Leo Koenigsberger: Hermann von Helmholtz

Helmholtz als Professor der Physiologie in Königsberg
vom Sommer 1849 bis Michaelis 1855


Dass Helmholtz in so jugendlichem Alter zum ausserordentlichen Universitätsprofessor und selbständigen Leiter des physiologischen Instituts ernannt und mit einem Gehalte von 800 Thlr. angestellt worden, den sein Vater erst nach einer langen und verdienstvollen Wirksamkeit erreicht hatte, änderte bei diesem zu seiner eigenen Genugthuung und Freude die Werthschätzung und Anerkennung der grossen Leistungen seines Sohnes, und wiederholt sprach er es aus, dass sein Hermann es so viel weiter gebracht habe als er, der nur Professor an einem Gymnasium geworden. Nachdem während der letzten beiden Jahre der persönliche Verkehr zwischen Vater und Sohn wegen der völlig verschiedenen wissenschaftlichen Grundanschauungen nur selten einen Austausch der Ideen über die Arbeiten des Sohnes gestattet hatte, erfüllte jetzt den Vater der sehnlichste Wunsch, von allen Arbeiten desselben Kenntniss zu haben und wo möglich an deren Entstehen Theil zu nehmen — und so beginnt mit der Berufung Helmholtz' nach Königsberg der hochinteressante Briefwechsel zwischen Vater und Sohn, der sich über einen Zeitraum von 10 Jahren erstreckt und uns vielfach einen Einblick gewährt in die Entstehungsgeschichte der Arbeiten unseres grossen Forschers.

Verheiratung mit Fräulein Olga von Velten

Nachdem Helmholtz eine feste Stellung erlangt, sah er nach langer Verlobungszeit endlich den ersehnten Augenblick (Seite 112) gekommen, sein häusliches Glück zu begründen und seine geliebte Braut heimzuführen. Am 26. August 1849 wurde die Hochzeit auf der königl. Domäne Dahlem bei Berlin im Hause ihrer Schwester gefeiert; „die Trauung fand in der alten kleinen Dorfkirche statt, der ein schöner Festzug, bestehend aus ihren Freundinnen, seinen Freunden, Eltern und Geschwistern zuschritt, alle erfüllt von der Sicherheit dieses Glücks!“ Die Uebersiedelung und Abreise des jungen Paares nach Königsberg erfolgte unmittelbar nach der Trauung von Dahlem aus.

Gross ist das Glück seiner Eltern, rührend der Ausblick in die Zukunft. „Liebe Kinder!“ schreibt der Vater am 16. September, „Wenn ich nur wüsste, wie und was ich schreiben sollte, um Euch eben solche Freude durch meinen Brief zu machen, als Ihr mir durch den Eurigen gemacht habt! Hier ist in unserm stillen Leben alles beim Alten; und Eure Gegenwart ist so schön, dass die Freude der Erinnerung an das Vergangene wohl kaum schon Raum finden möchte bei Euch. Oder soll ich als ein weisheitsvoller Papa die Sättigung Eures Glückes durch traurige Lehren vom Neide der Gottheit, die dem Sterblichen nichts Vollkommenes gönnt, hemmen? — Euch auffordern wie Polykrates ein theuerstes Kleinod zu opfern und Euch bittere Entsagungen aufzulegen, damit Euch bewusst bleibe, dass Ihr arme zum Entbehren hienieden beschaffene Menschen seid? ... Olga, halte Deinen Hermann zur Ordnung an, denn das ist seine schwache Seite, und wenn er einmal Vater sein wird, muss er darin seinen Kindern ein strengeres Beispiel geben, als ich ihm gegeben habe. Nun aber bin ich auch ganz fertig; denn was mir sehr wichtig scheint, Euch zu versichern, dass ich Euch beide sehr lieb habe, da werdet Ihr im Vollgenuss Eurer Liebe denken, was soll der Tropfen ins Meer.“

Sehr schnell vollzog sich die Einrichtung ihres neuen Heims. „Nachdem wir übrigens“, schreibt er in der Mitte des October an du Bois, „mit dem Einrichten unserer (Seite 113) Häuslichkeit fertig geworden sind, ist dieselbe sehr nett und behaglich geworden, und wir können unbeschränkt und ungestört die glücklichste Zeit des Lebens durchgeniessen. Ich kann Dir mit bestem Gewissen empfehlen, Dir bei erster Gelegenheit eine ebenso liebenswürdige Frau anzuschaffen, wie ich sie mir erworben habe. Es giebt dem Geiste eine so vollständige Befriedigung in der Gegenwart, eine so ruhige Sicherheit des Besitzes, dass auch meine Arbeitsfähigkeit beträchtlich wieder zugenommen hat.“ Und in der That benutzte er auch bereits die Ferien zu Entwürfen neuer grosser Arbeiten und der Fortsetzung seiner früheren Versuche, indem er die schon begonnene Untersuchung über die Art der Bewegung eines Muskels während einer einzelnen Zuckung nach einer völlig neuen Methode jetzt wieder aufnahm. Bei den complicirten Versuchen unterstützt ihn seine junge Frau als Protokollführerin der beobachteten Scalentheile treulichst, und wir finden heute noch in seinem Nachlass gewissenhaft aufbewahrt die grosse Reihe von Tabellen, von der Hand seiner Frau geschrieben.

Schon nach wenigen Wochen erneuter Arbeit kann er du Bois mittheilen, dass er in viel evidenterer Weise die Richtigkeit seines aus den Curven, welche die Erhebung des Gewichtes als Ordinaten der Zeit angeben, gezogenen Schlusses nachzuweisen vermöge, die Kraft des Muskels sei nicht unmittelbar nach der Reizung am stärksten, sondern steige einige Zeit hindurch und falle dann wieder. Er deutet schon die äusserst sinnreiche Einrichtung an, die ihm viel Mühe und Zeit gekostet, um endlich die Form der Curve ermitteln zu können, welche das Ansteigen der Kraft ausdrückt, und die Möglichkeit liefert, einigen Erscheinungen nachzugehen, welche andeuten, dass die Intensität der Muskelthätigkeit schneller nachlässt, wenn durch dieselbe wirklich eine Bewegung hervorgebracht ist, als wenn das nicht der Fall ist: dass also ganz wie bei den elektrodynamischen Wirkungen die hervorgebrachte Bewegung die verursachende (Seite 114) Kraft schwächt. Noch aber fand er die Methoden und Resultate seiner Untersuchungen, durch welche er ein völlig neues Gebiet der physiologischen Forschung betreten und auch sogleich die umfassendsten Entdeckungen auf demselben gemacht hatte, nicht zur Veröffentlichung reif.

In der ersten Hälfte des Wintersemesters absorbiren die Vorbereitungen zu den Vorlesungen fast seine ganze Zeit, so dass er daneben nur allerlei kleine Versuche anstellen konnte, wie sie für einzelne Punkte der Vorlesungen selbst nöthig waren.

„Eine grössere Arbeit“, schreibt er im December seinem Vater, „für welche ich in den Octoberferien schon eine Reihe Resultate erhalten hatte, kann ich erst jetzt in den Weihnachtsferien wieder fortsetzen. .... Ich habe sieben angemeldete Zuhörer, von denen abwechselnd drei bis fünf erscheinen, je nach dem Wetter. Mit den physiologischen Versuchen bin ich noch sehr beschränkt gewesen, weil ich mein Laboratorium aus Mangel an Geld noch nicht einrichten konnte. Gegenwärtig sind mir nun 100 Thlr. für dieses Jahr und 100 für jedes folgende angewiesen worden zu meiner ausschliesslichen Disposition für Instrumente und Versuche; dabei werde ich mich denn doch in Bezug auf Instrumente besser befinden als in Berlin und thue es schon jetzt. . . . Die Politik ist hier überall obenauf und zwar in der heftigsten Weise. Gegenwärtig ist Jacoby der Vergötterte der Demokraten, während die Andern den bodenlosesten Abscheu gegen ihn kund thun. Die Demokraten berichten von ihm in den pompösesten Ausdrücken, wie er geniest und wer zuerst prosit gesagt, als ob sich der Kaiser Napoleon in Krähwinkel aufhielte.“

Ermahnend, beruhigend und belehrend lautet die schöne und gewiss vielfach berechtigte Antwort des Vaters als Weihnachts- und Neujahrsgruss vom 28. December:

„Möge 1850 Euch ebenso voll Glück und Gottes Segen sein, als es 1849 gewesen: vor allem erhalte es Eurer beiden (Seite 115) Gesundheit; Dir aber bringe es glückliche Resultate in Deinen wissenschaftlichen Forschungen. Freilich lässt sich kaum erwarten, dass Dir viel Zeit zu einer grösseren wissenschaftlichen Arbeit bleiben werde, bevor Du Deine Collegien einmal wirst gründlich durchgearbeitet haben, da Dir eine so starke Aufgabe gestellt ist, so plötzlich ohne alle Vorbereitungen in das Lesen hineinzuspringen; aber bis Ostern wirst Du ja die Hauptsachen ziemlich überwunden haben und Zeit für freiere und bessere Studien gewinnen, besonders da Deine Collegien mit Deiner privaten wissenschaftlichen Aufgabe, so viel ich weiss, innig zusammenhängen. Dass Du so wenige Zuhörer findest, thut mir leid, da gewiss nichts einen Lehrer mehr anfeuert, als wenn er Beifall findet und viele reizt, was er bietet. Indessen wird es desto grössere Aufforderung sein, neben der Tiefe und Gründlichkeit auch etwas nach gefälliger Form und Popularität zu streben und so auch den Wünschen Deiner Behörden zu genügen, die gewiss einen so jungen Mann mit einem für einen Professor extraordinarius so ausserordentlichen Gehalte nach Königsberg geschickt haben, um eben ein lebendigeres Interesse für das eigentlich wissenschaftliche und tiefere, ja ich möchte sagen, für das Fundamentale der Medicin zu erwecken und so auch von Königsberg aus für diese practische Kunst eine Fortentwicklung zu begründen. Auch hängt ja die Physiologie so sehr an der Philosophie und hat überhaupt ein so allgemeines wichtiges Interesse, dass sich gewiss eine Form des Vertrags und eine Auswahl des Inhalts finden lässt, die Dir auch aus andern Facultäten, besonders der philosophischen, manche zuzieht, besonders wenn Du Dich mit Rosenkranz verständigst, dessen berühmter Name doch wohl mehrere Philosophen nach Königsberg zieht. Auch sagt Professor Meyer, dass zu seiner Zeit sich die Königsberger Studenten durch regen Eifer und angestrengten Fleiss ausgezeichnet hätten, besonders die Naturforscher und Mathematiker. Möge es Dir denn auch in dieser Beziehung im nächsten (Seite 116) Jahre besser glücken, auch selbst Deiner äusseren Lage wegen, denn Du wirst Dich bald überzeugen, dass man selbst, so lange man nur zu zweien ist, mit Deinem Gehalte in dem Lebenskreise, in welchem Du Dich mit Deiner Frau befindest, noch sehr beschränkt ist, und um Praxis willst Du Dich ja nicht bemühen, da die freilich das einträglichste, aber, das gebe ich zu, auch das störendste und mühseeligste wäre. .... Die Politik habe ich jetzt ganz aufgegeben, das ist ein fauler ungesunder Sumpf, von dem gern wegbleiben mag, wen die Pflicht nicht hineintreibt; vorläufig bin ich froh, wenn irgend wo etwas Gerechtigkeit, Vernunft und Heiligkeit wieder durchbricht, und die dicke Binde, mit der die Ate der Parteileidenschaft die Menschen blendet, sich hier und da ein wenig wieder lüftet.“

Helmholtz benutzte nun, wie er es geplant, die Weihnachtsferien zur Fortsetzung der im October unterbrochenen Versuche und konnte schon am 15. Januar 1850 du Bois einen kurzen Bericht „Ueber die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Nervenreizung“ mit der Bitte übersenden, denselben der Physikalischen Gesellschaft vorzulegen „und in ihren Acten als Prioritätswahrung zu deponiren“. Zugleich übersandte er diese Notiz Johannes Müller für die Berliner und Alexander von Humboldt für die Pariser Akademie, indem er zunächst nur mittheilt, er habe durch Reizung des Nerven mittelst eines Stromes, den eine Drahtspirale bei der Oeffmmg ihres eigenen Stromes in einer andern inducirte, mit Hülfe besonderer mechanischer Vorrichtungen gefunden, dass eine messbare Zeit — und zwar 0,0014 bis 0,0020 einer Secunde — vergeht, während sich der Reiz eines momentanen elektrischen Stromes auf das Hüftgeflecht grosser Frösche, deren Nerven 50 bis 60 Millimeter lang waren, bis zum Eintritt des Schenkelnerven in den Wadenmuskel fortpflanzt. Er macht bereits du Bois einige Andeutungen über eine grössere Arbeit, die Schwankungen des Muskelstromes betreffend, die er im Frühjahr zu vollenden hofft. In (Seite 117) demselben Briefe spricht er seine Verwunderung darüber aus, dass Karsten in dem physiologischen Jahresbericht seine „Erhaltung der Kraft“ zu den physiologischen Wärmeerscheinungen gestellt hat, und erzählt unter anderem: „Einen hiesigen tapferen Mathematiker, der aber etwas confus in Bezug auf nicht mathematische Logik ist und der hierselbst die Mechanik vorträgt, habe ich nach schwerem Kampfe endlich zur Erhaltung der Kraft bekehrt, so dass dieselbe an hiesiger Universität wohl officinell werden wird. Dem Neumann ist etwas schwer anzukommen, er ist hypochondrisch, scheu, aber ein Kopf ersten Ranges.“

Wieder ist du Bois der Einzige, der jene äusserst kurz und nur zur Wahrung der Priorität abgefasste Notiz versteht: „Deine Arbeit, ich sage es mit Stolz und Trauer, ist hier in Berlin nur von mir verstanden und gewürdigt worden. Du hast die Sache nämlich, nimm es mir nicht übel, so maasslos dunkel dargestellt, dass Dein Bericht höchstens für eine kurze Anleitung zur Wiedererfindung der Methode gelten konnte. Die Folge war, dass Müller sie nicht wieder erfand, und die Akademiker nach seinem Vortrage sich vorstellten, Du hättest die Zeit, die auf den Vorgang im Muskel verfliesst, nicht zu eliminiren gewusst. Ich musste sie nach einander, Dove, Magnus, endlich Müller selbst, der gar nicht daran wollte, aufklären. In der Gesellschaft trug ich es vor, und es war wenigstens diese Schwierigkeit nicht vorhanden. Humboldt aber war ganz depaysirt und weigerte sich, Deine Schrift nach Paris zu schicken, worauf ich mich erbot, sie zur Verständlichkeit umzuarbeiten. Ich habe dies nun auf meine Verantwortung gethan, Du wirst bemerken, dass ich nicht ein einziges Detail zugesetzt, sondern mich streng an das von Dir Gegebene gehalten, dies aber inductorisch entwickelt habe. Die Anmerkung über die Geschwindigkeit in der Secunde ist nicht von mir, sondern von Humboldt.“ Und schliesslich spricht du Bois den Wunsch aus, dass Helmholtz bei seinen Untersuchungen bleibe, „denn (Seite 118) der Zug von Versuchen, in dem Du Dich befindest, ist ausnehmend glücklich; thue mir den Gefallen und bleib nun einmal consequent dabei; wir arbeiten nun einander ordentlich in die Hände, und so kann etwas zu Stande kommen.“

A. v. Humboldt sprach schon am 12. Februar 1850 Helmholtz seinen Dank für die Zusendung der Arbeit aus: „Es gehört Ihr Scharfsinn und Ihr Talent im Experimentiren mit den feinsten Vorrichtungen dazu, um Zeittheile zu messen, in denen die Nervenwirkung sich fortpflanzt. Sie werden mir und unserem gemeinschaftlichen Freunde du Bois verzeihen, wenn durch eine neue Abschrift er Einiges sprachlich richtiger und deutlicher gemacht, ohne im geringsten gewagt zu haben, zuzusetzen oder den Sinn zu verändern. Ich habe sogleich den Aufsatz durch die hiesige französische Gesandtschaft (Mr. de Persigny) mit einem sehr empfehlenden Briefe an Mr. Arago mit der Bitte gesandt, ihn bald der Akademie mitzutheilen und in die Comptes rendus einzurücken. Eine so merkwürdige Entdeckung spricht durch das Erstaunen, das sie erregt. An Verlängerung des Weges, wie bei den terrestrischen Fizeau'schen Versuchen für Geschwindigkeit des Lichtes ist wohl nicht zu denken, weil unmittelbarer Uebergang in einen nahen Muskel nothwendig ist. . . . Wenn man 80 Jahr alt ist, wird man eilig in der Neugierde.“

Dass diese kurze Mittheilung von Helmholtz wieder bei den älteren Physiologen und Physikern auf grossen Zweifel und Widerspruch stossen musste, war nicht zu verwundern. Hatte doch noch sechs Jahre früher Johannes Müller ausdrücklich erklärt, dass wir wohl nie die Mittel gewinnen werden, die Geschwindigkeit der Nervenwirkung festzustellen, da uns die Vergleichung ungeheurer Entfernungen fehlt, aus der die Schnelligkeit einer dem Nerven in dieser Hinsicht analogen Wirkung des Lichtes berechnet werden kann; er hielt die Zeit, in welcher eine Empfindung von den äusseren Theilen auf Gehirn und Rückenmark und die (Seite 119) Rückwirkung auf die äusseren Theile durch Zuckungen erfolgt, für unendlich klein und unmessbar. Und in der That, so lange die Physiologen die Nebenwirkungen auf die Verbreitung eines imponderabeln Agens oder auf ein psychisches Princip zurückführen zu müssen meinten, musste es unglaublich erscheinen, dass die Geschwindigkeit dieses Stromes innerhalb der kurzen Entfernungen des thierischen Körpers messbar sein sollte; aber die Untersuchungen von du Bois hatten es für Helmholtz mehr als wahrscheinlich gemacht, dass die Fortleitung einer Nervenreizung durch eine veränderte Anordnung der Molecüle wesentlich bedingt ist, und er musste schon daraus vermuthen, dass die Geschwindigkeit der Leitung messbar und sogar sehr mässig ist, da es sich um Molecularwirkungen ponderabler Körper handelte.

So ordneten sich auch diese Untersuchungen in die Kette der Gedanken und Anschauungen von Helmholtz ein, die fern von jeder metaphysischen Speculation nur auf die Ermittelung von Thatsachen gerichtet waren. Während nun gegen das Princip der Erhaltung der Kraft, welches ja auf demselben Gedankenfundamente erwachsen, die Gegner der Naturphilosophie sich erhoben, weil sie in dem Princip nur ein philosophisches Gedankenspiel ohne streng wissenschaftliche Basis erblickten, ist es interessant zu sehen, dass jetzt die streng physiologisch-physikalische Arbeit die Bedenken und Zweifel nicht nur der Physiologen, sondern auch der Naturphilosophen hervorruft, welche letztere Gedanken und körperliche Affecte zeitlich nicht zu trennen vermochten.

Man braucht sich zur Erklärung dieser Gegnerschaft eben nur die damals herrschenden Anschauungen über das Verhältniss der Naturwissenschaften zu einander, speciell der Physiologie zur Physik zu vergegenwärtigen; Helmholtz erzählt selbst, dass in jener Zeit ein durch bedeutende literarische Thätigkeit berühmter und als Redner und geistreicher Mann gefeierter Professor der Physiologie bei Gelegenheit eines Streites über die Bilder im Auge dem Physiker, (Seite 120) welcher ihn aufforderte, zu ihm zu kommen und den Versuch zu sehen, über dieses Ansinnen entrüstet geantwortet habe, „ein Physiologe habe mit Versuchen nichts zu thun, die seien gut für den Physiker“; und dass ein Professor der Arzneimittellehre und Reorganisator der Universitäten, welcher Helmholtz bestimmen wollte, die Physiologie zu theilen, den eigentlich gedanklichen Theil selbst vorzutragen und die niedere experimentelle Seite einem Collegen zu überlassen, alle weiteren Versuche bei ihm aufgab, als dieser ihm erwiderte, er selbst betrachte das Experiment als die eigentliche Basis der Wissenschaft.

Nachdem sich endlich Johannes Müller und A. v. Humboldt, noch bevor er die ausführliche Ausarbeitung seiner Untersuchungen veröffentlichen konnte, von der Richtigkeit seiner Versuche überzeugt hatten, macht er seinem Vater am 29. März eine kurze Mittheilung darüber:

„Ich bin gegenwärtig wieder in Ferien für sechs Wochen und benutze diese Zeit, um meinen Fund in Betreff der Fortpflanzung der Nerven Wirkungen fortzuführen, auf möglichst viele Fälle auszudehnen und zur Veröffentlichung fertig zu machen. Ich habe seit meiner ersten Sendung an die Berliner und Pariser Akademie die Sache bei Menschen studirt und es auch hier möglich gefunden, nachzuweisen, dass die Zeit, ehe eine Nachricht von einem Körpertheile her nach dem Gehirn kommt (z. B. 1/30 Secunde vom grossen Zehen), desto grösser ist, je entfernter derselbe ist, und dass auch wiederum eine Zeit vergeht, während welcher sich der Bewegung erregende Vorgang vom Gehirn durch den Nerven bis zu einem Muskel hin fortpflanzt. Ich denke während dieser Ferien noch mit den Versuchen und der Ausarbeitung fertig zu wenden. Meine erste Mittheilung ist in den Monatsberichten der Berliner und den Comptes rendus der Pariser Akademie gedruckt, und ich habe darüber zwei sehr anerkennende Schreiben von J. Müller und A. v. Humboldt empfangen. Ich rechne mir diesen Fund als grosses Glück (Seite 121) an, er wird nicht verfehlen, Aufmerksamkeit zu erregen. Dass es auch in Paris beachtet wird, wenn auch vorläufig nicht mit sehr gutem Willen, davon zeugt ein spottender Artikel im „National“, dessen Berichterstatter schon den du Bois einmal gründlich durchgehechelt hat. Ich habe leider hier den Artikel noch nicht bekommen können. Beunruhigt Euch übrigens nicht darüber; eine gutwillige Aufnahme solcher Sachen ist von Deutschen bei den Franzosen einmal nicht möglich, und der vorläufige Zweck ist erreicht, sie überhaupt darauf aufmerksam zu machen. Du Bois ist in diesen Ferien in Paris, um den dortigen Akademikern seine eigenen Sachen vorzumachen, und schreibt mir, er würde sie auch über die meinigen aufklären. Das ist eine Aufgabe, für welche er viel Geschick hat, und ich zweifle nicht, dass er die deutschen Gelehrten bei den Franzosen in ein gehörig imponirendes Licht zu stellen suchen wird. Königsberg ist übrigens ein prächtiger Ort zum Arbeiten, weil er eben nicht viel Verlockungen zu etwas anderm darbietet und doch das geistige Interesse hinreichend rege erhält. Die Apparate, welche ich zu meinen bisherigen Arbeiten gebraucht habe, sind mir hier auch ganz gut angefertigt worden.“

Aber schon wenige Tage darauf empfängt Helmholtz in einem überaus liebevollen Briefe vom 3. April die leisen Zweifel des väterlichen Philosophen, der — wenn auch vor der Autorität des Sohnes sich beugend — die Resultate dieser Untersuchungen nur schwer sich klar zu machen vermag:

„Uebrigens habe ich mich diesen Winter wahrhaft geistig wieder gestärkt, indem ich angeregt durch meine Lehrstunden nichts gelesen habe als Goethe, Shakespeare, Fichte und Calderon, über den mir jetzt erst, nachdem ich alle vier Uebersetzungen hinter einander gelesen, die wahre Einsicht aufgegangen ist. Ich habe vor Calderon einen ungeheuren Respect bekommen sowohl in Hinsicht der Tiefe und des heiligen Ernstes, als der Gluth seiner (Seite 122) Dramen, in welcher Beziehung sie unter den Modernen fast allein der Religionsstärke des antiken Drama nahekommen. Sein schroffster Gegensatz ist Goethe, dem das Unbedeutendste zu einem Schönen wird und dem dadurch Natur und Geschichte zu einem anmuthig heitern Himmelstage werden, dessen Harmonie von keiner heftigen Leidenschaft gestört, sondern aus Schmerz und Freude stets zu neuen heitern Melodien sich entwickelt. Daneben der gewaltig praktische Shakespeare und der weise, die Ideen-Gestaltung des Lebens mächtig regierende Fichte, diese vier waren es allein, die mir genügten, nach den politischen Aufregungen und Schmerzen von 1848/49, so dass ich ihrer Herr wurde und mich wirklich von aller Politik zu befreien vermochte. Was nun Deine Untersuchungen betrifft, so schien mir anfangs deren Resultat etwas wunderlich, da ich Gedanken und körperlichen Affect nicht als ein Nacheinander, sondern als ein Zugleich ansehe, als eine Einheit des lebendigen Actes, der erst in der Reflexion zu einem körperlichen und geistigen wird: und ich konnte mich ebenso wenig damit abfinden, als dass ein zu Abraham's Zeiten verschwundener Stern noch heute sichtbar sein soll. Indessen habe ich mich überzeugt, dass, was in äussere Erscheinung tritt, auch nothwendig wie dem Raume so der Zeit, also der räumlichen Gewalt oder Bewegung anheim fällt, und dass es nur die Relativität unseres Sinnesvermögens ist, dass uns etwas, so wie überhaupt gross oder klein, so auch unendlich gross oder klein erscheint, und wir so schwer fassen können, dass selbst aus unendlich Kleinem unendlich Grosses werden könne. Die Kühnheit des Geistes besteht aber darin, nachmessen zu wollen, was ausser unserer Apperception zu liegen scheint; und das mag es wohl am Ende sein, was die Franzosen choquirt. 1/30 Sekunde ist freilich noch eine ganz vorstellbare Grösse und liesse sich durch 30malige Wiederholung am Ende selbst durch eine Sekundenuhr darstellen. Ich bin sehr begierig auf das zusammenhängende Resultat (Seite 123) und wünsche nur, dass die Darstellung nicht wieder so gelehrt wissenschaftlich werde, dass ein armer Laie davon nichts versteht. Uebrigens wünsche ich sehr, dass du Bois in Paris durchdringen möge, da die Deutschen den Humboldt nicht mehr in Paris haben und die Frankfurter den Respect vor deutschen Gelehrten etwas erschüttert zu haben scheinen.“

Helmholtz, der nicht wünschen konnte, dass sein Vater nur auf die wissenschaftliche Anerkennung Anderer hin, aber sichtlich im Widerstreit mit der eigenen inneren Ueberzeugung seinen Resultaten Glauben schenke, unterlässt es nicht, denselben über die Bedeutung seiner Arbeit aufzuklären und sucht dessen Zweifel in klarer und lichtvoller Darstellung zu beseitigen:

„Ich lege Dir hier noch einen besondern Zettel bei, um Deine Zweifel wegen der Fortpflanzungsgeschwindigkeit in den Nerven möglichst zu beseitigen. Du musst bedenken, dass die Wechselwirkung geistiger und körperlicher Acte immer erst im Gehirn stattfindet, und dass das Bewusstsein, die geistige Thätigkeit, mit der Fortführung der Nachricht von der Haut, der Nervenhaut des Auges oder dem Ohr bis zum Gehirn hin nichts zu thun hat, dass für den Geist diese Fortpflanzung innerhalb des Körpers ebenso gut etwas Aeusseres ist, wie die Fortleitung des Schalles von der Stelle, wo er entsteht, bis zum Ohre hin. So wie es hier die elastischen Kräfte der Luft sind, welche die Erschütterung des tönenden Körpers bis zu dem Nervenapparate des Ohres tragen, sind es nachher Bewegungen der kleinsten materiellen Theile der Nervensubstanz, welche sich vom Ende des Nerven bis zu seinem Ursprung im Gehirn fortpflanzen, welche hier erst wahrgenommen und zur Nachricht für das Bewüsstsein werden. Dass die Geschwindigkeit dieser Fortpflanzung in den Nerven keine so ungeheure sein würde, als die des Lichts und der Electricität, liess sich vermuthen, seitdem man durch die Versuche von du Bois die Electricitätsentwicklung (Seite 124) kannte, welche bei der Fortpflanzung einer Nachricht, eines Reizes, durch den Nerven eintritt, weil man daraus schliessen musste, dass die materiellen Theile des Nerven dabei ihre Lage ändern. Die Fortpflanzung ist aber in der That langsam genug, langsamer als der Schall. Dass uns die Zeitdauer dieser Fortpflanzung so ungeheuer klein vorkommt, liegt daran, dass wir eben nicht schneller wahrnehmen können, als unser Nervensystem arbeitet, und uns deshalb die Zeiträume, welche dieses zu seinen Verrichtungen gebraucht, unwahrnehmbar klein sind. Wie ungenau übrigens unsere Zeitwahrnehmungen sind, wenn sie auf der Vergleichung der Wahrnehmungen zweier verschiedenen Sinnesorgane beruhen, hat sich in der neueren Zeit auf überraschende Weise herausgestellt. So variiren einzelne beobachtende Astronomen in der Angabe des Augenblicks, in welchem ein Stern am Faden ihres Fernrohrs vorübergegangen ist, um mehr als eine ganze Sekunde von einander, während die Angaben eines jeden Einzelnen allein genommen meist bis auf 1/10 Sekunde bei öfterer Wiederholung harmoniren. Noch auffallender ist es, dass es unmöglich ist zu bestimmen, ob die Schläge zweier leise gehenden Taschenuhren zusammentreffen oder zwischen einander fallen, wenn man jede Uhr an ein anderes Ohr hält, während nichts leichter ist, als diese Bestimmung, so bald man sie beide mit demselben Ohr hört. Ich habe mir dazu die Vorstellungsweise zurechtgemacht, dass man zwei Wahrnehmungen verschiedener Organe nur dann nach ihrer Zeitfolge bestimmen kann, wenn man dazwischen Zeit hat sich zu besinnen: „jetzt hast du das eine wahrgenommen, aber noch nicht das andere“. Unsere Gedanken sind aber nicht so windschnell, wie man gewöhnlich glaubt, das habe ich auch bei meinen Versuchen erfahren, bei welchen ich von irgend einer Hautstelle her einen electrischen Schlag empfand und mir Mühe gab, so schnell wie möglich hinterher die Hand in Bewegung zu setzen, und die Zeit mass zwischen dem Schlage und dem ersten Anfang (Seite 125) der Handbewegung. Bei energischer Aufmerksamkeit, wenn der Wille gleichsam bereit stand, so wie er die Nachricht empfing, zu handeln, verweilte die Nachricht etwa nur 1/10 Sekunde im Gehirn und wurde in dieser Zeit mit so maschinenmässiger Regelmässigkeit auf die Bewegungsnerven als Bewegungsreiz übertragen, dass ich glaube, die genannte Zeit wird hier nur durch die mechanisch nothwendigen Molecularvorgänge absorbirt; war aber die Aufmerksamkeit schon ermüdet, musste nach Empfang der Nachricht erst der Gedanke gefasst werden, was geschehen sollte, so war eine viel längere und ganz unregelmässige Zeit nöthig. Ich bin mit meiner Ausarbeitung der Versuche an Fröschen noch nicht ganz fertig, weil ich noch mancherlei Versuche machen musste, die Apparate zeichnen etc., denke aber in den Pfingstferien damit zu Ende zu kommen. Die Versuche an Menschen muss ich dann noch mehr variiren und vervielfältigen, ehe ich sie später veröffentlichen kann ....“

In der That stellt Helmholtz während der Ausarbeitung seiner Froschversuche an sich selbst und anderen Menschen Zeitmessungen an, welche ihm die Fortpflanzungsgeschwindigkeit in den motorischen und sensibeln Fasern des Menschen auf 50 bis 60m festzustellen scheinen, ersucht aber Ende April du Bois, zunächst den ersten Theil seiner Arbeit über die Messung der Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Reizung in den motorischen Nerven der Frösche für das Müller'sche Archiv anzumelden.

Mit der am 26. Juli erfolgten Uebersendung derselben verbindet er die Mittheilung, „dass er Vater von einem wohlgebildeten und gesunden Mägdelein geworden ist“, dass aber von neuen Entdeckungen höchstens ein Theorem zu melden sei über die Ansteigungsform elektrischer Ströme, welche eine Spirale durchlaufen, und in dieser entweder nur auf sich selbst oder auf ein beliebig verbundenes System anderer Spiralen inducirend einwirken — Untersuchungen, die ihn jedoch noch fast ein Jahr beschäftigen, bevor er (Seite 126) sie zum Abschluss bringen kann. Während der noch unverheirathete du Bois in seinem langen wissenschaftlichen Antwortschreiben sich mit der frohen Anzeige von der Geburt des ersten Kindes seines Freundes mit den wenigen Worten abfindet, „ich gratulire zu Deinem Sprössling, grüsse Deine Frau“, senden die Eltern Worte von wahrhaft rührender Liebe, „und gewiss Ihr seid beide so edel, dass Ihr alle Tiefen auch dieser Liebe durchwandeln und aller der Seligkeit Euch theilhaftig machen werdet, die in ihr leuchtet“. Am 22. Juli fand die Taufe von Katharina Caroline Julie Betty Helmholtz statt. Aber die Aufregungen dieser Zeit und die angestrengte geistige Arbeit ziehen ihm heftige Anfälle von Kopfschmerzen zu, und er geht in Gemeinschaft mit Kirchhoff, der eben nach Breslau berufen war, auf einige Zeit an die See, um „die ungesunden Rückstände der Arbeit für eine Weile vollständig aus dem Kopfe auszukehren“.

Inzwischen hatte du Bois am 19. Juli 1850 der physikalischen Gesellschaft die umfangreiche Arbeit von Helmholtz: „Messungen über den zeitlichen Verlauf der Zuckung animalischer Muskeln und die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Reizung in den Nerven“ vorgelegt, deren Druck auch sogleich im Müller'schen Archiv unter des Freundes Aufsicht begann, auf dessen Rath Helmholtz sich bestimmen liess, zum besseren Verständniss „für halbe Kenner des Ohm'schen Gesetzes“ eine von demselben vorgeschlagene Aenderung anzunehmen. Der Bericht des durch seine Aufnahme in Paris ein wenig gereizten du Bois, dessen Vortrag über das Helmholtz'sche Princip zur Messung der Fortpflanzungsgeschwindigkeit des Reizes in Nerven in der Akademie nicht sehr gnädig beurtheilt worden, hätte Helmholtz überzeugen müssen, dass die Neuheit der Untersuchungen eine ausführliche und klare Darstellung derselben erheische. Der Druck der Arbeit war schon im December beendet, und noch in demselben Monat hielt er (Seite 127) in der physikalisch-ökonomischen Gesellschaft in Königsberg, die ihn noch in demselben Jahre zu ihrem Director, zwei Jahre später zu ihrem Präsidenten wählte, einen, denselben Gegenstand behandelnden, allgemeiner verständlichen Vortrag: „Ueber die Methode, kleinste Zeittheile zu messen, und ihre Anwendung für physiologische Zwecke“

In dem ersten Theile jener grossen Arbeit — der zweite Theil derselben erschien erst zwei Jahre später — „durch welche der Physiologie ein völlig neues und unabsehbares Untersuchungsgebiet eröffnet wurde“, stellte sich Helmholtz zunächst die Aufgabe, die Vorgänge bei einer einfachen Muskelzuckung zu studiren, welche auf eine Reizung von verschwindend kleiner Dauer erfolgt, indem der Muskel, um eine Arbeit zu leisten, zwischen Ruhe und Bewegung wechseln muss und die Grösse seiner Arbeit wesentlich von der Geschwindigkeit des Wechsels abhängt. Die hier ermittelten Thatsachen bahnen ihm zugleich den Weg, die Frage über die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Reizung in den Nerven zu entscheiden. Schon seine ersten Versuche im Anfange des Jahres 1849 hatten ihn aus den Curven, welche die Erhebung eines Gewichtes als Ordinaten der Zeit angaben, schliessen lassen, dass die Kraft des Muskels nicht unmittelbar nach der Reizung am stärksten sei, sondern einige Zeit hindurch steige und dann wieder falle. Um aber diese Thatsache in evidenter Weise zeigen und zugleich die Frage beantworten zu können, in welchen Zeiträumen und Stadien die mechanische Aeusserung der Thätigkeit, die Energie des Muskels, nach momentaner Reizung steigt und sinkt, hatte er schon zu seinen ersten Versuchen einen äusserst sinnreichen Apparat construirt. Er brachte am Muskel einen Metallring, an diesem eine Schale mit geringem Gewicht an, und unterstützte den obersten Theil des Ringes so durch einen Metallstift, dass derselbe bei grösserer Belastung nicht weiter sinken konnte; wird nun ein Strom geschlossen, dessen einer Theil durch den Muskel, (Seite 128) dessen anderer durch ein Galvanometer, Stift und Ring geht, so wird derselbe im Galvanometer durch die Contraction des Muskels und die somit veranlasste Erhebung des Ringes vom Stift wieder unterbrochen werden, und man wird durch Auflegen von Gewichten auf die Schale die elastische Kraft im Ruhezustande mit derjenigen nach der Reizung vergleichen können. Um aber die sehr schnelle Muskelzuckung in ihren Einzelstadien zu verfolgen und die Fortleitung der Erregung im Nerven zu untersuchen, brauchte Helmholtz neue Methoden zur Messung kleinster Zeittheilchen, und lieferte durch Auf findung derselben der Physiologie wiederum neue Handhaben für ihre feinen und schwierigen Untersuchungen.

Es hatte sich schon früher bei den verschiedenartigsten Beobachtungen in der Astronomie und Physik die Nothwendigkeit ergeben, Methoden zu ersinnen, durch welche es möglich ist, ebenso kleine Theile einer Zeitsecunde zu messen, als es die waren, durch welche wir mit Hülfe der mächtigsten Mikroskope unser kleinstes Längenmaass zerlegen, und es gab, hauptsächlich durch die Bedürfnisse der Artillerie hervorgerufen, dafür bereits zwei in ihren Principien wesentlich von einander verschiedene Methoden. Die eine, besonders von Werner Siemens vervollkommnete, beruht darauf, dass die Zeitunterschiede in Raumunterschiede verwandelt werden, während die andere die mechanische Wirkung bestimmt, welche während der zu messenden Zeit eine Kraft von bestimmter Intensität hervorbringt, und aus welcher die Zeit dann berechnet werden kann. Dieses zweite von Pouillet im Jahre 1844 erfundene Verfahren, welches darauf beruhte, die kürzesten Zeiträume durch den Ausschlag zu messen, welchen ein elektrischer Stromstoss einer Galvanometernadel ertheilt, vervollkommnete zunächst Helmholtz für physiologische Zwecke dadurch, dass er die elektromagnetischen Messungen mittelst eines am Magneten befestigten Spiegels in der von Gauß und Weber (Seite 129) eingeführten Weise anstellte und den constanten Factor zur Verwandlung der Differenzen der Schwingungsbögen in die entsprechenden Zeitunterschiede durch ein theoretisch streng begründetes Verfahren ermittelte. Und nun stellte er sich, zuerst noch von den einfachsten Verhältnissen ausgehend, die so überaus schwierige Frage, ob bei der Beförderung einer Nachricht, welche von den entfernten Enden der empfindenden Hautnerven oder den Nervenausbreitungen in den Sinnesorganen nach dem Gehirne hineilt, oder einer solchen, welche der Wille vom Gehirn durch die motorischen Nervenfäden zu den Muskeln hinsendet, eine angebbare Zeit vergeht. Er fand zunächst am Frosch durch unendlich zahlreiche, äusserst mühsame, mit den feinsten experimentellen Mitteln angestellte Untersuchungen, dass, wenn ein animalischer Muskel oder sein Nerv durch einen momentanen elektrischen Schlag gereizt wird, eine kurze Zeit, ungefähr 1/100 Secunde, verfliesst, während welcher die elastische Spannung desselben sich nicht merklich ändert — das sogenannte Latenzstadium der Reizung —, dass aber die Muskelspannung dann allmählich zu einem Maximum steigt, um ebenso allmählich wieder zu sinken. Werden ferner zwei verschiedene Stellen eines motorischen Nerven von einem momentanen Reiz getroffen, und ist die Grösse der Reizung für beide gleich, so ist es auch der zeitliche Verlauf der darauf erfolgenden Muskelzuckung, nur treten sämmtliche Stadien derselben um ein Gleiches später ein, wenn der Reiz die entferntere Stelle des Nerven getroffen hat; die Fortpflanzung der Reizung durch den Nerven bis zum Muskel hin bedarf also einer messbaren Zeit, und zwar ergab sich die Geschwindigkeit der Nervenleitung über zehnmal kleiner als die Schallgeschwindigkeit in der Luft. „Glücklicherweise“, sagt er, „sind die Strecken kurz, welche unsere Sinneswahrnehmungen zu durchlaufen haben, ehe sie zum Gehirn kommen, sonst würden wir mit unserem Bewusstsein weit hinter der Gegenwart und selbst hinter den Schallwahrnehmungen herhinken.“

(Seite 130) Aber Helmholtz begnügte sich nicht mit der Verbesserung der Pouillet'schen Methode zur Messung kleiner Zeittheile, um seine Versuche darauf zu basiren; er theilte schon Ende August du Bois mit, dass er sich einen Apparat mit rotirendem Cylinder erbauen lasse, mit dem er bereits die ersten Probeversuche angestellt habe, und der wohl auch für die analogen Untersuchungen bei warmblütigen Thieren zu brauchen sein werde. Mit diesem Apparate greift er nun seine Untersuchungen von Neuem an, die aber erst nach zwei Jahren nebst der Construction des rotirenden Cylinders, dessen Princip er schon in der oben erwähnten populären Vorlesung auseinandergesetzt, zur Veröffentlichung gelangen.

Zwei Stellen dieser Vorlesung veranlassen eine interessante Correspondenz der Freunde. Helmholtz verglich in einem jetzt so geläufigen Bilde die Nervenfäden mit den elektrischen Telegraphendrähten, welche einmal augenblicklich jede Nachricht von den äussersten Grenzen her dem regierenden Centrum zuführen und dann ebenso dessen Willensmeinung jedem einzelnen Theile des Ganzen zubringen, um daselbst in Ausführung zu kommen, und am Schlusse seines Vertrages sucht er die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Reizung in den Nerven anschaulich zu machen, indem er anführt, dass ein ordentlicher Wallfisch vielleicht erst nach einer Secunde die Verletzung seines Schwanzes erfährt, und dass er eine zweite Secunde braucht, um dem Schwanze zu befehlen, er solle sich wehren. Du Bois übersendet nun Helmholtz am 18. März 1851 einen Vortrag, welchen er in der Singakademie „vor der bekannten Versammlung aus den nicht arbeitenden Klassen“ gehalten, und schreibt dazu: „Dein Erstaunen beim Lesen desselben wird wohl nicht viel geringer sein als meines beim Lesen Deines Vertrages. Es findet sich, dass wir uns in zwei Bildern, und in verschiedenen anderen Punkten dermassen, ja bis in's Einzelne der Ausdrücke begegnet (Seite 131) sind, dass wohl kein Fremder mich vom Verdacht des Plagiates freisprechen würde. Mir ist diese Conformitat in den Bewegungen unserer Gehirnmolekeln äusserst schmeichelhaft. Gieb meine Rede Deiner angenehmen Hausfrau zu lesen. Die Damen sind empört darüber gewesen, dass ich ihnen verständlich gewesen sei, was ich von ihnen dächte? von mir hätte man etwas Wissenschaftlicheres erwartet“ Er entwickelt ihm dann die Schwierigkeiten, die sich seinen Versuchen entgegenstellen, ein Instrument zu bauen, welches durch einen Muskel derartig in Bewegung gesetzt wird, dass es während eines gegebenen Abschnitts der Zusammenziehung die Kette schliesst, und endet mit den Worten: „Schreibe mir, welche Lawinen von Gedanken dieser Maulthierschellenklang in Deinem Gehirn ausgelöst hat.“ Nachdem ihm Helmholtz in seiner Antwort vom 11. April seinen Glückwunsch zur ordentlichen Mitgliedschaft der Akademie ausgesprochen, fährt er fort:

„Betreffs der Uebereinstimmungen in unseren Vorlesungen überlasse ich Dir die Priorität der elektrischen Telegraphen, denn ich habe schon vor langer Zeit einmal von Dir die Hypothese gehört, die Ganglien verträten die Zwischenstationen elektrischer Telegraphen in den Nervenleitungen. In der Geschichte mit den Wallfischen aber ist die Wahrheit so fabelhaft, dass Niemand sie glauben will. Wir sehen, dass man betreffs der Annahme von Plagiaten sich sehr irren kann . . . Meine Frau hat sich zur Partei derjenigen geschlagen, welche behaupten, Du hättest Dich zu verständlich gemacht. Es ist unmöglich, bei solchen Gelegenheiten es Allen recht zu machen, jedenfalls aber wohl dankbarer, es den Zuhörern nicht zu leicht zu machen, und für den grossen Haufen einige Räthsel stehen zu lassen, deren Verständniss vielleicht nur einer kleinen Zahl der Zuhörerschaft aufgeht.“

Freilich theilte die letztere Ansicht sein Vater nicht, dem er am 27. Februar seinen Vortrag überschickt hatte, und der am 19. April an du Bois schrieb:

(Seite 132) „Geehrter Herr Doctor! Meinen herzlichsten Dank für die Zusendung Ihrer interessanten Vorlesung im wissenschaftlichen Verein. Ich habe mich besonders über die Klarheit der Darstellung gefreut, die es auch dem Laien gestattet, einige Blicke in die Geheimnisse Ihrer Wissenschaft zu thun, und welche ihm durch Witz und poetischen Schmuck das sonst so trocken Erscheinende schmackhaft macht. Es ist schön von Ihnen, dass die ernsten vielen Aufgaben Ihrer Studien Ihnen noch Müsse gestatten, auch an den Dichtern sich zu erfrischen, und durch Poesie und Kunst das Realistische der Naturstudien zu ergänzen. Ich wünschte meinem Sohne wohl etwas von dieser Ihrer Kunst; denn der kann wirklich, selbst in der Vorlesung, die er vor einer Gesellschaft in Königsberg gelesen hat, so wenig aus seiner wissenschaftlichen Strenge der Darstellung heraus, dass ich allen Respect vor einer Gesellschaft haben muss, die denselben verstanden und dankbar aufgenommen hat, da ich gestehen muss, dass mir beim Lesen doch vieles unklar geblieben ist.“

Uebrigens wollte Helmholtz in seiner Bescheidenheit selbst nicht den der Form und dem Inhalte nach meisterhaften Vortrag als Muster einer populären Vorlesung gelten lassen und hatte schon bei der Uebersendung des Vortrages seinem Vater geschrieben:

„… vor zwei Tagen habe ich an Dich zwei Exemplare meines Vertrags in der hiesigen physikalischen Gesellschaft unter Kreuzband abgeschickt, die Du wohl schon bekommen haben wirst; eines ist für Dich, das andere für den Regimentsarzt Puhlmann bestimmt. Leider habe ich die Abdrücke aus Müller's Archiv noch nicht erhalten, obgleich die bis jetzt noch fehlende Kupfertafel fertig sein soll, sonst würde ich sie mitgeschickt haben, Du würdest dadurch einiges besser verstehen. Als Stilprobe bitte ich aber den übersandten Aufsatz nicht gelten zu lassen, da er so schnell für die Vorlesung hingeschrieben ist, bei welcher (Seite 133) man leicht durch die Nuancirung des Vertrags über alle Härten hinweggleitet; nachher hatte ich keine Lust mehr, ihn auszufeilen, als er zum Druck verlangt wurde. Ich hatte neue Untersuchungen vor, und schon bis zum Ueberdruss an den alten geschrieben. Mit dem Stil des Aufsatzes im Archive, hoffe ich, sollst Du zufrieden sein. Für den etwaigen Vortrag in der Litteraria corrigire nur, soviel Du irgend willst.“

Erfindung des Augenspiegels

Während nun Helmholtz all' diese grossen und fundamentalen Untersuchungen durchführte, welche sämmtlich das Ziel hatten, eine im höheren Sinne mechanistische Weltanschauung zu begründen und aufzubauen, gelang ihm ganz ausser Zusammenhang mit diesen Arbeiten als Frucht seiner Vorlesungen am Ende desselben Jahres 1850 die Erfindung des Augenspiegels, welche den Augenärzten „eine neue Welt erschlossen“, und neben der Lehre von der Erhaltung der Kraft wohl am meisten dazu beigetragen hat, seinen Ruhm zu begründen und zu verbreiten. „Die sehr nützliche Nöthigung, der jeder Universitätslehrer unterworfen ist, alljährlich den ganzen Umfang seiner Wissenschaft so vorzutragen, dass auch die hellen Köpfe seiner Zuhörer überzeugt und befriedigt werden“, hat nach seinem eigenen Geständniss vornehmlich diese werthvolle Frucht gezeitigt.

Nachdem er seine Erfindung der physikalischen Gesellschaft in Berlin am 6. December mitgetheilt, schreibt er am 17. December 1850 seinem Vater:

„Betreffs der Zeitmessungen habe ich bis jetzt noch keine neueren Resultate, sondern die Zeit mit Construction anderer Apparate, und nöthigen Vorarbeiten hingebracht. Ausserdem habe ich aber bei Gelegenheit meiner Vorträge über Physiologie der Sinnesorgane eine Erfindung gemacht, welche möglicher Weise für die Augenheilkunde von dem aller bedeutendsten Nutzen sein kann. Sie lag eigentlich so auf der Hand, erforderte weiter keine Kenntnisse, als was ich auf dem Gymnasium von Optik gelernt hatte, dass (Seite 134) es mir jetzt lächerlich vorkommt, wie andere Leute und ich selbst so vernagelt sein konnten, sie nicht zu finden. Es ist nämlich eine Combination von Gläsern, wodurch es möglich wird, den dunkeln, Hintergrund des Auges durch die Pupille hindurch zu beleuchten, und zwar ohne ein blendendes Licht anzuwenden, und gleichzeitig alle Einzelheiten der Netzhaut genau zu sehen, sogar genauer, als man die äusseren Theile des Auges ohne Vergrösserungen sieht, weil die durchsichtigen Theile des Auges dabei die Stelle einer Lupe von 20maliger Vergrösserung für die Netzhaut vertreten. Man sieht die Blutgefässe auf das zierlichste, Arterien und Venen verzweigt, den Eintritt des Sehnerven in das Auge u. s. w. Bis jetzt war eine Reihe der wichtigsten Augenkrankheiten, zusammengefasst unter dem Namen „schwarzer Staar“, eine Terra incognita, weil man über die Veränderungen im Auge weder im Leben, noch selbst meistens im Tode etwas erfuhr. Durch meine Erfindung wird die speciellste Untersuchung der inneren Gebilde des Auges möglich. Ich habe dieselbe als ein sehr vorsichtig zu behandelndes Ei des Columbus sogleich in der physikalischen Gesellschaft in Berlin als mein Eigenthum proclamiren lassen, lasse gegenwärtig ein solches Instrument arbeiten, welches besser und bequemer ist, als meine bisherigen Pappklebereien, werde dann wo möglich mit unserem hiesigen Hauptaugenarzte Untersuchungen an Kranken anstellen, und dann die Sache veröffentlichen.“

Die Wichtigkeit dieser Erfindung, die Helmholtz später in seiner Bescheidenheit eine Entdeckung nannte, leuchtet dem Vater sogleich ein:

„Was Deine wissenschaftlichen Arbeiten betrifft, so freue ich mich, lieber Hermann, dass Du selbst mit ihnen zufrieden bist; dass der Abdruck in Müller's Journal so zerstückt und falsch gerathen ist, wie ich gehört habe, ist freilich zu beklagen, desto besser aber, dass Du jetzt Deine Abhandlung selbständig unter Deinem Namen herausgeben (Seite 135) willst, und ich warte begierig darauf, besonders auch auf Deinen populären Vortrag über dieselbe, den ich durch den Regimentsarzt Puhlmann der hiesigen Litteraria mittheilen lassen werde, was mir passender erscheint, als wenn ich es thäte. Die Entdeckung über die Beobachtung des Auges wird Dir, wenn auch nicht so viel Kenntnisse voraussetzend, wahrscheinlich einen rascheren Namen schaffen, weil sie unmittelbar praktisch scheint, und es fragt sich, ob Du für das Instrument der Beobachtung Dir nicht ein Privilegium geben liessest.“

Im Anschluss drückt der nun stolz beglückte Vater seine Freude darüber aus, im nächsten Sommer seinen Sohn bei sich zu sehen, der mit seiner Familie seine Eltern besuchen will, um dann allein, nachdem er von der Regierung einen vierwöchentlichen Urlaub erhalten, die deutschen Universitäten zu besuchen und deren physiologische Institute zu besichtigen, zugleich aber auch seiner neuen Erfindung leichter Eingang zu verschaffen.

Noch in den letzten Tagen des alten Jahres meldete Helmholtz seinem Freunde Ludwig: „einen Fund, gelegentlich bei meinen Vorträgen über Physiologie der Sinne gemacht, bestehend in einer Methode, durch welche es möglich wird, die Retina des lebenden Auges zu besichtigen mit ihrem Gefässnetz, hoffe ich bald an Vierordt für sein Archiv abzuschicken“.

Da aber die Arbeit „Beschreibung eines Augenspiegels zur Untersuchung der Netzhaut im lebenden Auge“, erst im Herbst 1851 erschien, das Verständniss dieser Arbeit auch einen gewissen Umfang mathematischer und physikalischer Kenntnisse voraussetzte, so ging die Verbreitung des Augenspiegels sehr langsam von Statten, und man zögerte vielfach, ihn anzuwenden. Ein hochberühmter chirurgischer College erklärte Helmholtz, er werde das Instrument nie gebrauchen, es sei zu gefährlich, das grelle Licht in kranke Augen fallen zu lassen; ein anderer war der Ansicht, der (Seite 136) Spiegel möge für Aerzte mit schlechten Augen nützlich sein, er selbst habe sehr gute Augen und bedürfe seiner nicht.

Leider findet sich ein Briefwechsel über den Augenspiegel zwischen Helmholtz und Brücke nicht vor. In den an den Erfinder gerichteten Briefen vieler Augenärzte, darunter Arlt aus Prag, wird übereinstimmend anerkannt, dass die Entdeckung wie vom wissenschaftlichen so auch vom praktischen Standpunkte von höchstem Interesse sei, und wird der Wunsch ausgesprochen, recht bald am Krankenbette damit experimentiren zu können, zugleich aber auch das Bedauern bekannt, in der Physik und Mechanik zu wenig bewandert zu sein, um einen solchen Spiegel nach den von Helmholtz angegebenen Principien construiren zu lassen, und damit die Bitte verbunden, die Augenspiegel aus Königsberg beziehen zu dürfen.

Hochinteressant für die Geschichte der Erfindung des Augenspiegels ist aber das am 7. November 1851 an Helmholtz gerichtete Schreiben des später so berühmt gewordenen Begründers der wissenschaftlichen Ophthalmologie Graefe aus Berlin:

„Hochgeehrter Herr Professor! Entschuldigen Sie, wenn ich als Unbekannter mich brieflich an Sie wende und Ihre Güte in Betreff eines Gegenstandes in Anspruch nehme, der mich im allerhöchsten Grade interessirt. Schon im vorigen Sommer hatte ich in Wien durch Herrn Professor Brücke erfahren, dass Ihnen die Construction eines Instrumentes zur Untersuchung der Retina am lebenden Auge gelungen sei; ich hatte sogar die Freude, aus derselben Quelle einige Details über die Mittel, deren Sie sich hierbei bedient, zu vernehmen. Herr Professor Brücke war um so williger, mir diese Mittheilungen zu machen, als wir häufig über die Möglichkeit eines solchen Instrumentes mit einander gesprochen und er mir einen früheren Plan dazu mitgetheilt hatte, dessen praktische Anwendung aber an der Weise der Beleuchtung gescheitert war. Brücke hatte nämlich (Seite 137) geglaubt, die katoptrischen und dioptrischen Postulate des Apparates durch ein unter entsprechendem Winkel schief vor das beobachtete Auge angebrachtes Concavglas gleichzeitig verwirklichen zu können. Um so erfreulicher war uns die Nachricht vom Gelingen eines solchen Instrumentes, und ich erwartete mit Ungeduld die Publication, welche ich vor einigen Tagen bei meiner Rückkehr nach Berlin von einer längeren Reise so glücklich war, auf meinem Tische zu finden. Dem Studium derselben verdanke ich nicht allein das genauere Verständniss des Instrumentes, sondern auch Aufklärung über mehrere bisher verschlossene physikalische Fragen. — Da ich ferner die Augenheilkunde seit mehreren Jahren mit besonderer Vorliebe cultivire, so möchte ich möglichst bald das lang ersehnte diagnostische Mittel erproben und für die genannte Wissenschaft verwerthen. Auch habe ich meinen Londoner und Pariser Collegen, dem Dr. Bowmann [Anm: Sir William Bowman (1816-1892)] und Dr. Desmarres, im Hinblick auf die bevorstehende Veröffentlichung versprochen, sofort ein Exemplar des Apparates zu übersenden. Besonders Ersterer, welcher sich für die wissenschaftliche Cultur seines Feldes sehr interessirt und der an Moorfield's Hospital einen sehr ausgedehnten praktischen Wirkungskreis hat, wird einem möglichst baldigen Empfang sehnlich entgegensehen. — An den hiesigen Mechanikus Dörfel habe ich mich schon vor einigen Tagen gewandt und ihn mit der Anfertigung einiger Instrumente beauftragt. Da aber bis zu deren Vollendung einige Zeit verstreichen wird, und ich ausserdem wünsche, eins von Ihren Königsberger Instrumenten mit den hiesigen vergleichen zu können, so stelle ich an Sie, hochgeehrter Herr Professor, die ergebene Bitte, Ihren dortigen Optiker beauftragen zu wollen, möglichst bald ein oder zwei genau nach Ihren Angaben verfertigte Augenspiegel nach Berlin auf meine Adresse ... zu schicken. . . . Hierdurch allein erbringe ich die Sicherheit, ein Instrument in meinen Händen zu haben, welches die bestmögliche Beleuchtung darbietet, (Seite 138) und kann dann beurtheilen, ob die hiesigen an Präcision zu wünschen lassen oder nicht; wenn ich dagegen den erreichbaren Grad der Vollkommenheit nicht vor Augen haben könnte, so würde ich vielleicht in den entscheidenden Stücken der Anfertigung auf unnütze Weise nach Fehlerquellen suchen und so jedenfalls die Erfüllung meines Wunsches verzögern. In der Zuversicht, dass Sie, hochgeehrter Herr Professor, die Kühnheit meiner Bitte durch das Interesse, welches ich an der Sache habe, gütigst entschuldigen werden, habe ich die Ehre mich zu zeichnen in tiefster Hochachtung Ihr ergebener Dr. A. v. Graefe, Arzt-Operateur in Berlin.“

Und noch am 16. December desselben Jahres, also ein Jahr nach der so denkwürdigen Erfindung, schreibt Helmholtz seinem Vater:

„Es sind hier nach und nach 18 Bestellungen auf Augenspiegel eingelaufen, so dass mein Mechanikus ein gutes Geschäft damit macht. Darunter 4 nach Holland, 1 nach Paris, 1 nach London, nach Krakau, Prag, Breslau, Bonn, Tübingen, Dorpat, nach Berlin an Dr. Böhm, den Adoptivsohn von Joh. Schulze; auch werden in Berlin dergleichen angefertigt durch den Mechanikus Dörffel auf Veranlassung des Dr. Gräfe, Sohns des Generalstabsarztes. Sechs davon sind schon abgeschickt, die andern sind ziemlich bald fertig, und der Mechanikus hat daran noch eine Veränderung angebracht, wodurch sie viel bequemer zu gebrauchen werden. Er macht noch mehr, als bis jetzt bestellt sind, und wird nächstens auch eins mit einer Sendung anderer Sachen nach New-York spediren. Also seht Ihr, dass die Sache in der Welt herumkommt.“

40 Jahre später erzählt er selbst die Geschichte seiner Erfindung:

„Bei der Vorbereitung zur Vorlesung stiess ich zunächst auf die Möglichkeit des Augenspiegels und dann auf den Plan, die Fortpflanzungszeit der Reizung in den Nerven zu messen. Der Augenspiegel ist wohl die populärste meiner (Seite 139) wissenschaftlichen Leistungen geworden, aber ich habe schon den Augenärzten berichtet, wie dabei das Glück eine unverhältnissmässig grössere Rolle gespielt hat als mein Verdienst. Ich hatte die Theorie des Augenleuchtens, die von Brücke herrührte, meinen Schülern auseinanderzusetzen. Brücke war hierbei eigentlich nur noch um eines Haares Breite von der Erfindung des Augenspiegels entfernt gewesen. Er hatte nur versäumt, sich die Frage zu stellen, welchem optischen Bilde die aus dem leuchtenden Auge zurückkommenden Strahlen angehörten. Für seinen damaligen Zweck war es nicht nöthig, diese Frage zu stellen. Hätte er sie sich gestellt, so war er durchaus der Mann dazu, sie sich eben so schnell zu beantworten wie ich, und der Plan zum Augenspiegel wäre gegeben gewesen. Ich wendete das Problem etwas hin und her, um zu sehen, wie ich es am einfachsten meinen Zuhörern würde vortragen können, und stiess dabei auf die bezeichnete Frage. Die Noth der Augenärzte um die Zustände, die man damals unter dem Namen des schwarzen Staares zusammenfasste, kannte ich sehr wohl aus meinen medicinischen Studien, und machte mich sogleich daran, das Instrument aus Brillengläsern und Deckgläschen für mikroskopische Objecte zusammenzukitten. Zunächst war es noch mühsam zu gebrauchen. Ohne die gesicherte theoretische Ueberzeugung, dass es gehen müsste, hätte ich vielleicht nicht ausgeharrt. Aber nach etwa acht Tagen hatte ich die grosse Freude, der Erste zu sein, der eine lebende menschliche Netzhaut klar vor sich liegen sah.“

In der That war aber die Erfindung des Augenspiegels nicht ganz so einfach, wie Helmholtz sie darstellt; gerade daran, dass das dem Apparate zu Grunde liegende Princip ohne tiefere optische Kenntnisse nur schwer verständlich war, lag es eben auch, dass die Einführung desselben verhältnissmässig langsam vor sich ging und nicht früher geschah, bis vervollkommnete mechanische Einrichtungen die Handhabung des Augenspiegels bedeutend vereinfacht hatten — nur (Seite 140) Donders, der ausgezeichnete Utrechter Physiologe, hielt das Helmholtz'sche Instrument in seiner ursprünglichen Form schon für optisch vollkommen.

Die bekannte Erscheinung, dass die Augen gewisser Thiere, wie Katzen und Eulen, im Dunkeln leuchten, hatte schon Johannes Müller richtig dahin gedeutet, dass die sogenannten leuchtenden Augen nicht wirklich leuchten, sondern nur Licht reflectiren, und dass die Nervenhaut der stärker leuchtenden Augen einen hellen, zur Zurückwerfung des Lichtes besonders geeigneten Hintergrund habe. Brücke hatte nun zunächst festgestellt, dass man die Augen der Thiere am besten leuchten sieht, wenn man in einem dunkeln Raume eine Blendlaterne auf das zu beobachtende Auge richtet und an dieser vorbei in das Auge blickt; man kann dann die Augen aller Thiere und ebenso die der Menschen zum Leuchten bringen. Die ersten menschlichen Augen, welche ein Beobachter zweckbewusst leuchten sah, waren die durch Brücke beleuchteten Augen du Bois'. Alle weiteren Versuche Brücke's, ein Instrument zur Beleuchtung der Retina zu construiren, waren nach dem Zeugniss Graefe's an der Weise der Beleuchtung gescheitert.

Helmholtz stellte sich nun, wie er es in der in Berlin 1851 erschienenen Monographie darlegt, zunächst die Frage, weshalb uns alles, was wir vom Hintergrund des unverletzten Auges erblicken können, absolut dunkel erscheint, und fand den Grund hiervon in den lichtbrechenden Medien des Auges, welche unter gewöhnlichen Umständen verhindern, dass wir erleuchtete Netzhautstellen hinter der Pupille erscheinen sehen; es konnte sich also zunächst nur darum handeln, eine Beleuchtungsart zu finden, durch welche gerade der Theil der Netzhaut, nach welchem wir durch die Pupille hinsehen, hinreichend erhellt werde. Dass dies sich in der That so verhält, zeigte er mit Hülfe einer kleinen, innen geschwärzten Camera obscura; er wies experimentell und mathematisch für beliebige Systeme brechender Flächen nach, dass die (Seite 141) rückkehrenden Strahlen, auch nachdem sie durch die brechenden Medien hindurch und aus dem Auge herausgetreten sind, den einfallenden vollständig congruent sein müssen, und sich schliesslich alle wieder zu dem ursprünglich leuchtenden Punkte zurückbegehen werden. Weil wir nun unser Auge nicht in die Richtung des zurückkommenden Lichtes bringen können, ohne gleichzeitig das einfallende gänzlich abzuschneiden, kann zu unserer Pupille aus der Tiefe des fremden Auges kein Licht zurückkehren, welches nicht von ihr ausgegangen ist. Es wird somit nur diejenige Netzhautstelle ihr sichtbar, auf welcher ihr eigenes dunkles Bild sich abbildet, und daher nur, wenn das beobachtete Auge nicht absolut genaue Bilder liefert, das zurückkehrende Licht sich zwar im Allgemeinen wieder nach dem leuchtenden Punkte hinwenden, aber auch zum Theil vorbeigehen, und ein Beobachter, welcher sich der Richtungslinie des einfallenden Lichtes möglichst annähert, wird einen Theil des austretenden Lichtes wahrnehmen, worauf das von Brücke entdeckte Leuchten der Menschenaugen beruht. Zur Herstellung eines regelmässigen Bildes ist also eine Methode nothwendig, die es möglich macht, nicht bloss annähernd, sondern genau in der Richtung des einfallenden Lichtes in das Auge hineinzusehen, und Helmholtz fand nun, indem er zugleich die Helligkeit des Bildes so gross zu machen suchte, als es irgend geht, auf Grund strenger mathematisch-optischer Ueberlegungen, dass sich dies im Wesentlichen durch drei auf einander gelegte parallele Glasplatten erreichen lässt, in denen sich das Licht eines zur Seite des beobachtenden Auges stehenden Beleuchtungskörpers wiederspiegelt. Ein Theil dieses Lichtes gelangt dann in die Pupille des fremden Auges und beleuchtet das Innere desselben; die von dem so beleuchteten Augenhintergrunde zu den Glasplatten zurückkehrenden Lichtstrahlen werden nun zum Theil an der Oberfläche derselben wieder zur Lichtquelle zurückgeworfen, ein anderer Theil der reflectirten Strahlen geht aber durch die (Seite 142) Glasplatten hindurch und gelangt in das Auge des Beobachters. Da aber das Gesichtsfeld desselben, begrenzt durch die Pupille des beobachteten Auges, bei der verhältnissmässig beträchtlichen Entfernung der beiden Augen von einander so klein sein würde, dass es unmöglich wäre, die gesehenen Einzelheiten zu einem Gesammtbilde zu combiniren, wird es nöthig sein, die beiden Augen so viel wie möglich einander zu nähern. Dann fällt aber das Bild im Allgemeinen hinter den Rücken des Beobachters und kann von ihm nicht deutlich gesehen werden, und da ein normales Auge nur parallele und divergirende Strahlen auf seiner Netzhaut vereinigen kann, nicht aber convergirende, setzte Helmholtz als einfachstes Mittel, um die convergirenden Strahlenbündel divergent zu machen, eine Concavlinse zwischen Spiegel und Auge des Beobachters, und hatte mit diesen einfachen Mitteln die wesentlichen Theile seines Augenspiegels hergestellt, für welchen er noch eine Reihe anderer praktischer Constructionen vorschlägt.

Im folgenden Jahre lieferte er noch in Vierordt's Archiv für physiologische Heilkunde unter dem Titel „Ueber eine neue einfachste Form des Augenspiegels“ eine Vergleichung seiner Construction mit der in demselben Jahre 1852 von Ruete vorgeschlagenen; zugleich vereinfacht er das instrumentale Zubehör in der praktischen Ausführung des von Ruete aufgestellten Princips derart, dass statt eines jeden Augenspiegels nur eine kleine Convexlinse nöthig ist, wie sie zu den gewöhnlichen Lupen gebraucht wird, wodurch aber freilich das vereinfachte Instrument auch alle Nachtheile der Ruete'schen Methode an sich trägt.

„Für meine äussere Stellung vor der Welt“, sagte Helmholtz später bei einer Besprechung seiner medicmisch-physiologischen Arbeiten, „war die Construction des Augenspiegels sehr entscheidend. Ich fand fortan bei den Behörden und Fachgenossen bereitwilligste Anerkennung und Geneigtheit für meine Wünsche, so dass ich fortan viel freier den inneren (Seite 143) Antrieben meiner Wissbegier folgen konnte. Uebrigens erklärte ich mir selbst meine guten Erfolge aus dem Umstände, dass ich durch ein günstiges Geschick als ein mit einigem geometrischen Verstande und mit physikalischen Kenntnissen ausgestatteter Mann unter die Mediciner geworfen war, wo ich in der Physiologie auf jungfräulichen Boden von grosser Fruchtbarkeit stiess, und andererseits durch die Kenntniss der Lebenserscheinungen auf Fragen und Gesichtspunkte geführt worden war, welche gewöhnlich den reinen Mathematikern und Physikern fern liegen.“

Die erste öffentliche Mittheilung über den Augenspiegel machte er am 11. November 1850 in dem wenige Tage zuvor in Königsberg gegründeten Verein für wissenschaftliche Heilkunde, zu dessen Vorsitzenden er erwählt war.

Die in so kurzer Zeit und scheinbar so leicht geglückte Erfindung des Augenspiegels, die sich daran schliessenden mechanischen Constructionen und Abänderungen, sowie eine Reihe mit Hülfe des Augenspiegels angestellter physiologisch-optischer Versuche — er fand unter anderem, dass Licht, welches die Sehnervenfasern unmittelbar trifft, nicht empfunden wird, sondern dass zu seiner Wahrnehmung ihre Enden in der Retina getroffen werden müssen — nahmen ihn nur bis in die ersten Wochen des Januar 1851 in Anspruch, und nun wandte er sich sogleich wieder zu den so plötzlich und so glücklich unterbrochenen Arbeiten über die Reizung der Nerven zurück. Da er bei seinen früheren Untersuchungen den zur Reizung der Nerven angewendeten Inductionsschlag als momentan betrachtet hatte, ging er zunächst, um die Berechtigung dieser Annahme gegenüber den kleinen in Betracht kommenden Zeittheilchen nachzuweisen, darauf aus, die schon früher berührte Frage zu beantworten, wann ein Inductionsschlag seine physiologische Wirkung ausübt, um nicht den Nervenwirkungen Zeitunterschiede zuzuschreiben, welche den elektrischen Strömen angehören, zumal da besonders bei Menschenversuchen, zu denen starke Apparate (Seite 144) gebraucht werden, daraus merkliche Irrthümer entstehen konnten. Er übersandte du Bois in der Mitte des April zunächst einen kurzen Auszug dieser physikalischen Vorarbeit der weiteren Nervenversuche, um denselben der Akademie vorzulegen, und zugleich die grössere Arbeit selbst für die Poggendorff'schen Annalen. Seinem Vater berichtet er von dem Inhalte dieser Arbeit nur, dass sie die Zeitdauer der magnetelektrischen Schläge behandelt und nicht bloss einzelne Thatsachen und Versuche enthält, sondern dass ein glücklicher theoretischer Einfall ihn auf ein mathematisches Gesetz geführt hat, dessen Richtigkeit er an einzelnen Versuchsreihen erprobt, und welches sämmtliche Fragen dieses noch ganz unbebauten Gebietes vollständig löst. Der du Bois übersandte Bericht wurde nicht von diesem, sondern von Poggendorff am 8. Mai der Akademie vorgelegt, da du Bois „von seinen Gönnern bemerklich gemacht wurde, dass es sich nicht ganz zieme, fremde Arbeiten der Akademie vorzulegen, ehe man sich ihr durch einen eigenen Vortrag bekannt gemacht habe, und er ausserdem als Physiologe, nicht als Physiker bei ihr accreditirt sei“, und du Bois schliesst seinen Brief mit den Worten:

„Mir steht der Verstand still vor Deiner ungeheuren Arbeitskraft und dem Umfang Deiner Kenntnisse. Wie kannst Du nur zugleich neue Collegia lesen und solche Arbeiten zu Stande bringen. Uebrigens muss ich Dir bekennen, dass ich mit Deiner Darstellung gar nicht zufrieden bin. Ich habe Deine Abhandlung und den Auszug ein paarmal durchgelesen, ohne zu begreifen, was Du eigentlich gemacht hattest, und wie Du es gemacht hattest. Endlich erfand ich selbst die Methode, und nun verstand ich erst allmählich Deine Darstellung. Du musst — nimm es mir nicht übel — durchaus mehr Sorgfalt darauf verwenden, von Deinem eigenen Standpunkt des Wissens zu abstrahiren und Dich auf den Standpunkt derer stellen, die noch nicht wissen, um was es sich handelt und was Du ihnen auseinandersetzen willst.“

(Seite 145) Aber dieser Vorwurf war durchaus nicht begründet; denn es lag in der Natur der Sache, dass diese Arbeit nicht nur physikalisch, sondern auch mathematisch durchgebildete Leser voraussetzte. Wir wissen, dass es Helmholtz jetzt und später liebte, viele Theile seiner Abhandlungen bisweilen vier- bis sechsmal umzuschreiben, die Anordnung des Ganzen hin und her zu werfen, bis er einigermaassen damit zufrieden war, und dass er eine Untersuchung nie für fertig abgeschlossen hielt, ehe sie vollständig und ohne logische Lücken schriftlich und correct formulirt vor ihm stand. So antwortet auch Helmholtz, der schon früher seinem Vater geschrieben, dass er gerade auf die Form dieser Abhandlung besondere Sorgfalt verwendet habe: „was die Darstellung in dem Aufsatze betrifft, so hat sie mir gerade dieses Mal viele Mühe gemacht, und ich glaubte zuletzt, mit ihr zufrieden sein zu dürfen. Aber es ist richtig, je mehr man daran ausbessert, desto schwerer wird es oft zu verstehen. Uebrigens war das Thema auch schlimm zu behandeln.“

In der Arbeit „Ueber die Dauer und den Verlauf der durch Stromesschwankungen inducirten elektrischen Ströme“, veröffentlicht in den Poggendorff'schen Annalen, entwickelt er zunächst ein mathematisches Princip, dessen Bestätigung durch eine lange Reihe mühsamer Versuche ihm grosse Freude bereitete. Zugleich gewährte es ihm die Genugthuung, dass F. Neumann mit Hülfe der in dieser Abhandlung aufgestellten Principien im Stande war, für das bereits bei Seite gelegte Problem der Stromvertheilung in einer unter zwei Magnetpolen rotirenden Kupferscheibe die Integrationen auch mit Berücksichtigung der secundären Inductionen durchzuführen und Theoreme aufzustellen, welche sich experimentell prüfen liessen. Enthält eine elektrische Leitung voltaische Elemente und eine Spirale, und ist J die Intensität des Batteriestromes, W der Widerstand der Leitung in absoluten Einheiten, t die Zeit und P das nur von den geometrischen Verhältnissen abhängige Potential der Spirale (Seite 146) auf sich selbst, so wird ein ruhender Magnet durch den inducirten Strom allein genommen um einen Bogen abgelenkt, welcher P und J direct, W umgekehrt proportional ist, während, wenn der Batteriestrom allein in der sehr kurzen Zeit t auf den Magneten wirkt, ein dem Producte von J und t proportionaler Ausschlag verursacht wird, woraus unmittelbar folgt, dass der Batteriestrom in der Zeit, welche sich als Quotient von P und W darstellt, gerade so viel wirkt, als der ganze inducirte Strom. Nun war durch Dove bekannt, dass die Intensität des inducirten Schliessungsgegenstromes immer kleiner ist als die des inducirenden Stromes, und dass der schwächere Strom mehr Zeit braucht, um dieselbe Wirkung hervorzubringen, als der stärkere, und daraus ergab sich wieder leicht, dass das Minimum der Dauer des Schliessungsgegenstromes der Quotient P durch W ist. Da man aber dieses Minimum beliebig vergrössern kann, indem man den Widerstand W der Leitung verringert, und das Potential P der Spirale durch Vermehrung der Masse derselben vergrössert, so kann man — und dies ist der wesentliche Punkt der gedanklichen Entwickelung — bewirken, dass die Zeit, welche der Strom gebraucht, um in der ganzen Leitung dieselbe Stärke zu erreichen, gegen jene Dauer verschwinde, und man wird somit Bedingungen herstellen können, unter welchen die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Elektricität durch die Leitung verschwindend klein ist gegen solche Zeittheilchen, während welcher sich die Intensität des Stromes nicht merklich ändert. Dadurch war aber die nothwendige Bedingung für die Anwendung des Ohm'schen Gesetzes, nämlich die Ausgleichung der Stromstärke durch die ganze Länge der Leitung, erfüllt, indem die Aenderungen der Intensität inducirter Ströme so langsam vor sich gehen, dass sich fortdauernd die Stromstärke in der ganzen Leitung ausgleichen kann, und es bestimmt sich dann vermöge des Ohm'schen Gesetzes die in einer einfachen Leitung vorhandene Stromintensität unter der (Seite 147) Voraussetzung, dass die elektromotorische Inductionskraft nur um verschwindend kleine Zeiträume hinter der inducirenden Stromesschwankung zurückbleibe, in Form einer Exponentialfunction der Zeit. Nachdem Helmholtz dieses Exponentialgesetz durch interessante mathematische Betrachtungen noch auf verzweigte Leitungen ausgedehnt, prüfte er dasselbe durch Einführung einer neuen Art galvanischer Wippe, die es gestattete, die Zeit zwischen der Schliessung und Oeffnung eines Stromes beliebig zu verändern, experimentell, indem er die Zeit nicht direct mass, sondern mit Hülfe einer Modifikation des Verfahrens von Pouillet dieselbe aus den Wirkungen der Ströme auf einen Magneten berechnete, und konnte so mit Bezug auf die oben erwähnte Voraussetzung, dass die inducirte elektromotorische Kraft gleichzeitig vorhanden sei mit der inducirenden Stromesschwankung, nachweisen, dass 1/10000 Secunde nach der Unterbrechung des Stromes einer Spirale keine inducirende Wirkung mehr stattfindet. Damit waren aber mathematisch streng und unwiderlegbar die Zeitunterschiede, die den elektrischen Strömen angehören, getrennt von denen bei den Nervenwirkungen, und er konnte sich nun wieder nach Beseitigung der möglichen Zweifel in Betreff der Genauigkeit der angewandten Methoden den schwierigen Untersuchungen über Nervenreizung zuwenden, die seine ganze Arbeitskraft während des Restes des Jahres 1851 in Anspruch nahmen.

Reise zur Besichtigung der physiologischen Institute

In den Herbstferien 1851 führt Helmholtz die schon im Frühjahr projectirte Reise zur Besichtigung der physiologischen Institute aus, lässt Frau und Kind bei seinen Verwandten in Dahlem und besucht zunächst die ihm noch von Berlin her befreundete Familie des Professor Heintz in Halle, bei der er einige Tage zur Erholung verweilte, um sich dann nach kurzem Aufenthalte in Kassel nach Göttingen zu begeben. Sein erster Gang war zu Professor Ritter, seinem alten Lehrer am Potsdamer Gymnasium (Seite 148) und dem treuen Freunde seines Vaters, in dessen Begleitung er sich „die kleine Stadt ansah, ein wenig besser gebaut als Halle und Königsberg, deren Angelpunkt die Universität ist“ und suchte dann, wenn auch durch die Anwesenheit des Königs etwas gehindert, die Professoren auf, „die Aristokratie der Stadt; man merkt ihnen an“, schreibt er seiner Frau, „dass sie ihre Würde fühlen, und etwas geneigt sind, die Leistungen ihres Kreises besonders hoch anzuerkennen. Mir gegenüber haben sie das nicht geltend gemacht, wenn sie aber von dritten Personen sprachen, fühlte man das durch“. Aus seinen ausführlichen Schilderungen geht hervor, dass ihm der Aufenthalt unter den Göttinger Gelehrten sehr zugesagt:
„Ich fand hier noch mehr Leute zu besuchen, als ich anfangs beabsichtigt hatte, und Einrichtungen zu sehen, an denen die Kosten nicht gespart sind. Der Physiolog Wagner, ein älterer Mann, dem man etwas das Bewusstsein seiner Wichtigkeit anmerkt, und der auch offenbar viel Gefühl dafür hat, dass er vom Könige berücksichtigt wird (der Titel Hofrath gilt hier mehr als Professor), ist nicht ganz im Niveau der jetzt nöthigen physikalischen Kenntnisse, aber er fühlt das, und ist vorsichtig genug, sich nicht zu verlaufen. Der Physiker Weber, nach Neumann wohl der erste mathematische Physiker Deutschlands, zeigte mir mit etwas weniger lächelnder Freundlichkeit als sein Bruder in Leipzig viel interessante physikalische Apparate von grosser Vollendung. Dann war da noch ein jüngerer Anatom und Physiolog Bergmann; ein Augenarzt Ruete, der werthvolle Arbeiten für die Physiologie des Auges geliefert hat; ein sehr kenntnissreicher Chirurg Baum, kürzlich aus Greifswald berufen; ein mathematischer Optiker Listing, auf den ich bisher noch nicht aufmerksam gewesen war, der es aber offenbar in hohem Grade verdient; endlich ein Philosoph Lotze, der viel über die Prinzipien der Pathologie und Physiologie gearbeitet hat, aber leider zu (Seite 149) hypochondrisch und in sich gekehrt ist, als dass ein geistiger Verkehr wenigstens in so kurzer Zeit mit ihm möglich wäre. Auch diese Leute nahmen mich alle mit grosser Achtung und Freundlichkeit auf, gaben mir alle Zeit, die ihnen übrig war, und es war mir angenehm zu sehen, dass sie sich in meine etwas schwierigen Nervenarbeiten hineingearbeitet haben und damit übereinstimmen, oder doch wenigstens, wie es scheint, durch die Urtheile Weber's hinlängliches Vertrauen in meine physikalischen Kenntnisse haben, um an meine Resultate zu glauben. Vortrefflich für meine Reise ist der Augenspiegel; ich demonstrirte ihn heute Morgen, er erregte auch hier eine Art von Sensation. Heute Abend werden mich noch mehrere von ihnen, falls sie der König nicht befiehlt, spazieren führen. Dagegen war ich überrascht, dass sie an die Arbeiten von du Bois nicht recht heran wollen, sie zweifeln hier, und zweifeln da, wollen die Wichtigkeit der Arbeiten nicht recht zugeben, und ich habe ihn sehr lebhaft vertheidigen müssen. Namentlich ist es das Urtheil des hiesigen Weber und der Pariser Commission, dann auch mangelndes Verständniss, worauf sich das gründet. Solche kleine Einfälle wie der Augenspiegel sind mehr geeignet, Eindruck zu machen; zwei dergleichen Instrumente sind schon bestellt worden bei Rekoss, eines von Blasius in Halle und eines von Ruete hier. Meine Froschcurven demonstrire ich auch überall.“

Von Göttingen fuhr Helmholtz über Marburg, wo er Knoblauch und den Physiologen Nasse aufsuchte, nach Giessen, in der Hoffnung, Liebig, den er sehr verehrte, kennen zu lernen.

Liebig, der König der Chemiker, wofür er sich selbst und seine Schüler ihn halten, war leider verreist; er ist in London, um die Ausstellung zu besehen und sich von den Engländern fetiren zu lassen. Ich hätte ihn gern kennen gelernt. So konnte ich mir nur von seinem Sohne, einem jungen Arzte, der eine Zeit unter du Bois (Seite 150) physiologisch gearbeitet hat, aber wohl Practiker werden wird, des Vaters leeres Laboratorium zeigen lassen, zu welchem die Schüler aus ganz Europa und Amerika zusammenströmen, um sich praktisch einzuüben. Ich war erstaunt, gar keine besonders bedeutenden Einrichtungen, dagegen alles von Dreck starren zu finden; Laboranten waren wenige da. Es machte einen seltsamen Gegensatz zu den mindest ebenso zweckmässigen, viel besser versehenen, wohlgeordneten und gereinigten Laboratorien von Heintz u. A. Aber man sieht, die äusseren Dinge machen es nicht. Denn trotz aller Eitelkeit ist Liebig doch der bedeutendste der lebenden Chemiker und als Lehrer von ungeheuer ausgebreitetem Einfluss.“

Heidelberg

Nachdem er noch Eckhard besucht, der ihn mit den übrigen Giessener Naturforschern eingeladen, und welcher „der einzige jüngere ist, der in du Bois', Brücke's und meine Richtung hinein nachwächst“, reist er über Frankfurt, wo er wieder im städtischen Museum in alter Neigung bei Lessing's Huss, Ezzelino und zwei kleinen Landschaften von demselben schwärmte, nach Heidelberg, wo er Henle aufsuchte, dessen Anstalten er für Anatomie ausgezeichnet, für Physiologie äusserst dürftig fand. Henle theilte ihm nun mit, dass er nur in Folge von Zerwürfnissen mit Tiedemann gezwungen sei, sämmtliche anatomische Collegia, dazu Physiologie und allgemeine Pathologie provisorisch zu übernehmen, und nun verlange, dass neben ihm ein Physiologe angestellt werde. „Er eröffnete mir“, schreibt Helmholtz seiner Frau, „eine für unsere Zukunft vielleicht erfolgreiche Angelegenheit; er und die jüngeren Professoren der medicin. Facultät. streben nämlich danach, mich nach Heidelberg berufen zu lassen ..... Sehen wir also, was geschieht, der Wirkungskreis in Heidelberg wäre nicht übel, die Deutschen haben sich etwas fortgewöhnt, weil es gegenwärtig auch an Lehrern mangelt, aber es kommen noch die Schüler aus Nordamerika, Brasilien, England, Frankreich, (Seite 151) Griechenland, Russland.“ Nach mehrstündigem Aufenthalt in Baden-Baden fuhr er nach Kehl und wanderte über die Rheinbrücke in die Republique française ein. „Da hat man viel, um sich zu amüsiren. Ueberall prangt die Liberté, Fraternité und Egalité, an jedem öffentlichen Gebäude Proprieté de la Nation, an vielen Privathäusern andere fürchterlich demokratische Wahlsprüche. Das Landvolk und die niederen Klassen der Stadt erscheinen ganz wie in Baden, nur scheinen sie stumpfsinniger zu sein, in den besseren Stadttheilen sieht es aber ganz französisch aus. Ich bestieg zuerst den Thurm des Münsters. Leider ist der Dom sehr geflickt; was von Erwin von Steinbach herrührt, gehört zum Schönsten, was man sehen kann, aber der ältere hintere Theil der Kirche und die neueren Zuthaten (oberstes Stück der Vorderfront und eine zugesetzte Etage des Thurms) sind störend. Auch im Innern ist Erwin durch die älteren Theile, denen er sich anschliessen musste, genirt worden; doch macht es theilweise sich äusserst imposant und edel.“

Nachdem er den Freiburger Dom bewundert, „dessen Inneres wieder ungleichmässig ausgeführt, zum Theil aber sehr feierlich und edel ist, während die gothischen Formen des Chors ganz entartet und schnörkelhaft sind“, sah er sich „das Weltwunder“ in Schaffhausen an und empfängt davon einen ganz überwältigenden Eindruck:

„… Ich stieg den Berg herab an das Ufer; da sah er zwar grösser aus, mehr wie ein Wasserfall, indessen legte ich mich doch etwas ärgerlich in das Bett. Am anderen Tage freilich sah ich ihn anders. Man kann nämlich bei Abend die Grössenverhältnisse nicht erkennen, weil rings herum 200 bis 300 Fuss hohe steile Felsenberge stehen, gegen welche der 60füssige Wassersturz nur klein aussieht, und man sieht die Hauptschönheit des Falles, die dunkelgrüne wunderbare Farbe des Wassers nicht, die in ihrer Mischung mit dem weissen Schaum die herrlichsten Effecte macht. Erschütternd ist aber der Eindruck, wenn man auf ein Gerüst (Seite 152) geht, welches am Rande des herabstürzenden Wassers erbaut ist, wo man in nächster Nähe die furchtbare in Schaum und Nebel aufgelöste Wassermasse an sich vorbeistürzen sieht. Anfangs kann man den Anblick kaum aushalten, es vergeht einem die Luft, und man glaubt mit fortgerissen zu werden. Nachher aber habe ich trotz der häufig überspritzenden Wellen im Anblick dieser Kraft und Bewegung geschwelgt und konnte mich lange nicht losreissen. ..... Am Freitag Abend kam ich nach Zürich, suchte mir Ludwig auf, der mich äusserst herzlich empfing. Er ist eine wirklich edle und liebenswürdige Natur und hat sich noch sehr dadurch verbessert, dass er das burschikose Wesen von ehemals abgelegt hat. Daran ist wahrscheinlich seine Frau schuld, welche ich bisher nur in Bezug auf ihr stilles verständiges Wesen kennen gelernt habe. ... Er ist ein Mann von der grössten Herzensgüte und hat sich eine rasende Vorstellung von meinen Vortrefflichkeiten gemacht, in die ihn zum Theil du Bois hineingeredet hat. Wenn Du alle Lobeserhebungen gehört hättest, Du wärest gewiss mit ihm zufrieden gewesen. Dabei ist er ungeheuer fleissig, arbeitet sich immer mehr und mehr in der besten Richtung weiter, wird von den Studenten, wie mir mehrere äusserten und zeigten, schwärmerisch geliebt, so dass ich ausser dem Guten, was er schon geleistet hat, noch Grösseres von ihm hoffe. Aber er ist etwas matter Stimmung und hypochondrisch, wohl von dem zu angestrengten Arbeiten. Er war unablässig bemüht, mir Unterhaltung zu verschaffen und namentlich dabei alle anderen Leute entfernt zu halten, um sich mit mir allein besprechen zu können. Das Letztere haben wir denn auch über alle möglichen physiologischen und physikalischen Gegenstände gethan. .... Vormittags war ich mit Ludwig meist auf der Anatomie, sah Versuche, Instrumente, Sammlungen, Nachmittags trieben wir uns in der Umgegend herum, mit Ausnahme eines Regentages . . . .“

(Seite 153) Von hier aus tritt er nun seine erste Schweizerreise an und besucht alle die Orte, die er noch so oft in seinem Leben wiedergesehen, und in deren Beschreibung er in den Briefen an seine Frau den gewonnenen Eindrücken jugendfrischen und enthusiastischen Ausdruck verleiht, zugleich aber wissenschaftlichen und ästhetischen Anschauungen Raum giebt, die wir später vielfach in seinen Arbeiten und Vorträgen wiederfinden; es mögen aus den vielen und ausführlichen Briefen hier nur die wenigen Zeilen eine Stelle finden, welche er vom Rigi aus geschrieben, dem ersten hohen Berge, den er bestiegen und den er in seinem späteren Leben noch oft zur Erholung von schwerer geistiger Arbeit aufgesucht:

„Wir liessen uns von einem Jungen unsere Sachen auf den Rigi schleppen und schleppten uns hinterher. Aber Olga, eine solche Aussicht! Ich weiss nicht, ob es noch eine zweite giebt. Der Berg selbst ist 5500 Fuss hoch, d. h. 4000 über den anliegenden Seen und verschwindet zwar gegen die zwei- bis dreimal so hohen Alpen, aber ebenso verschwinden gegen ihn die Berge der Ebene. Auf der einen Seite hat man die gewöhnliche Aussicht von hohen Bergen in die Ebene, hier nur verschönt durch den Zuger und Vierwaldstädter See, die mit der klaren grünen Farbe der Alpenwässer so dicht zu Füssen liegen, dass man meint, beim Ausgleiten müsse man in das Wasser fallen. Nach der anderen Seite liegt in der malerischsten Gruppirung die Gletscherkette mit ihren ganz unglaublich ungeheuren Massen und weissen Schneefeldern. Mit dem Anblick ist gar nichts, was ich sonst gesehen, zu vergleichen. Gestern Abend war die Ebene ziemlich klar, das Gebirge aber von Wolken durchzogen, nur die Köpfe waren frei. Beim Sonnenuntergang, der durch Wolkenbänke gestört worden, war aber die helle röthliche Erleuchtung der Gletschermassen gegen die schwarzen, von Nebel durchzogenen Waldthäler, welche man unter den Wolkenbänken sah, und die fast graulich (Seite 154) erschienen, höchst überraschend. Unser Sonnenaufgang heut war äusserst imposant. Die Seen und Wasser führenden Thäler waren mit einer weissen Wolkenschicht bedeckt, welche frappant an zerzupfte Watte erinnerte. Aus ihr stiegen aber in der grössten Klarheit sämmtliche Berge fern und nah hervor, so dass wir nun den ganzen Zusammenhang der Gletscherreihe vor uns hatten, über uns war der Himmel rein und blau. Nachdem schwache Spuren einer Morgendämmerung sich gezeigt hatten, leuchtete auf einmal die höchste Spitze, das Finsteraarhorn, im Tageslicht, bald folgten andere Gletscher. Was das für einen Effect über den dunklen nächtlichen Waldthälern machte, ist nicht zu beschreiben. Auf einmal quillt die Sonne hinter einem fernen Bergrücken hervor, nicht roth, sondern in vollem weissen Licht, ohne alle Ankündigung durch eine intensivere Erhellung des Orts, wo sie heraufkommen musste, so dass Niemand ihr Erscheinen und dessen Ort vorher ahnen konnte. Nun dauert es aber noch lange, ehe sie bis zu dem tiefern Berg- und dem Nebelmeere kam, wo denn Anfangs der Rigi einen kolossalen Schatten bis an den äussersten Horizont warf. Jedenfalls ist die Sache mit Worten gar nicht klar zu machen und deshalb, Olga, wäre es am besten, Du reisetest selbst hierher und liessest Dir die Mühe nicht verdriessen, hinaufzuklettern . . . .“

Von Fluelen aus wandert er über den Gotthard und den Furkapass zum Rhonegletscher, dessen blaue Eisfläche durch ihre Mächtigkeit und Schönheit einen tiefen Eindruck auf ihn macht, „unter Gletschern musst Du Dir nicht die schneebedeckten Bergspitzen denken, sondern Eismassen, welche von diesen aus in die Thäler hinabgleiten, unten abschmelzen und von oben sich fortdauernd erneuern. Denke Dir den Brauhausberg bei Potsdam aus Eis gebildet und in ein enges Thal zwischen riesengrossen Felsbergen eingepackt, dazu noch einen 1000 Fuss hohen Absturz, auf dem die Eisblöcke aufgethürmt sind, welche zur Erneuerung der untern (Seite 155) Massen herabstürzen, und das Ganze mit unzähligen himmelblauen Spalten durchzogen, so hast Du ungefähr ein Bild des Rhonegletschers“. Nachdem er sich dann an der entzückenden Schönheit des Rosenlauigletschers erfreut, durch dessen Eis die Sonnenstrahlen mit dem schönsten Ultramarinlicht drangen und alle Spalten mit dieser Farbe ausfüllten, bestieg er das Faulhorn, besuchte den oberen Grindelwaldgletscher und hielt sich dann einige Tage in Interlaken auf, von wo aus er auch wieder mit seinen Freunden du Bois, Brücke und besonders Ludwig, mit dem ihn das Zusammensein in Zürich noch enger als früher verbunden hatte, die Correspondenz über wissenschaftliche Fragen aufnahm; interessant ist der Brief an letzteren auf die Anfrage in Betreff einer in Zürich zu besetzenden Professur der Physik:

„… dagegen glaube ich, würdest Du mit Kirchhoff in Verbindung Grosses zu Stande bringen können; Kirchhoff ist von dem bewunderungswürdigsten Scharfblick und Klarheit in den verwickeltsten Verhältnissen — ich wünsche es Dir und der Physiologie sehr, dass Kirchhoff zu Euch komme.“

Nach Ueberschreitung der Gemmi besuchte er das Bad Leuk, wandte sich dann theils zu Fuss, theils zu Pferde dem Lago Maggiore zu und von dort über Como nach Mailand, „einer grossen prächtigen Stadt mit allem Glanz des italienischen Lebens. ... An Schönheit der Form steht der Dom, Mailands Glanzpunkt, den gothischen Domen Deutschlands bei weitem nach. Die gothischen Formen sind nur willkürliche Verzierung daran, aber geschmackvoll angewendet, und nun diese Unzahl von Spitzsäulen und Strebebögen und gut gearbeiteten Statuen, alles aus weissem Marmor, gegen den blauen Himmel zu sehen, ist ein Anblick, dessen Pracht man sich gar nicht vorstellen kann. . . . Wir sahen noch die Ruinen von Leonardo da Vinci's Prachtstück, dem Abendmahl, und die Gemäldesammlung im Palast Brera....“

(Seite 156) Endlich gelangt er in die Stadt, die zu sehen er sich schon als Knabe so sehr gewünscht hat:

„Venedig ist die Stadt der Wunder, ein lebendes Märchen. Trotz allem was man an Bildern gesehen, an Beschreibungen gehört hat, der Anblick übertrifft alles. Der Marcusplatz mit seiner moscheenartigen bunten Kirche, zwischen den Palastreihen eingeschlossen, mit zahllosen Gaslichtern, darüber der tiefblaue Mondscheinhimmel und einige Schritte weiter das tiefblaue Meer, dazu die wogende, wie zu einem Fest versammelte Menschenmenge, das ist ein unbeschreibliches Bild. Gestern und heut sind wir in grosser Gesellschaft herumgezogen, um alle Wunder zu sehen; man wird aber fast erdrückt von diesen Eindrücken. Die historischen Erinnerungen, die ungeheuren Reichthümer, welche Venedig aus der halben Erde zusammengeschleppt hat, diese Kunstschätze, welche grösstentheils in voller Farbenfrische noch prangen, sind gar nicht zu übersehen, ..... während man sich in Deutschland nur spärliche Begriffe von der italienischen Kunstblüthe machen kann, schöpft man hier aus dem Vollen. Ich ging allein zur Akademie, um die grösseren Bilder ordentlich zu geniessen, und ich habe es nicht bereut, sondern wirklich einen grossen Genuss gehabt, den man sich in Deutschland gar nicht verschaffen kann. Es ist hier eine Sammlung von Meisterwerken der älteren Venetianer, das Hauptwerk Tizian's: Himmelfahrt Maria, von der ich früher schon Kupferstiche gesehen hatte. Aber hier sind Kupferstiche noch schlechterer Ersatz als Clavierauszüge aus Symphonien, denn die unbeschreibliche Schönheit des Werks liegt in der ordentlich berauschenden Farbe und dem Licht. Aehnliches habe ich weder gesehen, noch kann man es sich vorstellen, ohne es gesehen zu haben, weil diese Art der Schönheit unseren deutschen Bildern ganz fern liegt. Dieses eine Bild findet nun allerdings auch unter den übrigen italienischen, die ich hier sah, nicht seines Gleichen, aber viele haben doch immer (Seite 157) noch einen wunderbaren Grad dieser Freudigkeit in der Farbengebung, und man begegnet einer grossen Anzahl der verklärtesten und idealsten Menschenköpfe, die man sich denken kann. Als ich mit der Akademie fertig war, mochte ich weiter nichts mehr sehen, bereitete meine Abreise vor, strich noch etwas durch die Strassen, hörte gegen Abend die Musik auf dem Marcusplatz und gondelte endlich um 10 Uhr nach dem Dampfschiffe. Als wir absegelten, war der Mond aufgegangen, wir schieden von den Palästen und Gaslichtern des schönen Venedig und gelangten durch die Mündungen der Lagunenkanäle in das stille blaue adriatische Meer.“

Von Venedig reiste nun Helmholtz über Triest nach Wien, wohin ihn besonders die alte Freundschaft mit Brücke zog, dem er nun persönlich seinen Augenspiegel bringen konnte.

„Wegen der frühen Stunde fuhr ich erst mit Herrn R. [Anm.: Richter Röttger aus Holstein (Kremer, S. 95)] in dessen Gasthaus, machte mich zum Menschen, frühstückte und ging dann gegen 9 Uhr zu Brücke. Dieser empfing mich sehr erfreut, und ich wurde gleich bei ihm einquartirt. Gleich nach mir erschien auch Prof. Wagner aus Göttingen und am andern Tage Prof. Bunsen aus Breslau, einer der genialsten unserer Chemiker, so dass wir hier eine ganz gelehrte Gesellschaft bilden. Brücke ist ganz der alte, sieht etwas wohler aus, ist immer heiter, ruhig und freundlich; seine Frau ist hübsch und ebenfalls von angenehmem heiterem Wesen.

..... Von Wien habe ich bis jetzt fast nur Wissenschaftliches gesehen, weil es meist regnet. Am Freitag zeigte Brücke zunächst seine physiologischen Einrichtungen und liess uns lebende Chamäleons bewundern, äusserst kuriose Thiere von frappant ägyptischem Nationalcharakter. Nachmittag konnten wir einen kleinen Spaziergang machen, wobei wir überlegten, wie dem du Bois zu helfen sei, aber nichts herausbrachten. Abends Augenspiegel für Brücke.

(Seite 158) Sonnabend Morgens stellte ich mich im Leichenhause des mächtigen Krankenhauses dem berühmten patholog. Anatomen Rokitansky vor. Dann führten Brücke und Wagner einen Wettkampf ihrer vortrefflichen Mikroscope, wo beide siegten; nachher demonstrirte ich Wagner und seinen Begleitern und Bunsen den Augenspiegel, Nachmittag Brücke meine Inductionsarbeit. Abends Gesellschaft beim Philosophen Lott, wo Wagner und mehrere Wiener Professoren waren. Es war ein angenehmer gemüthlicher Ton, aber zuweilen gab es Reihen etwas trivialer Anecdoten.

Sonntag. Früh liessen wir uns von Rokitansky die höchst ausgezeichnete Sammlung der patholog.-anatomischen Präparate demonstriren, sahen dann die weltberühmten Sammlungen der Wachspräparate. Nachmittags wurde eine verabredete Partie nach Schönbrunn durch das Wetter verdorben. Brücke, Wagner und ich sahen deshalb zuerst zwei berühmte Bildwerke von Canova an, ein Grabmal einer Prinzessin in der Augustinerkirche und die Statue des Theseus im Volksgarten. Beide waren aber nicht im Entferntesten mit dem zu vergleichen, was ich in Italien gesehen hatte. Dann spazierten wir um die Stadt herum auf den Wällen, wo es ziemlich hübsch ist, flohen vor einem Gewitter in Wagner's Gasthof und schwätzten eine Weile klug mit ihm.“

Ueber diese Unterhaltung schreibt er einige Tage später an Ludwig: „.... Auch Rudolph Wagner war dort und wollte gern unsere Meinung über den Zusammenhang der Seele mit dem Körper und andere dunkle Punkte der Physiologie wissen; er scheint sich viel mit solchen Sachen herumzuquälen, über die vorläufig noch garnichts zu sagen ist. Auch Bunsen war dort und beschwatzte mich, mit ihm nach Breslau zu gehen.“

Nachdem nun Helmholtz die Seinigen in Dahlem abgeholt und geistig und körperlich erfrischt mit diesen nach Königsberg zurückgekehrt war, geht er sogleich wieder an (Seite 159) die Fortsetzung seiner Versuche über Nervenreizung, deren Bedeutung von den Physiologen allmählich immer mehr anerkannt wurde; zum Geburtstage seines Vaters erfreute er diesen durch die Mittheilung:

„Die französische Akademie zeigte mir in einem sehr höflichen Schreiben an, dass sie eine Commission ernannt hat, um über meine Einsendungen, die Zeitmessungsversuche betreffend, einen Bericht zu erstatten. Vorläufig wird nun die Commission sich wohl ausser Stande sehen, einen Bericht zu verfertigen, da sie nicht sogleich die Versuche werden nachmachen können, aber es zeigt doch, dass sie die Sache zu berücksichtigen anfangen.

Meine hiesigen amtlichen Verhältnisse sind unverändert; nur habe ich unter der Hand erfahren, worüber ich Euch aber nicht weiter zu sprechen bitte, dass meine Facultät den Antrag an das Ministerium abgeschickt hat, mich zum ordentlichen Professor zu ernennen. Von Heidelberg habe ich noch nichts weiter gehört. Eine zweite Abhandlung über Zeitmessungen ist druckfertig; in den Weihnachtsferien werde ich einen Bericht über die Arbeiten von du Bois für die Kieler Monatsschrift ausarbeiten.“

Nachdem er die Bearbeitung seiner Versuche über die graphische Darstellung der Nervenfortpflanzungszeit an Fröschen Johannes Müller für das Archiv überschickt hat, verfasst er in der That in den Weihnachtsferien und in den ersten Wochen des neuen Jahres auf Karsten's Aufforderung seinen ursprünglich zu einem populären Vortrag bestimmten Bericht über die thierisch-elektrischen Arbeiten der Neuzeit; am 2. Februar 1852 theilt er du Bois mit, dass er bei Gelegenheit der Durcharbeitung seines Buches zum Zwecke der Zusammenstellung der thierisch-elektrischen Untersuchungen ein Theorem gefunden habe, welches ihm die Schwierigkeiten über das Zusammenwirken der einzelnen Theile des Muskels vollständig zu lösen scheine, und liefert ihm aus der Combination der Principien der elektrischen (Seite 160) Spannungen und der Superposition der Ströme den Beweis des Satzes, dass, wenn in einem beliebig gestalteten Leiter elektromotorische Kräfte beliebig vertheilt sind, alle Wirkungen, welche der Leiter nach aussen hin hat, d. h. alle abgeleiteten Ströme, die er in beliebigen linearen oder nicht linearen Bögen giebt, sich ersetzen lassen durch eine Vertheilung elektromotorischer Kräfte an seiner Oberfläche, gerade so wie die Wirkungen eines Magneten nach aussen durch eine Vertheilung magnetischer Fluida an seiner Oberfläche.

Ueber die von Helmholtz beabsichtigte Darstellung der Untersuchungen von du Bois schreibt ihm dieser am 9. Februar: „Es ist gewiss, dass sie besser sein wird, als ich selbst sie zu geben vermocht hätte, und auch gewiss, dass sie der Verbreitung der Sache sehr nützlich sein wird, ich schulde Dir daher grossen Dank.“ Aber das ihm mitgetheilte Theorem von der elektrischen Vertheilung, das manche seiner Resultate zu erschüttern droht, bringt ihn ein wenig in Aufregung: „Ich muss gestehen, dass mir Dein Theorem nicht einleuchten will; es scheint mir entweder nicht neu oder nicht fördernd oder falsch.“ Aber Helmholtz, dessen mathematische Begründung für jenen fundamentalen Satz nichts zu wünschen übrig liess, liefert ihm einen neuen, freilich auch der mathematischen Hülfsmittel nicht entbehrenden Beweis und fügt hinzu: „In Kirchhoff's und Smaasen's Aufsätzen habe ich das Theorem nicht gefunden. Neumann hatte es aber bei seinen Untersuchungen über Inductionsströme schon gefunden und angewendet. Da aber deren Veröffentlichung nicht so bald bevorsteht, bin ich mit ihm übereingekommen, dass ich es veröffentlichen werde.“

„Endlich habe ich Dein Theorem capirt“, antwortet ihm du Bois, „dies wäre etwas, was sich in der Akademie vorlegen liesse, verfahre aber glimpflich mit mir, wenn Du die Sache bekannt machst“. In der That bildet dasselbe einen Theil der noch in demselben Jahre erschienenen Arbeit.

  Fortsetzung des Kapitels


S. 111 - 160 aus:
Koenigsberger, Leo: Hermann von Helmholtz. - Braunschweig : Vieweg
Band 1. - 1902


Letzte Änderung: 24.05.2014     Gabriele Dörflinger   Kontakt

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