesien, Prag und Dresden, über die er seinen Eltern ausführlich berichtet:

„In Krossen trafen wir zuerst auf den hübschen schlesischen Menschenschlag und die schlesische Baumzucht. Sie werden Euch wohl bekannt sein, diese ratzenkahlen Bäume, wo die Blatter nicht an Zweigen, sondern am Stamm selbst sitzen, und nur oben ein kleines Büschelchen sich befindet. Die Felder wurden auch ein Bischen grüner, wenigstens kamen nicht mehr so unendliche Sandsteppen vor, wie in meiner lobesamen Vaterprovinz; die Milch wurde bedeutend besser, zuweilen entzückend schön und zugleich billiger; die Butterstullen veränderten ihre Gestalt, entweder bekam man das rohe Material dazu, oder statt einer vier, von denen je zwei und zwei zusammengelegt waren.

Von Lüben gingen wir nach Liegnitz, wo sich eine Gelegenheit fand, drei Meilen weiter zu fahren nach Goldberg. Unterwegs zeigte uns ein Mitreisender Wahlstatt, das Katzbachgefilde, Blücher's Denkmal und schilderte uns den ganzen Verlauf der Schlacht; wir passirten auch einige Male die Katzbach, in der es jetzt freilich nur durch ein ganz besonderes Kunststück möglich sein möchte zu ersaufen; am anderen Tage gingen wir nach Hirschberg am Fusse des Riesengebirges.

So lange wir fuhren, war das Wetter nur zu schön gewesen, die Sonne heizte in unserem Wagen ganz erbärmlich (Seite 39) ein, und schon vor Polkwitz konnten wir ferne Bergketten als leichte Flecken am Horizont sehen. In den beiden Tagen unserer Fusswanderung aber war der Himmel trübe und die Ferne nebelig. So oft wir von einem Berge eine ferne Aussicht hatten, sahen wir vor uns Ketten von entfernten bedeutenden Bergen, da wurde denn conjecturirt, was wohl die Schneekoppe, was das grosse Rad etc. sei; kamen wir aber der Sache um zwei Meilen näher, dann waren es nur Vorberge; aber freilich solche, deren Spitzen am Sonntag früh alle von Wolken umlagert waren. So kam erst vor Goldberg das Katzbachgebirge, dann das Mittelgebirge. Wir bestiegen auch einige von diesen Bergen, die meist aus Gerölle bestanden, und hatten weite Aussichten in die Ebene und auch so einige Ahnungen vom Gebirge, weil die Luft zu trübe war. Endlich am Sonntag Abend erreichen wir, nachdem wir eine Stunde lang gestiegen sind, den letzten Kamm vor dem Gebirge, dessen Aussicht uns die Schlesier als die schönste im ganzen Gebirge gerühmt hatten, und sehen vor uns endlich den Riesenkamm, oder vielmehr die Stelle, wo man uns sagte, dass er läge. Unten nämlich sah man einige Städte in Nebel gehüllt, darüber eine dicke schwarze Masse, aus Erde und Wolken zusammengemischt, und darüber den Himmel. Dazu zog noch von der Ebene ein Regen herauf, den wir da oben abwarten mussten, und wir kamen endlich auf halbaufgelösten Wegen in Nacht und Nebel in Hirschberg an. Am Morgen erschraken wir, als wir uns in einen dichten dunklen Nebel eingehüllt fanden, doch zertheilte sich derselbe bald, und auch Rübezahl zog endlich seine Nebelkappe ab und erlaubte dem Menschenvolke den Blick in seine hohe Wohnung; so haben wir denn diese beiden Tage benutzen können, uns im Hirschberger Thal umzusehen. Gestern waren wir in Fischbach und auf dem Falkenberge, heute in Warmbrunn, auf dem Puddelberge und in Erdmannsdorf, morgen wollen wir noch einige kleinere Parthien hier machen und dann in das Hochgebirge gehen.

(Seite 40) Das Hirschberger Thal besteht aus Feldern und Wiesen, deren Grün noch so schön ist, wie wir es bei uns kaum im ersten Frühlinge sehen, dazwischen liegen zerstreut viele Dörfer und Städte, eine grosse Anzahl bewaldeter Hügel, die meist aus mächtigen Granitblöcken zusammengehäuft sind, und eine Menge einzelner Felsblöcke, so dass man überall ein romantisches, reizendes, lebendiges Bild vor sich hat. Besonders schön und reich ist die Aussicht von dem Falkenstein, zweien gegen 1500' über die Ebene emporragenden Granitkegeln, deren oberer Theil grossentheils nicht bewachsen ist. Von der Spitze übersieht man das ganze Thal bis hinaus in die blauen Hügel Niederschlesiens, das ganze Mittel- und Hochgebirge; die Felsparthien selbst sind sehr steil und kühn gelagert, nur durch eingehauene Treppen zugänglich gemacht. Von einzelnen anderen Punkten des Berges hat man eine mehr umschränkte, aber durch die wild romantische Einfassung des Bildes nicht minder schöne Aussicht. Am Berge liegt ein Schweizerhäuschen, zu dem bei unserer Zurückkunft die Kaiserin, der Grossfürst, Prinz Wilhelm (Onkel des Königs) u. s. w. hinauffuhren, um dort Thee zu trinken; wir kamen auch dort zu den Buden, wo der König den Kindern Pfefferkuchen gekauft hat. Auch Erdmannsdorf liegt reizend am Fusse des Hochgebirges; der Park des Schlosses ist besonders schön durch das Grün seiner Wiesen; von hier bis zu den Bergen hin ziehen sich grüne Felder, und darin, sowie auf den nahe gelegenen Hügeln und am Gebirge liegen zerstreut die Häuser der hier angesiedelten Tyroler; dazu kommen noch einige, wenn auch kleine Seen. Das Ganze sieht so friedlich, reinlich und lieblich aus, und doch so ernst und erhaben durch das dunkle hohe Gebirge mit seinen Felswänden und Tannenwäldern, dass man wohl begreift, wie die Idylle entstehen konnte. Dabei sind auch die Menschen ganz andere, als unsere Bauern; freundlich, gefällig, heiter, mit hübschen klaren Gesichtern; die Frauen besonders sehen sehr reinlich (Seite 41) und nett aus in ihrer weissen Kopfbedeckung mit rother Binde und weissen Bändern und in den weissen kurzen Aermeln; schon die Kinder sehen weit reinlicher, klarer und hübscher aus, als die märkischen Bauernkinder; man fühlt sich so wohl, so leicht unter diesen Menschen, in dieser Natur, bei der einfachen und wohlfeilen Kost, man wird so schnell heimisch, dass mir mein Aufenthalt in Berlin wie ein längst vergangener vorkommt. Will man aber aus dieser Idylle schnell herausgerissen werden, so gehe man in den Brunnengarten von Warmbrunn unter die vornehme Welt, man schreitet plötzlich aus Arcadien in den Berliner Thiergarten. Uebrigens sieht es hier gerade ebenso aus wie an allen anderen Brunnenorten. ...“

Mit Beginn des Wintersemesters 1840 geht Helmholtz in die anatomische Prüfung, mit gutem Gewissen, aber nicht ohne Zagen, kann aber schon am 30. October seinen wegen des Ausfalls der Prüfung besorgten Eltern den glücklichen Verlauf der beiden anatomischen Examinationstage melden, auch dass seine beiden Vorträge ohne weitere Anmerkungen von Seiten der Professoren vorübergingen:

„Ich habe nun noch in den nächsten Tagen ein Präparat anzufertigen, was aber nur noch etwa auf die grössere oder geringere Vorzüglichkeit des Prädicats von Einfluss sein kann. W. und F., die mir noch um einen Termin voraus waren, haben dasselbe heut schon abgegeben; es ist ihnen gleichfalls gut gegangen. Trotz dem, dass wir alle drei wohl nie mit besserem Gewissen in ein Examen gegangen sind als in dieses Anatomicum, ist uns allen bei den Vorträgen doch siedend genug geworden, namentlich bei dem ersten öffentlichen, wo nach dem Loos jeder die Lage der Eingeweide einer der Körperhöhlen vollständig zu expliciren hat, und wobei sich eine dicht gedrängte Versammlung sämmtlicher hier anwesender Cursisten eingefunden hatte, weil an der Methode des Examens eine Kleinigkeit geändert war. Die Examinatoren Müller und Gurlt sitzen dabei, (Seite 42) sperren den Mund auf und langweilen sich gräulich. Der zweite Vortrag über ein Knochen- und ein in Spiritus bewahrtes Eingeweidepräparat geschah vor den Examinatoren allein; dieselben langweilen sich noch gräulicher und lassen es sich sehr wohl gefallen, wenn der Cursist in der Hitze möglichst viel zu erwähnen vergisst; schliesslich thut es uns nur leid, dass wir so viel zur Anatomie vorher gearbeitet haben, und suchen dem Heere derer, welche noch vor ihr zittern, Muth einzusprechen. … Vom 15. bis 20. November ist der zweite Act des Examens in Aussicht genommen, und nachher ist der Weg glatter.“

Nachdem auch dieser zweite Act glücklich vorübergegangen, kann er sich endlich, wonach er sich schon so lange gesehnt, immer mehr und mehr in selbständige wissenschaftliche Untersuchungen vertiefen; die Besuche in Potsdam werden immer seltener, die Briefe an seine Eltern treffen nicht mehr so häufig ein, und er trägt sich bereits mit Gedanken über die Wahl eines Themas zu seiner Doctordissertation. Im Wintersemester 1840/41 und in dem Sommer 1841 sucht er sein Wissen nach allen Seiten hin auszudehnen, vor allem seine mathematischen Kenntnisse zu erweitern und sich mit der Behandlung der schwierigeren Theile der Mechanik bekannt zu machen, behält aber immer noch die hinreichende Zeit und Musse, um sich in den Kreisen von Verwandten und Bekannten an theatralischen Aufführungen zu betheiligen, mit Aufmerksamkeit die Entwickelung des öffentlichen Volkslebens und die neu erwachende politische Bewegung zu beobachten und sich an den Pasquillen und Spottgedichten zu erfreuen, „zu welchen die Berliner ihre getäuschten Hoffnungen, die der Thronwechsel bei ihnen erregt, und ihre Neigung, Witze zu machen, hinriss“.

Aber Helmholtz hatte zunächst eine schwere Zeit durchzumachen; nachdem er bereits angefangen, sich zur Bearbeitung einer Doctordissertation selbständig mit anatomischen und physiologischen Untersuchungen zu beschäftigen, (Seite 43) erkrankte er in Folge von Ueberarbeitung oder einer Infection in der Mitte des Juli 1841 zuerst ziemlich leicht, indem ihn in der Vorlesung von Mitscherlich eine Ohnmacht befiel, deren Folgen schon nach wenigen Tagen überwunden waren; die Fiebererscheinungen traten aber bald darauf in den ersten Tagen des August weit ernster hervor, wie er glaubte, in Folge einer Erkältung bei der Abendfeier des Stiftungstages, trotzdem hoffte er schon in acht Tagen seine Eltern besuchen und dann zu seiner Erholung in den Harz gehen zu können, „wenn nur einige Professoren sich mehr beeilen wollten, sie lesen aber mit der grösstmöglichen Gemächlichkeit, als hätten sie, wer weiss wie viel, Zeit“. Da der Husten aber stärker wurde, und die Fieberanfälle sich täglich wiederholten, so trat eine ausserordentliche Schwächung des ganzen Körpers ein, und Helmholtz wurde am 14. August in die Charité geschickt, wo er, da das zuerst leichte gastrische Fieber sehr bald in Typhus überging, fünf Wochen schwer krank daniederlag. Erst am 17. September ist Helmholtz im Stande, den Eltern seine baldige Ankunft in Potsdam zu melden:

„Mit dem Fieber bin ich nun, Gott sei Dank, fertig bis auf einige zurückbleibende Erregbarkeit des Pulses durch äussere Einflüsse; mit den Kräften steht es freilich noch nicht besonders, wie auch wohl an meiner Handschrift zu sehen ist, sie sind aber doch schon so weit, dass ich täglich einige Male ein Stündchen im Zimmer herumgehen und dazwischen zur Abwechslung aus dem Fenster sehen kann. In der Mitte oder gegen das Ende der nächsten Woche soll ich dann, wie der Stabsarzt Lauer heute mir sagte, mich wohlverpackt auf die Eisenbahn begeben und zu Euch hinüberrutschen. — So weit für heut, da das Tageslicht ausgeht. Grüsst die Geschwister. Auf baldiges Wiedersehen!“

Am 20. October 1841 bittet er von Potsdam aus um Verlängerung seines Urlaubs und hofft, da die Reconvalescenz (Seite 44) bisher, wenn auch langsam doch ununterbrochen von Statten gehe, sich in zwei bis drei Wochen im Institut einstellen zu können.

Im Kreise seiner Familie wurde dieses schwere Nervenfieber für eine Folge der nervösen Erregungen gehalten, die sich seiner bei jeder Operation in Gestalt von Uebelkeiten oder Ohnmachten bemächtigten; erst nach diesem Fieber scheint sich sein Körper so weit gekräftigt zu haben, dass er die Operationen nicht mehr zu fürchten hatte.

Im Winter 1841 nach Berlin zurückgekehrt, griff er von Neuem die Untersuchungen an, auf die ihn, wenigstens in einigen allgemeinen Andeutungen, sein Lehrer Johannes Müller hingewiesen, und nun lebte er ganz mit seinen Gedanken und Bestrebungen im Kreise von Müller's Jüngern, schon jetzt befreundet mit den um zwei Jahre älteren jungen Physiologen Brücke und du Bois-Reymond, welche, wie er, mit Begeisterung und Verehrung ihrem Lehrer zugethan waren; freundschaftlicher Umgang mit gleichstrebenden Genossen und täglicher geistiger Verkehr mit jenem grossen Forscher, von dem sie lernten, „wie die Gedanken selbständiger Köpfe sich bewegen“, verschönte ihr Leben und Treiben — „wer einmal“, sagt Helmholtz ein halbes Jahrhundert später, „mit einem oder einigen Männern ersten Ranges in Berührung gekommen ist, dessen geistiger Maassstab ist für das Leben verändert, zugleich ist solche Berührung das Interessanteste, was das Leben bieten kann“.

Die Schüler Müller's verband das gleiche Bestreben, die Physiologie mit der Physik zu verknüpfen, und für deren Aufbau eine exactere Basis zu schaffen, Helmholtz hatte jedoch, wie diese selbst später häufig ausgesprochen, einen bedeutenden Vorsprung vor ihnen allen dadurch voraus, dass ihm die Mathematik ein mächtiges Hülfsmittel gab, die Probleme klar zu formuliren und über die Methoden zu ihrer Lösung sich eine präcise Disposition zu bilden. Aber den ganzen Schatz mathematischen Wissens, über den er (Seite 45) verfügte, hatte er sich durch eigenes Studium der Werke grosser Mathematiker erarbeitet, unter all' den verschiedenen Vorlesungen, die er besucht, zu denen ausser den Fachvorlesungen auch Physik, Chemie, Botanik, Zoologie, Naturgeschichte, Philosophie, Psychologie, Logik, Aesthetik, lateinische und französische Sprache und Geschichte gehörten, findet sich auffallender Weise nicht eine einzige mathematische, und er trat damals noch so wenig mit seinen selbsterworbenen mathematischen Kenntnissen hervor, dass auch seine näheren Freunde Brücke und du Bois nichts davon ahnten. Es war die Zeit noch nicht gekommen, wo er als einer der grössten Mathematiker die Probleme der Physiologie und Physik meistern sollte.

Unter dem Einflüsse seines grossen Lehrers Müller, der sich zwar von der alten, wesentlich metaphysischen Betrachtung in Bezug auf die Räthselfragen über die Natur des Lebens losgesagt und die Kenntniss der Thatsachen als das Fundament jeder naturwissenschaftlichen Betrachtung festgelegt hatte, dem aber, wie seine hervorragenden Schüler wohl erkannten, trotz allen Ringens noch ein Rest naturphilosophischen Denkens und metaphysischer Anschauungen verblieben war, suchte Helmholtz an speciellen, klar umzeichneten Problemen die Reinheit des naturwissenschaftlichen Erkennens durch die Ermittelung unwiderleglicher Thatsachen zu begründen und so seinem Lehrer in dessen unermüdlichen Bestrebungen entgegenzukommen.

Und mit welch' geringen Hülfsmitteln versehen ging er an seine grossangelegten Untersuchungen! Während seines Krankenlagers in der Charité, wo er als Eleve unentgeltlich verpflegt wurde, hatte er sich so viel von seinem geringfügigen Monatsgelde erspart, dass er, kaum Reconvalescent geworden, sich ein kleines, recht mittelmässiges Mikroskop anschaffen konnte, und mit diesem Instrument, sowie einigen veralteten physikalischen und chemischen Lehrbüchern ausgerüstet, griff er die ihm gestellte Aufgabe an.

(Seite 46) Die Arbeit war schon am Ende des Winters 1841 in ihren Hauptresultaten fertig, und er konnte trotz der nothwendigen Vorbereitungen zu dem in Aussicht genommenen mündlichen Examen noch Zeit erübrigen, um am 3. Mai 1842, als einer der besten Schüler des Friedrich- Wilhelms-Instituts, in der Aula desselben vor einer ansehnlichen Versammlung einen Vortrag über die Operation der Blutadergeschwülste zu halten, die er freilich, wie er später erzählt, nie hatte operiren sehen; entsprechend der damaligen gelehrten Tradition war dieser Vortrag aus Büchern so geschickt compilirt und formell so vollendet, dass er von seinen Vorgesetzten belobt und am 2. August, bei der Feier des 48. Stiftungstages des Instituts, „an welcher viele ausgezeichnete Gelehrte des Militär- und Civilstandes, hohe Staatsbeamte, Generäle und Stabsoffiziere theilnahmen“, durch eine in zwei Werken bestehende Prämie, „Busserii institutiones medicinae practicae“ und „Fuchs, Die krankhaften Veränderungen der Haut“ ausgezeichnet wurde.

Ende Juni legte er unter dem Decanat von Jüngken das mündliche Examen ab, aber die Hoffnung des jungen Candidaten, schon im Laufe des Sommersemesters den Doctortitel zu erlangen, wurde vereitelt.

„Ich war heute“, schreibt er am 1. August 1842 seinem Vater, „bei Professor Müller mit meiner Dissertation; er nahm mich sehr freundlich auf, und nachdem er sich das Hauptresultat und die Beweise dafür hatte auseinandersetzen lassen, erklärte er, dass es allerdings von grossem Interesse sei, indem es einen Ursprung der Nervenfasern nachweist, der bei den höheren Thieren wohl vermuthet, aber nicht bewiesen werden konnte, rieth mir jedoch, es erst bei einer vollständigeren Reihe von Thieren zu untersuchen, als ich bisher gethan, um ihm stringente Beweiskraft zu geben, die es aus der Untersuchung von drei oder vier noch nicht haben könne. Er nannte mir mehrere, bei denen man am besten etwas zu finden erwarten konnte, und bot mir selbst (Seite 47) an, wenn meine Instrumente nicht ausreichten, auf dem anatomischen Museum die seinigen zu benutzen. Wenn ich mit meiner Promotion zu eilen nicht nöthig hätte, so rieth er mir, die Ferien noch zu weiteren Arbeiten zu benutzen, um ein vollständiges Kind in die Welt zu setzen, was weiter keine Angriffe zu fürchten hätte. Da ich ihm nichts Vernünftiges entgegenzusetzen wusste und mir das meiste davon eigentlich schon selbst gesagt hatte, so werdet Ihr also wohl den 20jährigen Doktor aufgeben und mit dem 21jährigen fürlieb nehmen müssen. Sollte Euch das zu viel Schmerzen machen, so schreibt es mir, dann übersetze ich meine Rede, die ich zu Pfingsten hier im Institut gehalten habe, und bin in der nächsten Woche Doktor. Die Leutchen in Potsdam werden vielleicht herauscalculiren, ich sei durch das Examen gefallen, die in Berlin, ich wolle ihnen mit dem Doktorschmaus durch die Lappen gehen, aber beide werden sich zu ihrer Zeit beruhigen. Mir war es eigentlich auch etwas überraschend und nicht ganz recht, aber wie gesagt, ich weiss nichts Vernünftiges dagegen einzuwenden.

So lebt denn wohl und bleibt gesund, bis Ihr Euren Studenten wiederseht, von dem Ihr schon auf ewig Abschied genommen zu haben vermeintet.“

Helmholtz als Chirurgus an der Charité

Nachdem er am 13. August 1842 einen vierwöchentlichen Urlaub zu einer Reise in den Harz genommen und Mitte September durch grössere Fusstouren erfrischt und zu erneuter Arbeit angeregt nach Berlin zurückgekehrt war, wurde er am 30. September als Chirurgus in der Charité angestellt und zunächst der inneren Station zugewiesen, auf welcher er bis zum 1. Februar verblieb.

Obwohl die Thätigkeit auf dieser Station, die „wegen der langwierigen, meist unheilbaren Krankheiten“ keine sehr trostvolle war und seine Zeit von 7 Uhr Morgens bis 8 Uhr Abends mit nur geringen Unterbrechungen von einzelnen oder halben Stunden in Anspruch nahm, fand er doch neben dieser ihm sonst sehr interessanten und lehrreichen (Seite 48) Beschäftigung noch Zeit, um, dem Rathe seines Lehrers folgend, mit dessen Instrumenten auf dem anatomischen Museum seine früheren Untersuchungen fester zu begründen und zu erweitern: „ich arbeite fleissig an meiner Dissertation, endlich glaubte ich schon ein sehr wichtiges Resultat gefunden zu haben, bei näherem Nachsehen fand ich aber vorgestern das Gegentheil, gestern, bei noch näherem Nachsehen, sah ich, dass das erste nur mit einiger Beschränkung doch richtig war, und heute will ich die Sache noch genauer vornehmen“. Die einzige Erholung von seiner angestrengten Arbeit findet er in der Kunstausstellung, er begeistert sich für den Lessing'schen Huss, „ein Bild, das vielleicht mehr werth ist, als all' die früheren Ausstellungen zusammen; jedenfalls ist hier in Berlin noch kein Bild von dieser Tiefe, Begeisterung und Charakteristik gewesen. Alles ist entzückt davon bis auf die Berliner Professoren“.

Nun wird die Arbeit endlich nach dem Urtheile Müller's zur Annahme reif, und Helmholtz auf Grund der medicinischen, Johannes Müller gewidmeten Inauguraldissertation: „De Fabrica Systematis nervosi Evertebratorum“ am 2. November 1842 zum Doctor promovirt; bei der Promotion fungirten als Opponenten: Dr. Baltes, Dr. Wald, Dr. Hartwich, und sein Diplom lautete: „postquam tentamen et examen rigorosum cum laude sustinuerat et dissertationem publice defenderat. ...“ Die von ihm mit Hülfe des Mikroskops gemachte Entdeckung, dass die Nervenfasern aus den von Ehrenberg 1833 entdeckten Ganglienzellen entspringen, ist nach der übereinstimmenden Ansicht der Physiologen die histiologische Basis der gesammten Nervenphysiologie und -Pathologie geworden; der bisher vergeblich gesuchte Zusammenhang von Nervenfasern mit Nervenzellen, und damit der Nachweis der centralen Natur dieser Zellen wurde von ihm für wirbellose Thiere durch diese mikroskopisch-anatomische Arbeit ersten Ranges erwiesen.

Nachdem die ersten Schwierigkeiten des Eintritts in die (Seite 49) innere Station überwunden waren, geht er mit Liebe und Freudigkeit seinem Berufe nach, gewinnt aber auch noch hinreichende Zeit, um die vielseitigen Studien des letzten Jahres fortzusetzen und für sich nutzbringend zu machen; er vertieft sich so ganz in seine weiteren Arbeiten, dass es ihm unmöglich wird, sich von denselben loszureissen, und zum ersten Male überbringt er seinem Vater die Glückwünsche zum Geburtstage nicht persönlich; „aber ich hoffe und wünsche es, dass Du Dich wohl und glücklich genug befindest, um keiner Glückwünsche zur Verbesserung Deines Befindens und Deiner Verhältnisse zu bedürfen, zumal da Glückwünsche als Ideale einer bessern Zukunft meist wenig zur Verbesserung des Realismus in unserer prosaischen Zeit beitragen . . . Nimm also mit Deiner väterlichen Liebe an, ich hätte sie mit aller Rednergabe, die mir fehlt, und mit allem Gefühlsausdruck, den ich nicht habe, Dir vorgetragen, so wirst Du mit diesem Ideale vielleicht besser davon kommen, als es in der Realität der Fall gewesen wäre“. Und während er seinen, der realen Welt meist abgekehrten Vater auf die Ideale einer besseren Zukunft verweist, wenden sich seine eigenen wissenschaftlichen Gedanken immer mehr von den idealen metaphysischen Anschauungen ab, in deren Bänden die Naturwissenschaften damals noch lagen, und neigen sich ganz der realen Welt, der Welt der Thatsachen, zu, um die Basis zu legen zu dem gewaltigen Bau, der sich auf derselben in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erheben sollte.

Die damalige Entwickelungsperiode der Medicin, die sich in überwiegend theoretischen Methoden erging, nahte ihrem Ende, man verwarf die Methoden und mit ihnen die Thatsachen und erkannte an der Entwickelung der übrigen Naturwissenschaften, dass auch die medicinische Wissenschaft neu aufgebaut werden müsse. Nachdem sich von Frankreich aus in den grundlegenden Arbeiten von Coulomb und Lavoisier der wissenschaftlich-methodische Aufbau der Physik und (Seite 50) Chemie zu gestalten angefangen, begründeten in Deutschland Mitscherlich und Liebig die chemische Wissenschaft, und Ohm, Franz Neumann, Gauß und Wilhelm Weber schufen eine unverrückbare Basis für die Methoden der experimentellen und mathematischen Physik. Aber es war eine gewaltige Geistesarbeit nöthig, um diese Grundsätze methodischer Forschung von der anorganischen auf die organische Natur zu übertragen.

Nachdem Ernst Heinrich Weber die Erklärung der Lebenserscheinungen auf Grund physikalischer Processe gefordert, suchte Johannes Müller, der zuvor noch ganz in naturphilosophischen Anschauungen verstrickt gewesen nunmehr in allen seinen physiologischen Arbeiten der inductiven Forschung freie Bahn zu brechen und immer mehr die deductiven Methoden und metaphysischen Anschauungen in den Hindergrund zu drängen. Aber er konnte sich von dem Gedanken nicht frei machen, dass es eine von den chemischen und physikalischen Kräften, welche innerhalb des Organismus wirken, verschiedene einheitliche Lebenskraft giebt, fähig, die Wirksamkeit jener Kräfte zu binden und zu lösen; der Tod nur vernichtet sie, die gehemmten Kräfte werden frei und rufen Fäulniss und Verwesung hervor — die Lebenskraft ist verschwunden und durch nichts ersetzt, in keine andere wahrnehmbare Kraft umgewandelt. Müller machte aber auch aus der Inconsequenz seiner Anschauung kein Hehl, und daher fanden sich in dem Bestreben, die Physiologie nach den Grundsätzen exacter Forschung consequent und einheitlich zu entwickeln, die vier genialen jungen Naturforscher zusammen, Brücke, du Bois, Helmholtz und Virchow, um aus derjenigen Disciplin der Physiologie, die jeder von ihnen sich zu seiner Domäne gewählt, die Lebenskraft vollends zu verscheuchen und die Physiologie als einen Zweig der Physik und Chemie zu cultiviren.

Schon jetzt gestaltete sich aber in dem 20jährigen (Seite 51) Charité-Chirurgus Helmholtz der Widerstreit der realistischen und metaphysischen Principien zu einem entschlossenen Kampfe nicht gegen die herrschenden Ideen in der Physiologie allein: die verschwindende, durch nichts ersetzte Lebenskraft war ihm physikalisch paradox, ein Verschwinden von Kraft und Materie undenkbar. Freilich hatte er nie eine mathematische Vorlesung gehört, aber die Pepinière besass noch aus dem vorigen Jahrhundert die Werke von Euler, Daniel Bernouilli, d'Alembert und Lagrange, und mit einem kurzen Lehrbuch der höheren Analysis ausgerüstet vertiefte er sich schon als Student während der Zeit seiner Assistenz in der Bibliothek des Instituts in die für alle Zeiten grundlegenden Untersuchungen dieser grossen Mathematiker und drang in das Verständniss der von diesen unsterblichen Forschern geschaffenen Principien der Mechanik ein, mit denen jene metaphysischen Anschauungen unvereinbar waren.

Aber er hielt es noch nicht an der Zeit, mit seinen allgemeinen und umfassenden Ideen hervorzutreten; die strenge Methode seines bewunderten Meisters Johannes Müller hatte ihn gelehrt, dass zunächst nur fest umzeichnete und methodisch durchgeführte Untersuchungen weitgreifende Principien naturwissenschaftlicher Forschung verständlich machen und stützen können, und so wandte er sich unmittelbar nach seinem Doctorexamen im Laboratorium von Müller einer Aufgabe zu, die durch die Arbeiten Liebig's im Mittelpunkte des Interesses stand, zu deren Behandlung er aber durch viel weiter reichende Ueberlegungen geführt worden, welche das Wesen der Lebenskraft nach einer bestimmten Richtung hin zum Gegenstande naturwissenschaftlichen Erkennens machen sollten.

Liebig führte gegen die von Schwann und Cagniard-Latour entdeckte belebte Natur der Hefe und deren Rolle bei der weinigen Gährung zu Gunsten der rein chemischen Theorie von Gährung und Fäulniss auf Grund (Seite 52) der Versuche von Gay-Lussac einen erbitterten Kampf, und Helmholtz, der sogleich die hohe principielle Wichtigkeit jener Frage und deren engen Zusammenhang mit der Existenz eines Perpetuum mobile erkannte, ging an deren Entscheidung. Nachdem er von den im Winter 1841 während seiner Krankheit gemachten Ersparnissen sich nicht nur sein Mikroskop für die in der Dissertation niedergelegte anatomische Untersuchung, sondern auch die damals moderne „Organische Chemie“ von Mitscherlich erworben hatte, vertiefte er sich schon in den ersten Monaten des Jahres 1843, in denen er auf der Station der Kinderklinik nicht übermässig beschäftigt war, in umfangreiche physikalisch-chemische Untersuchungen, welche nunmehr alle seine Gedanken beherrschten. Die damit verbundene geistige und körperliche Arbeit griff ihn so an, dass seine Mutter, in der Meinung, dass ihm seine Stellung Sorgen bereitet, schreibt: „Wir glauben, dass Gemüthsbewegung Dich abmagert, aber die schlimmen Zeiten werden vorübergehen, und Freude und Lust wieder in die junge Brust einkehren“; sie ermahnt ihn zugleich, auf seinen Anzug zu achten, „weil Du die gewöhnlichen Dinge jetzt sehr zu vergessen scheinst“.

Bei dieser schwierigen und anstrengenden Arbeit war er nun ganz auf sich allein angewiesen, und selbst von den wichtigsten Untersuchungen über diesen Gegenstand erhielt er nur zufällig Kenntniss; so war er gezwungen, sich zur Beschaffung der nöthigen Litteratur am 25. Juli an seinen Vater zu wenden: „Wärest Du wohl so gut, mir für den nächsten Sonntag Nachmittag vom Prof. Meyer oder durch ihn die neulich von Dir erwähnte Abhandlung Mitscherlich's über die Gährung zu verschaffen oder denselben zu fragen, wann ich ihn treffen kann, um von ihm die Resultate jener Untersuchung zu erfahren, falls er sie nicht mehr herbeischaffen könnte“; aber er kann schon trotz der anstrengenden Beschäftigung, die in den Sommermonaten auf der äusseren Station der Charité auf ihm lastete, hinzufügen: „Ich bin (Seite 53) mit meinen Experimenten jetzt so weit gediehen, dass ich nächstens anfangen will zu schreiben, wozu ich die Arbeit Mitscherlich's nothwendig kennen muss.“

In dieser Untersuchung, die er noch im Jahre 1843 unter dem Titel: „Ueber das Wesen der Fäulniss und Gährung“ in Müller's Archiv veröffentlichte, war es zunächst sein Bestreben, Liebig in dem Zurückdrängen des Vitalismus durch den Nachweis zu unterstützen, dass es keine generatio aequivoca giebt; freilich aber fand er, dass die Umsetzungen, die man als Fäulniss und Gährung bezeichnet, auch nicht von chemischen Einwirkungen, etwa wie Liebig es wollte, von der Einwirkung des Sauerstoffs oder von der Einführung schon fertiger Zersetzungsproducte aus den faulenden Substanzen abhängen, sondern er zeigte — und die klare und präcise Fassung seines Resultates ist besonders interessant im Hinblick auf die weit späteren grossen Forschungen Pasteur's — dass die Fäulniss unabhängig vom Leben bestehen kann, dass sie aber den für die Entwickelung und Ernährung von lebenden Wesen fruchtbarsten Boden darbietet und dadurch in ihren Erscheinungen modificirt wird. Eine solche durch Organismen modificirte und an diese gebundene Fäulniss ist die Gährung, sie gleicht dem Lebensprocesse auffallend durch die Gleichheit der Stoffe, in denen sie ihren Sitz hat, durch ihre Fortpflanzungsgeschwindigkeit und durch die Gleichheit der Bedingungen, welche zu ihrer Erhaltung oder ihrer Zerstörung nöthig sind.

Durch diese Ergebnisse, die Helmholtz wegen der geringen Vollkommenheit der ihm damals zu Gebote stehenden Mittel nicht weiter verfolgen konnte, schien freilich der Vitalismus wieder eine Stütze gewonnen zu haben, und es wurde daher besonders von Seiten der Physiker die Zuverlässigkeit der Versuche vielfach angezweifelt. Es gelang Helmholtz erst zwei Jahre später, Magnus, der in seiner von jeder wissenschaftlichen Eifersucht freien Liberalität ihn aufgefordert hatte, in seinem Privatlaboratorium „Methoden (Seite 54) zu seinen Untersuchungen anzuwenden, die grössere Hülfsmittel beanspruchten, als ein junger, von seinem Solde lebender Militärarzt sich verschaffen könnte“, durch eine Reihe von neuen Versuchen von der Richtigkeit seiner früheren zu überzeugen, ohne jedoch etwas Näheres über die Resultate seiner Arbeit zu publiciren, welche ihn fast täglich drei Monate hindurch in Anspruch genommen. Der junge Forscher trug sich bereits mit ganz anderen und weiter reichenden Problemen, deren Lösung jener physiologischen Weltanschauung, gegen welche Liebig und er selbst angekämpft, ihr Ende verkünden und eine völlig neue Aera der Naturwissenschaften begründen sollte.

Inzwischen fungirte Helmholtz, nachdem er noch im Mai für seine ausgezeichnete Thätigkeit eine Prämie erhalten, während des Monates August in der Augenklinik und trat sodann unter Fürsprache seiner Vorgesetzten, welche die hohe Bedeutung des kaum 22 jährigen jungen Mannes schon längst erkannt hatten, am 1. October 1843 als Escadronchirurg in das Königl. Garde-Husaren-Regiment zu Potsdam ein, wo er Assistent des Regimentsarztes Branco wurde. Und nun lag, da er erst in zwei Jahren sich der Staatsprüfung unterziehen durfte, eine lange und durch seine amtliche Stellung nicht allzusehr in Anspruch genommene Zeit vor ihm zur Entwickelung all' der grossen Gedanken, die ihn schon seit Beginn seiner Studienzeit beschäftigt, und für welche die bisher angestellten Untersuchungen nur Proben auf deren Richtigkeit waren.


Daguerreotyp vom 23. März 1848
Aus dem Nachlass von Emil du Bois-Reymond


S. 22 - 54 aus:
Koenigsberger, Leo: Hermann von Helmholtz. - Braunschweig : Vieweg
Band 1. - 1902


Letzte Änderung: 24.05.2014     Gabriele Dörflinger   Kontakt

Zur Inhaltsübersicht     Historia Mathematica     Homo Heidelbergensis     Hermann Helmholtz / Leo Koenigsberger