Leo Koenigsberger: Hermann von Helmholtz

Helmholtz als Professor der Physiologie in Heidelberg
von Michaelis 1858 bis Ostern 1871.
(Fortsetzung)


Anfang des Kapitels (Band 2)

Hinwendung zur Physik

In diesem Winter stimmte auch Helmholtz wie G. Wiedemann dem Gedanken zu, eine Uebersetzung der Tyndall'schen Vorträge über „Die Wärme betrachtet als eine Art der Bewegung“ von ihren Frauen in Angriff nehmen zu lassen, freilich unter sorgfältiger Controle des wissenschaftlichen Inhalts und versehen mit selbst verfasstem und unterzeichnetem Vorwort; gewisse Bedenken von Wiedemann beseitigt Helmholtz am 1. December 1867 mit den Worten: „Meine Frau findet nichts Anstössiges dabei, wenn Freunden mitgetheilt wird, wer die Uebersetzung gemacht hat; sie meint, es wäre anstössiger, wenn die Welt meinte, dass Sie und ich unsere Zeit damit verschwendet hätten.“

In der That erscheint schon im Jahre 1871 die Uebersetzung der Tyndall'schen Vorträge über die Wärme, und bereits ein Jahr früher die Uebertragung von dessen Gedenkschrift „Faraday as a discoverer“ mit einer interessanten Vorrede von Helmholtz, in welcher dieser seiner grossen Verehrung gegen Faraday herrliche Worte leiht. Wir wissen von früher, mit welcher Liebenswürdigkeit Faraday wiederholt Helmholtz bei dessen Besuchen in England entgegenkam; „die vollkommene Einfachheit, Bescheidenheit und ungetrübte Reinheit seiner Gesinnung hatte etwas Bezauberndes, wie ich es bei keinem anderen Manne je wieder (Seite 107) kennen gelernt habe“. Aber bei dem Entschluss Helmholtz's, diese Schrift von Tyndall zu übersetzen, trat das persönliche Moment ganz in den Hintergrund; auch die Freude zu schildern, wie Faraday mit einem unbegreiflichen Instincte die folgenschwersten naturwissenschaftlichen Entdeckungen gemacht hatte, für die er selbst die Gedankenverbindungen, welche ihn dazu geleitet, später nicht mehr klar wiederzugeben vermochte, war für ihn nicht allein bestimmend. Faraday's Entwickelung schien ihm vielmehr ein grosses allgemein menschliches Interesse für viele theoretische Fragen der Psychologie und mannigfache praktische Probleme der Erziehungskunst zu haben, und es war ihm eine interessante Erscheinung, dass der dem frommen Glauben der kleinen Secte seiner Eltern treu gebliebene Sohn eine philosophische Ader auf wies, die ihn „unter die Vordersten in der allgemeinen wissenschaftlichen Gedankenarbeit unseres Zeitalters sich einreihen liess“. Charakteristisch sind die Worte von Helmholtz, in welchen er im Grunde, ohne es direct auszusprechen, das Facit der Forschungen zieht, an denen er selbst in den verflossenen dreissig Jahren seines Lebens so gewaltig mitgewirkt und geschaffen:

„Nachdem unsere Zeit in ihrem wohlberechtigten Streben, das menschliche Wissen vor allen Dingen zum treuen Abbilde der Wirklichkeit zu machen, viele alte metaphysische Götzenbilder zerschlagen hatte, blieb sie stehen vor den überlieferten Formen der physikalischen Begriffe der Materie, der Kraft, der Atome, der Imponderabilien, ja diese Namen wurden zum Theil die neuen metaphysischen Stichworte derer, die sich am meisten in der Aufklärung vorgeschritten zu sein dünkten. Diese Begriffe nun sind es, die Faraday in seinen reiferen Arbeiten immer und immer wieder von Allem zu reinigen sucht, was sie Theoretisches enthalten und was nicht unmittelbarer und reiner Ausdruck der Thatsachen ist.“

In demselben Jahre erschien auch der erste Theil des (Seite 108) ersten Bandes des von ihm und Wertheim ins Deutsche übertragenen Handbuchs der theoretischen Physik von W. Thomson und P. G. Tait mit einer kurzen Vorrede von Helmholtz, in welcher er William Thomson, einem der durchdringendsten und erfindungsreichsten Denker, den Dank der naturwissenschaftlichen Welt dafür abstattet, dass er uns in die Werkstatt seiner Gedanken einzuführen und die leitenden Fäden auseinanderzuwickeln unternommen, welche ihm den widerstrebenden und verwirrten Stoff zu beherrschen und zu ordnen geholfen haben. Er hebt hervor, dass in diesem Werke der physikalische Zusammenhang im Gegensatz zu der Eleganz der mathematischen Methoden bevorzugt sei. „Wird die Wissenschaft einst vollendet sein, so werden die physikalische und mathematische Consequenz vielleicht zusammenfallen.“

Erst im Jahre 1874, in welchem auch die von ihm und Wiedemann übersetzten Vorlesungen von Tyndall über den Schall erschienen, wurde der zweite Theil des ersten Bandes der theoretischen Physik von Thomson veröffentlicht mit einer am Ende des Jahres 1873 verfassten Vorrede, „Kritisches“, überschrieben. Später selbständig unter dem Titel „Induction und Deduction“ erschienen, enthält diese eine Abwehr der von Zöllner gegen Thomson und Helmholtz gerichteten Angriffe, welche Helmholtz in hohem Grade aufgeregt und betrübt haben; „einige schlaflose Nächte hat mich das Buch von Zöllner übrigens gekostet“, schreibt er an Ludwig, „ich habe keine Ahnung davon gehabt, dass hinter der Masse von Beifall, mit dem man mich zu verfolgen pflegt, sich so viel verbitterter Neid in einzelnen Gemüthern verbirgt“; aber nicht lange nachher musste er erkennen, dass diese Angriffe auf einer unglücklichen Geistesanlage des nach vielen Richtungen hin so verdienten Forschers beruhten, und wir lassen sie daher hier besser unerörtert. Nur eine allgemeiner interessante Stelle aus einem von Blaserna an mich gerichteten Briefe möge hier hervorgehoben werden:

(Seite 109)

„Einer der unangenehmsten Punkte in der reichen und belebten Existenz unseres Denkers war der platte Anfall Zöllner's gegen ihn und andere Gelehrte. Ich wusste mir dies nicht zu erklären, und nur später erfuhr man, dass Zöllner durch den unternehmenden Schwindler Slade zum Spiritismus bekehrt worden war. Sein Hass war daher in erster Linie gegen Tyndall gerichtet, der in England eine sehr unternehmende Campagne gegen den Spiritismus geführt hatte, und dann erst gegen Helmholtz, der die Arbeiten Tyndall's ins Deutsche hatte übersetzen lassen und seinen Namen zu der Uebersetzung hergegeben hatte. Er sprach sehr häufig davon; wir hatten auch bald herausgefunden, dass die Lösung der sogenannten spiritistischen Probleme bei den Taschenspielern zu suchen sei. Bosco, der grosse und geniale Schöpfer der modernen Taschenspielkunst, pflegte beim Beginn einer Aufführung zu sagen, dass in seinen Productionen keine ausserordentlichen, übernatürlichen Kräfte ins Spiel kommen, sondern bloss etwas Geschicklichkeit; aber wenn es ihm geglückt wäre, alle Welt zu täuschen, so bäte er sich etwas Anerkennung von Seite des Publikums aus. Und er machte wirklich ganz überraschende Spiele, in der Nähe des Publikums und in vollem Licht, viel überraschendere Spiele, als der ganze Spiritismus je zu Stande gebracht hat.

So oft ein Taschenspieler nach Pontresina kam, konnte er auf Helmholtz's und meine Clientel rechnen. Wir sassen da in den ersten Reihen, und es war ein grosser Wettstreit dann, zu sehen, wer von uns das eine oder andere Spiel zu erklären im Stande war. Oft gelang es uns, oft aber auch nicht. „Das ist eine sehr angenehme geistige Gymnastik“, meinte Helmholtz, „und man kann gar nicht wissen, ob wir sie eines Tages nicht gebrauchen werden.“

Und ganz damit in Uebereinstimmung hat sich Helmholtz selbst viel später in einem „Suggestion und Dichtung“ betitelten Gutachten geäussert: (Seite 110)
„Geehrter Herr! Wissenschaftliche Studien über die Frage, die Sie stellen, habe ich nie gemacht; was ich davon weiss, ist mir nur durch Zufall zugetragen worden. Aber ich kenne aus langer Erfahrung die Wundersucht des 19. Jahrhunderts und die Hartnäckigkeit, mit der solcher Glauben auch die handgreiflichsten Nachweise grober Täuschungen überwindet; denn meine Jugend reicht noch in die Zeit zurück, wo der thierische Magnetismus blühte. Seitdem sind viele verschiedene Phasen derselben Geistesrichtung einander gefolgt. Jede einzelne hat nur eine beschränkte Lebensdauer; häufen sich die Enttäuschungen zu sehr, so ändert man eben die Methode.

Wenn Sie mich fragen, warum ich mich nicht eingehender damit befasst habe, so kann ich Ihnen nur antworten, dass meine Zeit immer sehr in Anspruch genommen gewesen ist mit Beschäftigungen, die ich für nützlicher gehalten habe, als wundersüchtige Leute zu kuriren, die nicht kurirt sein wollten. Und andererseits musste ich mir sagen, dass, wenn mir der Nachweis einer Täuschung gelang, ich nicht hoffen durfte, viel Eindruck auf die Gläubigen zu machen. Wenn es mir aber nicht gelang, so hätte ich ihnen ein vortreffliches Argument gegen mich in die Hände gespielt. Und da ich durchaus nicht im Stande bin, die Mehrzahl der Kunststücke, die mir ein gewandter Taschenspieler vorführt, zu entziffern, so kann ich auch nicht unternehmen, alle magnetischen oder spiritistischen oder hypnotischen Wunder, die man mir etwa zeigen sollte, zu erklären; um so weniger, als meistentheils die gesellschaftliche Stellung oder das Geschlecht der Mitwirkenden eine wirklich überzeugende Untersuchung verbieten; schliesslich auch oft genug der geschickte Vorwand gebraucht wird, dass die Anwesenheit eines hartnäckig Ungläubigen den Zauber störe.

Mich hat bei diesen Dingen eigentlich immer nur das psychologische Phänomen der Gläubigkeit interessirt, und (Seite 111) die Rolle des Täuschenden habe ich deshalb zuweilen beim Tischrücken oder Gedankenlesen mit Erfolg übernommen, natürlich mit dem späteren Eingeständniss, dass ich der Sünder gewesen war.

Wenn Sie nach diesen Erklärungen nun noch meine private Meinung interessirt, so kann ich mich nur ganz und voll meinem Freunde und Collegen Herrn E. du Bois-Reymond anschliessen. — Dass übrigens in den hypnotischen Erscheinungen ein Kern von Wahrheit steckt, will ich nicht leugnen. Nur was davon wahr ist, würde kaum sehr wunderbar erscheinen.

Ueber die Anwendung solcher mystischer Einwirkungen in der Poesie kann ich nur als Zuschauer und Leser reden. Da finde ich, dass ich nur für zurechnungsfähige Seelen Verständniss und Mitfühlen habe. Zaubermittel sind mir nicht anstössig, wenn sie nur eine abgekürzte Darstellung eines natürlichen Seelenvorgangs geben sollen, der in Wirklichkeit mehr Zeit und Zwischenstadien fordern würde. Wo das nicht zutrifft, erlischt meine Theilnahme an dem Vorgange sogleich, wofür die theoretische Erklärung ja auch nahe liegt.“

Aus der Vorrede zu dem Thomson'schen Werke möge noch die Gegenüberstellung des Newton'schen und Weber'schen Gesetzes und die Kritik des letzteren hervorgehoben werden, wie er sie genauer in seinen elektrodynamischen Arbeiten durchführt. Es sind aber auch die allgemeinen Betrachtungen über die Scheidung der inductiven und deductiven Methode in der Forschung von hohem Interesse, in denen er die letztere nicht bloss als eine berechtigte, sondern als eine geforderte bezeichnet, wenn es sich um die Prüfung der Zulässigkeit einer Hypothese handelt, die darauf beruht, dass wir uns alle Folgerungen, welche sich aus dieser ergeben, zu entwickeln suchen, um sie mit den beobachtbaren Thatsachen zu vergleichen. Den Schluss der Vorrede bilden einige geistvolle Bemerkungen über die (Seite 112) von Thomson aufgestellte, von Helmholtz als nicht unwahrscheinlich zugegebene Hypothese, dass organische Keime in den Meteorsteinen vorkommen und den kühl gewordenen Weltkörpern zugeführt werden.

Allmählich wenden sich nun seine wissenschaftlichen Interessen und Forschungen von der Physiologie immer mehr, fast ausschliesslich der Physik und Mathematik zu, und es war nur natürlich, dass in Helmholtz der Wunsch aufkam, auch seine Lehrthätigkeit mehr nach dieser Seite hin verlegen zu können.

Ein Ruf aus Bonn

Im Sommer 1868, während seine Frau zur Kräftigung und Heilung des Sohnes Robert an der Ostsee weilte, und Helmholtz selbst durch Vorlesungen, Laboratorium und wissenschaftliche Arbeiten aufs Aeusserste in Anspruch genommen, sogar in den freien Stunden seinem Sohne Richard Unterricht in der ebenen Trigonometrie ertheilte, um diesen für das Polytechnicum in Stuttgart vorzubereiten, spielten sich die Verhandlungen mit Bonn zur Uebernahme der physikalischen Professur ab, welche ihm viel Aufregungen und Unannehmlichkeiten verursachten.

Schon einmal war die Preussische mit der Badischen Regierung in einen Wettstreit um den Besitz von Helmholtz gerathen, und es war, als Helmholtz von Bonn nach Heidelberg berufen wurde, nicht nur eine Vermuthung von du Bois gewesen, dass von hoher Stelle in die Verhandlungen eingegriffen worden sei. In der That hatte am 17. April 1858 der damalige Prinzregent, der nachherige Kaiser Wilhelm, auf Veranlassung seiner Gemahlin, der späteren Kaiserin Augusta, an den Staatsminister v. Raumer das nachfolgende Schreiben gerichtet:

„Bevor Ich auf Ihren Bericht vom 10. v. M. dem ordentlichen Professor der Anatomie in der medicinischen Facultät zu Bonn Dr. Helmholtz die von ihm nachgesuchte Entlassung aus seinem bisherigen Dienstverhältniss ertheile, sehe Ich in Betracht, dass nach Ihrem Bericht vom 15. Juni (Seite 113) v. J. sein Abgang als ein empfindlicher Verlust für die Universität zu betrachten ist, Ihrer Aeusserung entgegen, ob es nicht möglich ist, die seinerseits mit der Grossherzoglich Badischen Regierung getroffene Uebereinkunft rückgängig zu machen, und eventuell welche Bedingungen er für sein Verbleiben stellt, sowie an welchen seinerseits gestellten Forderungen die im vorigen Jahr von Ihnen dieserhalb mit ihm gepflogenen Unterhandlungen gescheitert sind.“

Und bald darauf, am 28. Mai 1858, nachdem der Minister eine schriftliche Darlegung der Verhandlungen gegeben, war eine weitere Ordre gefolgt:

„Ew. Excellenz beehre ich mich in vorläufiger Erwiderung des gefälligen Schreibens vom 21. d. M. ganz ergebenst zu benachrichtigen, dass ich den königlichen Gesandten von Savigny in Carlsruhe mit der erforderlichen Anweisung versehen habe, um die Entbindung des Professor Dr. Helmholtz in Bonn von dem der Grossherzoglich Badischen Regierung wegen seiner Berufung an die Universität in Heidelberg gegebenen Versprechen zu vermitteln, und mir vorbehalte, Ew. Excellenz von dem Erfolge demnächst Mittheilung zu machen.“

Die Badische Regierung sah sich jedoch damals nicht veranlasst, dem Wunsche Preussens zu willfahren und Helmholtz von dem der Regierung gegebenen Worte zu entbinden; sie wusste zu gut, welche gewaltige Geisteskraft sie für Heidelberg gewonnen und konnte sich auf das von Bunsen am 28. Mai 1857 an das Grossherzogliche Ministerium auf dessen Ansuchen gerichtete Schreiben berufen:

„… Die neuere Richtung der Physiologie ist weit entfernt, die speciellen Ansichten einer speciellen Schule zu vertreten, sie unterscheidet sich vielmehr von der älteren nur dadurch, dass sie nicht mehr die principiellen Grundlagen der Physiologie anderen Naturwissenschaften auf Treu und Glauben entlehnt, sondern sich dieselben auf dem (Seite 114) kritischeren Wege eigener experimenteller und mathematischer Forschungen selbst zu schaffen sucht.

Unter den jüngeren Persönlichkeiten, welche in dieser Richtung auf die Entwickelung der Physiologie den wesentlichsten Einfluss ausgeübt haben, weiss ich nur vier zu bezeichnen: 1. Helmholtz, 2. Brücke, 3. du Bois-Reymond, 4. Ludwig.

Von den Genannten muss Helmholtz unzweifelhaft als der genialste, begabteste und vielseitig gebildetste gelten, wie schon das beigelegte Verzeichniss seiner Schriften erkennen lässt. Unter denselben finden sich Arbeiten von klassischer Bedeutung, die sogar manchen maassgebenden Einfluss auf die neuere Richtung anderer exacter Naturwissenschaften ausgeübt haben. Seine Lehrthätigkeit ist eine ausgezeichnete, sein persönlicher Vortrag weniger glänzend als gründlich, geistreich und anziehend …“

Und nun war Helmholtz bereits zehn Jahre in Heidelberg thätig gewesen, hatte als grösster Naturforscher seiner Zeit mit Bunsen und Kirchhoff den Ruhm der Universität getragen, fühlte sich glücklich im Kreise seiner Familie an der Seite einer hochbedeutenden Frau, hatte grossen und anregenden Verkehr mit vielen ausgezeichneten Collegen, welche zu den bedeutendsten Forschern auf den verschiedenen Gebieten menschlichen Wissens gehörten — es musste ein schwer wiegender Umstand hinzukommen, wenn er den Gedanken erwägen sollte, Heidelberg zu verlassen.

Durch den Tod Plücker's in Bonn war die Professur der Physik und zugleich eine Professur der Mathematik erledigt, und es wandte sich am 28. Mai 1868 der Curator der Universität Beseler mit der Anfrage an Helmholtz, ob es möglich sein würde, ihn für die Professur der Physik zu gewinnen, „da mit seltener Einmüthigkeit in den hiesigen akademischen Kreisen, nicht bloss unter den Vertretern der mathematischen und der Naturwissenschaften, der lebhafte Wunsch zu Tage trete“, dass Helmholtz der Nachfolger (Seite 115) Plücker's werde. In der interessanten und charakteristischen Antwort sagt Helmholtz u. a.:

„Die Physik war eigentlich von jeher die Wissenschaft, der sich mein Interesse hauptsächlich zugewendet hatte; zur Medicin und durch sie zur Physiologie wurde ich wesentlich durch äussere zwingende Umstände geführt. Was ich in der Physiologie geleistet habe, basirt wesentlich auf physikalischem Boden. Die jungen Leute, deren praktische Arbeiten ich gegenwärtig zu leiten habe, sind überwiegend Mediciner, und meist nicht so vollständig in der Mathematik und Physik vorbereitet, um aufnehmen zu können, was ich unter den Dingen, die ich vielleicht lehren könnte, als das Beste betrachten würde. Andererseits sehe ich, dass die wissenschaftliche und namentlich mathematische Physik in Deutschland in der jüngeren Generation nicht mehr recht vorwärts schreitet. Die wenigen grossen Namen dieses Faches, welches die eigentliche Basis aller rechten Naturwissenschaft ist, sind alt oder fangen an, in die ältere Generation einzurücken, ohne dass entsprechender Nachwuchs da ist, und ich muss mir deshalb sagen, dass, wenn ich in diesem Fache eine Einwirkung auf die Schüler gewinnen könnte, ich damit vielleicht Wichtigeres leisten würde als in der Physiologie, wo jetzt eine rüstig vorwärts arbeitende Schule ausgebildet ist. So wäre wohl ein Ziel da, welches es lohnte, noch einmal die neue Arbeit einer neuen Stellung auf mich zu nehmen, statt in dem bisher beschrittenen Wege gemächlich fortzuarbeiten. Ich würde zu dem Ende aber neben der Experimentalphysik, welche die populäre Vorlesung ist, jedenfalls den Unterricht in der mathematischen Physik und die Leitung praktischer Arbeiten mit übernehmen müssen. Vorlesungen über reine Mathematik würde ich nicht wohl übernehmen können; in denen über mathematische Physik würde ich das Mathematische nur als Mittel behandeln, nicht als Zweck. Wo möglich würde ich daneben auch noch Physiologie des Auges und Ohres vortragen, doch (Seite 116) möchte ich in dieser Beziehung keine Verpflichtung übernehmen.“

Zugleich schreibt er am 10. Juni an Pflüger in Bonn: „Ich bin erst im Verlaufe der Verhandlungen darauf aufmerksam gemacht worden, dass Sie die Physiologie der Sinne als besonderes Colleg lesen. Ich hatte von Anfang her angenommen, dass Sie sie nur implicite in dem allgemeinen Colleg über Physiologie vortrügen, und dass es Ihnen keine wesentliche Störung sein würde, wenn ich über Auge und Ohr eine speciellere Vorlesung hielte, und in dieser Voraussetzung hatte ich mich gegen Beseler geäussert.“

Pflüger bot sogleich in freundschaftlichster und entgegenkommendster Weise eine Helmholtz angenehme Regelung der Verhältnisse an, und dieser orientirte sich dann noch persönlich über die dortigen Verhältnisse, als er am 3. August zum Jubiläum der Universität nach Bonn ging.

Sehr warm tritt nun Beseler in einem Schreiben vom 4. August 1868 bei dem Minister von Mühler für die Berufung von Helmholtz ein:

„Die philosophische Facultät schlägt für den Lehrstuhl der Physik in erster Linie Helmholtz vor; die verschiedenen Voten unterscheiden sich in dieser Beziehung nur dadurch, dass sie in der Methode und in der Wärme seines Lobes variiren. Die medicinische Facultät hält sich verpflichtet, im Interesse ihrer Studirenden Ew. Excellenz auf das Angelegentlichste zu bitten, keine Opfer zu scheuen, um denselben für die physikalische Professur zu erwerben. … Dass sein Weltruhm seit Jahren begründet ist, dass bei seiner Erforschung der Natur und ihrer Kräfte die physikalische Seite in den Vordergrund tritt, dass seine Erwerbung für eine preussische Universität ein Ruhmestitel für die preussische Verwaltung, seine Uebersiedelung nach Bonn zur Uebernahme des vacanten Lehrstuhles für diese Universität ein hohes Glück nicht bloss für die Cultur der (Seite 117) Naturwissenschaften sein würde, steht fest. Von der ausserordentlichen Bedeutung des Mannes für die Wissenschaft im eminenten Sinne dürfte z. B. der Umstand bürgen, dass der Philosoph Trendelenburg sich in neuerer Zeit berufen hält, sich den mathematischen Studien wieder zuzuwenden, um Helmholtz in seinen Schriften folgen zu können.“

Und das beigelegte Gutachten der medicinischen Facultät schliesst mit den schönen Worten:

„Es muss jeder zur Einsicht gelangen, dass er nur etwa mit Leibniz verglichen werden kann, der ebenso tief, ebenso umfassend und ebenso erhaben in seinen Speculationen war.“

Nachdem sich die Verhandlungen längere Zeit hingezogen, weil der preussische Minister zunächst die definitive Feststellung des Staatshaushalts-Etats für 1869 abwarten wollte, und Helmholtz inzwischen am 16. September den Titel eines Grossherzoglich Badischen Geheimrathes II. Classe, zur selben Zeit das Commandeurkreuz des Zähringer Löwen erhalten hatte, fordert Beseler am 26. December 1868 Helmholtz zu einer mündlichen Verhandlung in Mainz auf und wendet sich zugleich nochmals an den Minister:

„ … Ich lege den allergrössten Werth darauf, dass ich zu einem solchen definitiven Abschluss in den Stand gesetzt werde; denn 1. ist Helmholtz ein sehr liebenswürdiger, aber auch im edlen Sinne ein stolzer Mann. Seit einem halben Jahr ist von seiner Berufung nach Bonn in den weitesten Kreisen die Rede; ich halte es für leicht möglich, dass es ihn verstimmen würde, wenn, nachdem eine officielle Verhandlung mit ihm eingeleitet worden, der Unterhändler nicht zum definitiven Abschluss ermächtigt wäre. 2. … Ich kann nach den mir von den verschiedensten Seiten zugegangenen Nachrichten ohne Uebertreibung sagen, dass die Gelehrtenwelt mit Spannung darauf wartet, ob die Königl. Preussische Regierung den Mann für Bonn zu gewinnen gewusst hat. Es wäre die erste Berufung in dem zweiten (Seite 118) Säculum der Universität und eine so glänzende, wie sie jemals an eine preussische Universität vorgekommen.“

Die Unterredung mit Beseler führte nicht zu dem gewünschten Resultate, da die preussische Regierung nicht gleichen Schritt zu halten wusste mit dem liberalen Entgegenkommen des badischen Ministers. Am 2. Januar 1869 richtet Jolly ein sehr verbindliches Schreiben an Helmholtz:

„ … Ich hoffe jetzt mit Sicherheit, es wird gelingen, Sie in dem schönen Heidelberg festzuhalten. So gern wir uns sonst der preussischen Führung fügen, so ist es doch in dem vorliegenden Falle für uns eine angenehme Pflicht, dem Berliner Cabinet den Sieg aufs Aeusserste streitig zu machen, und ich darf hinzufügen, dass es mir, dessen geistiges Leben in der Universität Heidelberg wurzelt, persönlich wahrhaft schmerzlich gewesen wäre, während ich die Geschäfte zu leiten habe, sie ihrer ersten Zierde beraubt zu sehen.“

Die Erfüllung aller, freilich sehr bescheidenen Wünsche von Seiten der badischen Regierung, sowie die Wünsche und Neigungen seiner Familie, bestimmten Helmholtz, in Heidelberg zu bleiben. Du Bois hingegen drängte ihn, den Ruf als Physiker nach Bonn anzunehmen:

„Weil, wenn Du in Bonn Physiker wärest, bei der binnen wenigen Jahren hier unfehlbaren Vacanz in diesem Fache, Du ebenso unfehlbar hierher gerufen werden würdest, und ich dies für das Gemeinwesen wie für mich für ein sehr grosses Glück halten würde.“

Darauf konnte er am 14. Januar nur antworten:

„Hier ist alles officiell fertig gemacht, ein Fackelzug gehalten u. s, w., und Olshausen unterhandelt schon mit Clausius, was mich freut.“

Am 27. Januar schreibt Helmholtz an Ludwig:

„Die Entscheidung über meine Bonner Berufung hat sich drei Vierteljahre hinausgesponnen, endlich habe ich abgelehnt. Ich ging anfangs gern auf den Plan ein, künftig (Seite 119) Physik zu lesen, weil ich voraussetzte, dass ich die Physik in allen Theilen mit vollständig selbständigem Urtheil hätte vortragen können, während unsere Physiologie in den Handgriffen und Methoden so aus einander zu gehen anfängt, dass niemand mehr in allen Einzelheiten sattelfest sein kann. Freilich habe ich mir oft auch dagegen sagen müssen, dass eben deshalb die Physiologie das ruhmwürdigere Feld sei, und dass es der Menschheit vielleicht nützlicher, wenn auch für uns weniger bequem ist, wenn wir unsere Kräfte in dieser Beziehung verwenden. … In den letzten Tagen des December verlangte der Curator von Bonn, mit mir mündlich zu verhandeln, um mir Mindergebote zu thun, und erst, nachdem ich erklärt hatte, mich nun überhaupt auf nichts mehr einlassen zu wollen, kam heraus, dass er ermächtigt war, mir meine frühere Forderung zu bewilligen. … Schliesslich siegte, wenn ich so sagen darf, das Heimweh für Heidelberg, d. h. für seine moralische Atmosphäre und das Bedenken, aus dem Ministerium Jolly unter das Ministerium Mühler zu treten. … Aber am Ende, wenn die ernstesten Verhältnisse des Lebens in's Spiel kommen, haben auch die Verpflichtungen gegen die Freunde ihre Grenzen. Die Badische Regierung, die ich eigentlich in der Führung der Verhandlungen benachtheiligt hatte der Preussischen gegenüber, war in ihrer Bereitwilligkeit, für mich fast unverhältnissmässige Opfer zu bringen, das gerade Gegentheil der Preussischen.“

Freilich, sollte schon wenige Jahre später Preussen dennoch obsiegen.

Mitten in die Verhandlungen hinein fällt die Geburt seines Sohnes Friedrich Julius am 15. October 1868:

„Von Geburt an“, schreibt Frau v. Schmidt-Zabiérow, „war auch er ein schwächliches Kind, das nur durch unablässigste Sorgfalt und Pflege am Leben erhalten werden konnte, und dessen geistige wie körperliche Entwickelung die Quelle ununterbrochener Sorge für die Eltern war und (Seite 120) blieb. Es bedurfte der beispiellosen Widerstandsfähigkeit meiner Schwester, um dem doppelten Kummer der Krankheit ihrer beiden Söhne nicht zu erliegen, die Verdüsterung des Lebens ihres Mannes hintanzuhalten. Persönliches Leid sollte seine Arbeitskraft nicht beeinträchtigen, alltägliche Dinge sollten ihm ferngehalten werden. Dieses Bestreben lag dem Thun und Lassen meiner Schwester zu Grunde. Während sie sich in schwierigen Fällen seinen Rath erbat und sich seinem Urtheil unterwarf — „mir steigen überall Bedenken auf, wo ich Dich nicht habe, um meinen Ideen das Fundament zu geben“ — so verschonte sie ihn doch mit Klagen über Unabänderliches. Ihr fröhliches, warmes Temperament blieb nicht ohne Rückwirkung auf seine oftmals allem Irdischen entrückte Denkerseele.“

Um diese Zeit tritt in der Bethätigung der enormen Schaffenskraft von Helmholtz eine entschiedene Wendung zu physikalischen, mathematischen und philosophischen Problemen der schwierigsten Art ein.

Flüssigkeitsbewegungen

Seine akustischen Forschungen hatten ihm eine unmittelbare Veranlassung gegeben, zu seinen früheren hydrodynamischen Untersuchungen zurückzukehren; die neu erhaltenen Resultate legte er am 23. April 1868 der Berliner Akademie in der Arbeit „Ueber discontinuirliche Flüssigkeitsbewegungen“ vor. Die hydrodynamischen Gleichungen für das Innere einer nicht der Reibung unterworfenen Flüssigkeit, deren Theile keine Rotationsbewegung besitzen, liefern dieselbe partielle Differentialgleichung, welche für stationäre elektrische Ströme in Leitern von gleichmässigem Leitungsvermögen besteht. In Wirklichkeit existiren jedoch wesentliche Unterschiede zwischen der Stromvertheilung einer tropfbaren Flüssigkeit und der Elektricität, welche besonders auffallend sind, wenn die Strömung durch eine Oeffnung mit scharfen Rändern in einen weiteren Raum eintritt. Während die Stromlinien der Elektricität von der Oeffnung aus sogleich nach allen Richtungen aus (Seite 121) einander gehen, bewegt sich Wasser wie Luft von der Oeffnung aus anfänglich in einem compacten Strahle vorwärts, der sich dann in geringerer oder grösserer Entfernung in Wirbel aufzulösen pflegt. Die Untersuchung der bei den Orgelpfeifen durch einen continuirlichen Luftstrom erregten periodischen Bewegung hatte Helmholtz gelehrt, dass eine solche Wirkung nur durch eine discontinuirliche Art der Luftbewegung hervorgebracht werden könne.

Während nun für die hydrodynamischen Gleichungen bisher stets Geschwindigkeiten und Druck der strömenden Theilchen als continuirliche Functionen der Coordinaten behandelt wurden, erkannte Helmholtz, dass bei einer der Reibung nicht unterworfenen tropfbaren Flüssigkeit auf beiden Seiten einer durch das Innere derselben gelegten Fläche auch tangentielle Geschwindigkeiten von endlichem Grössenunterschiede stattfinden können, wenn nur die senkrecht zur Fläche gerichteten Componenten der Geschwindigkeit und der Druck an beiden Seiten derselben gleich sind. Nun ist aber im Innern einer Flüssigkeit eine Ursache vorhanden, welche Discontinuität der Bewegung erzeugen kann, indem für jeden beliebigen positiven Werth des Druckes die Dichtigkeit der Flüssigkeit sich continuirlich mit ihm ändert, sowie der Druck aber negativ wird, eine discontinuirliche Veränderung der Dichtigkeit eintritt und die Flüssigkeit aus einander reisst.

Da nun in einer bewegten incompressibelen Flüssigkeit die Verminderung des Druckes der lebendigen Kraft der bewegten Wassertheilchen direct proportional ist, so wird, wenn diese eine bestimmte Grösse überschreitet, der Druck negativ werden, und die Flüssigkeit zerreissen. Die dem Differentialquotienten des Druckes proportionale beschleunigende Kraft wird an dieser Stelle discontinuirlich und es wird sich bei der Bewegung der Flüssigkeit an einer solchen Stelle vorüber eine Trennungsfläche bilden. Eine einfache Ueberlegung zeigt, dass jede geometrisch vollkommen scharf gebildete Kante, an (Seite 122) welcher Flüssigkeit vorbeifliesst, selbst bei der mässigsten Geschwindigkeit der übrigen Flüssigkeit, dieselbe zerreissen und eine Trennungsfläche herstellen muss. Nun ist aber die Bewegung im ganzen Inneren einer incompressibelen Flüssigkeit, deren Theilchen keine Rotationsbewegung haben, vollständig bestimmt, wenn die Bewegung ihrer ganzen Oberfläche und ihre inneren Discontinuitäten gegeben sind. Es handelt sich daher bei äusserer fester Begrenzung der Flüssigkeit nur darum, die Bewegung der Trennungsfläche und die Veränderungen der Discontinuität an derselben kennen zu lernen; als Grenzbedingungen für eine innere Trennungsfläche der Flüssigkeit sind zu betrachten, dass der Druck auf beiden Seiten der Fläche gleich sein muss, und ebenso die normal gegen die Trennungsfläche gerichtete Componente der Geschwindigkeit. Die Bewegung der Trennungsfläche wird nun nach den früher für die Bewegung der Wirbelflächen festgestellten Regeln bestimmt.

Es ergiebt sich, dass eine solche Trennungsfläche nicht entstehen und nicht verschwinden kann, und dass die auf der Trennungsfläche liegenden Trennungsfäden längs der Trennungsfläche mit einer Geschwindigkeit fortschwimmen, welche, das Mittel aus den an beiden Seiten der Fläche bestehenden Geschwindigkeiten ist. Es kann sich somit eine Trennungsfläche immer nur nach der Richtung hin verlängern, nach welcher der stärkere von den beiden in ihr sich berührenden Strömen gerichtet ist. Versuche und Theorie geben übereinstimmende Resultate für unverändert bestehende Trennungsflächen in stationären Strömungen, d. h. für den Fall, dass längs der Trennungsfläche von ruhendem und bewegtem Wasser der Druck in der bewegten Schicht derselbe ist wie in der ruhenden, somit die tangentielle Geschwindigkeit der Wassertheilchen in der ganzen Ausdehnung der Fläche constant ist. Es gelingt Helmholtz auf diesem Wege mit Hülfe functionentheoretischer Principien zum ersten Male die Gestalt eines freien Flüssigkeitsstrahles für den (Seite 123) speciellen Fall zu bestimmen, dass der Strom aus einem weiten Raum in einen engen Canal übergeht, und unter der Voraussetzung, dass keine äusseren Kräfte auf die incompressible Flüssigkeit wirken, dass ferner ein Geschwindigkeitspotential existirt, die Strömungen stationäre sind und die Bewegung einer festen Ebene parallel ist. Die Resultate geben ihm zu weiteren wichtigen Bemerkungen über elektrische Vertheilungsaufgaben und die Aufsuchung bestimmter Potentialfunctionen Anlass.

Wenn er bei Uebersendung seiner Abhandlung über eine Klasse hydrodynamischer Gleichungen am 8. Januar 1858 an Borchardt geschrieben:

„… Sie ist mehr für mathematische als physikalische Leser eingerichtet, und ihr Nutzen besteht mehr darin, dass man eine Uebersicht der den hydrodynamischen Gleichungen entsprechenden Bewegungen erhält, welche man anwenden kann, um bei Bewegungen wirklichen Wassers zu erkennen, welche Eigentümlichkeiten seiner Bewegung von anderen Umständen influirt werden, die in den hydrodynamischen Gleichungen nicht berücksichtigt sind, als dass man viele directe Anwendungen der neuen Integralformen auf wirkliche Vorgänge machen könnte“,
so bieten die Resultate der eben erwähnten Arbeit Gelegenheit zur Anwendung auf viel besprochene Erscheinungen von besonderem Interesse, und er ergänzt in der That seine hydrodynamischen Untersuchungen durch eine am 5. März 1869 dem naturhistorisch-medicinischen Verein in Heidelberg vorgelegte Arbeit „Zur Theorie der stationären Ströme in reibenden Flüssigkeiten“.

Es war von W. Thomson behauptet worden, dass ein Körper, welcher in einer nicht reibenden Flüssigkeit nahe einer senkrechten Wand fällt, von dieser angezogen wird und zu ihr hineilt. Im Gegensatz hierzu zeigten die in dem Laboratorium von Helmholtz angestellten Versuche über die Bewegungen und die Vertheilung feiner suspendirter (Seite 124) fester Körperchen, dass nicht nur in Capillarröhren, sondern auch in viel weiteren Röhren von 1 bis 5 cm Durchmesser mikroskopisch kleine Körperchen immer gegen die Mitte des Stromes hinstreben. Da aber schwerere Körper schneller in der Flüssigkeit fallen als leichtere, so erhalten bei ersteren diejenigen Druckunterschiede, welche vom Quadrat der Geschwindigkeit abhängen, einen grösseren Einfluss, und man hört in der That eine Bleikugel mehrmals an die Wand anschlagen, bevor sie den Boden erreicht. Die Abweichungen davon bei geringeren Geschwindigkeiten schienen vom Einfluss der Reibung herzurühren, und es hatte den Anschein, dass, wenn man nur so kleine Geschwindigkeiten in Betracht zog, dass nur die Glieder erster Dimension zu berücksichtigen waren, die schwimmenden Körper sich nur an solchen Orten der Flüssigkeit hielten, wo ihre Anwesenheit die geringste Vermehrung der Reibung der Flüssigkeit hervorbrachte.

Helmholtz untersucht nun zur genaueren Feststellung dieser Thatsachen die schon früher behandelten hydrodynamischen Gleichungen mit Berücksichtigung der Reibung, und entwickelt zunächst durch Integration einer aus denselben unmittelbar ersichtlichen Beziehung die Zunahme der lebendigen Kraft in der einen bestimmten Raum füllenden Flüssigkeitsmasse. Er findet durch Deutung des analytischen Ausdruckes, dass diese gleich ist der während eines unendlich kleinen Zeittheilchens von denjenigen äusseren Kräften geleisteten Arbeit, welche auf das Innere der Wassermasse wirken und welche die festen Körper zu bewegen streben, weniger derjenigen Menge lebendiger Kraft, welche während dieses kleinen Zeittheilchens durch die Reibung im Innern der Flüssigkeit vernichtet, also in Wärme verwandelt worden ist.

Unter der Voraussetzung eines stationären Stromes und unter der Annahme, dass, wo die Flüssigkeit eine feste Wand berührt, ihre oberflächlichen Theile fest an dieser (Seite 125) haften, dass dagegen an der Oberfläche beweglicher schwimmender Körper Veränderungen der Geschwindigkeit der Flüssigkeitstheilchen stattfinden, welche den Bewegungsbedingungen der berührenden festen Körper entsprechen, folgert er aus den früher gewonnenen Resultaten die Natur der in Frage kommenden Bewegung. Er findet mit Hülfe bekannter Principien für die Variation von Integralen mit einer gegebenen Beschränkung — welche hier der analytische Ausdruck für die Incompressibilität der Flüssigkeit bildet —, dass bei verschwindend kleinen Geschwindigkeiten und stationärem Strome die Strömungen in einer reibenden Flüssigkeit sich so vertheilen, dass der Verlust an lebendiger Kraft durch die Reibung ein Minimum wird, vorausgesetzt, dass die Geschwindigkeiten längs der Grenzen der Flüssigkeiten als fest gegeben betrachtet werden. Daraus konnte er folgern, dass ein Körper, der in einer reibenden, in langsamem stationärem Strome fliessenden Flüssigkeit schwimmt, im Gleichgewicht ist, wenn die Reibung im stationären Strome ein Minimum ist. Dasselbe findet auch statt, wenn man längs der Oberfläche des schwimmenden Körpers die Werthe der Geschwindigkeiten der Wassertheilchen so variirt, wie sie verändert werden würden, wenn eine der verschiedenen möglichen Bewegungen des Körpers factisch einträte.

Helmholtz hatte gehofft, mit Hülfe dieser Sätze die Abweichungen vom Thomson'schen Gesetze unter der Annahme kleiner Geschwindigkeiten erklären zu können, musste sich aber davon überzeugen, dass zunächst erst noch ähnliche Sätze aufgestellt werden müssen, für welche die quadratischen Glieder der Geschwindigkeiten nicht vernachlässigt werden.

Noch in demselben Jahre 1868 setzte er aber die naturwissenschaftliche und mathematische Welt durch viel weitergreifende und ganz fundamentale Untersuchungen in Staunen, welche er zunächst in einem Abriss dem naturwissenschaftlich-medicinischen Verein am 22. Mai unter dem Titel „Ueber die thatsächlichen Grundlagen der Geometrie“ vorlegte,

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S. 106 - 125 aus:
Koenigsberger, Leo: Hermann von Helmholtz. - Braunschweig : Vieweg
Band 2. - 1903


Letzte Änderung: 24.05.2014     Gabriele Dörflinger   Kontakt

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