Leo Koenigsberger: Hermann von Helmholtz

Helmholtz als Professor der Physiologie in Heidelberg
von Michaelis 1858 bis Ostern 1871.


Anfang des Kapitels (Band 2)

Grundlagen der Geometrie

Noch in demselben Jahre 1868 setzte er aber die naturwissenschaftliche und mathematische Welt durch viel weitergreifendere und ganz fundamentale Untersuchungen in Staunen, welche er zunächst in einem Abriss dem naturwissenschaftlich-medicinischen Verein am 22. Mai unter dem Titel „Ueber die thatsächlichen Grundlagen der Geometrie“ vorlegte, (Seite 126) und deren Ausführung in der der Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften überreichten Abhandlung „Ueber die Thatsachen, die der Geometrie zu Grunde liegen“, erschien. Die wichtigsten Resultate derselben suchte Helmholtz später in einem im Docentenverein in Heidelberg im Jahre 1870 gehaltenen Vortrage „Ueber den Ursprung und die Bedeutung der geometrischen Axiome“ in einer auch den Nicht-Mathematikern verständlichen Form darzulegen; der in the Academy ebenfalls im Jahre 1870 erschienene Aufsatz „the axioms of geometry“ giebt nur die Uebersetzung einiger Abschnitte des letzterwähnten Vortrages. Diese Untersuchungen, in Verbindung mit der berühmten Arbeit von Riemann „Ueber die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen“, welche als Habilitationsschrift am 10. Juni 1854 erschien, waren bahnbrechend für die Entwickelung der mathematisch-philosophischen Anschauungen der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts.

Schon in sehr früher Zeit hatte Helmholtz angefangen, sich mit der philosophischen Analyse der mathematischen und physikalischen Grundbegriffe zu beschäftigen, und es mag als Einleitung zu der Besprechung seiner Arbeiten über die Axiome der Geometrie, Arithmetik und Mechanik hier eine in hohem Grade interessante Aufzeichnung eine Stelle finden, welche noch einige Jahre vor der Veröffentlichung seiner Schrift über die Erhaltung der Kraft erfolgte und nicht nur Zeugniss ablegt von dem jugendlichen Ringen nach Klarheit der Grundbegriffe, sondern uns auch schon die Wege andeutet, welche Helmholtz dreissig Jahre später mit so bahnbrechendem Erfolge eingeschlagen.

[ Aufzeichnungen Helmholtz zu den allgemeinen Naturbegriffen ]
(Seite 138)

Am 21. April 1868 schreibt Helmholtz an Schering in Göttingen:

„Indem ich Ihnen meinen Dank für die Uebersendung der beiden kleinen, Riemann betreffenden Aufsätze ausspreche, erlaube ich mir eine Frage. In Ihrer Notiz über sein Leben finde ich die Angabe, dass er eine Habilitationsvorlesung gehalten habe über die Hypothesen der Geometrie. Ich habe selbst in den letzten zwei Jahren im Zusammenhange mit meinen Untersuchungen über physiologische Optik mich mit dem gleichen Gegenstande beschäftigt, aber die Arbeit noch nicht abgeschlossen und veröffentlicht, weil ich immer noch hoffte, einzelne Punkte verallgemeinern zu können. Ich kann namentlich noch nicht Alles für drei Dimensionen gleich allgemein machen, wie ich es für zwei kann. Nun erkenne ich aus den wenigen Andeutungen, die Sie über das Resultat der Arbeit geben, dass Riemann zu genau denselben Resultaten gekommen ist wie ich. Mein Ausgangspunkt ist die Frage: Wie muss eine Grösse von mehreren Dimensionen beschaffen sein, wenn in ihr feste Körper (i. e. Körper von unveränderten relativen Abmessungen) sich überall sollen continuirlich, monodrom und so frei bewegen können, wie die Körper im wirklichen Räume sich bewegen. Antwort, ausgedrückt in der Weise unserer analytischen Geometrie: „Es seien x, y, z, t die rechtwinkeligen Coordinaten eines Raumes von vier Dimensionen, so muss sein für jeden Punkt unseres Raumes von drei Dimensionen x² + y² + z² + t² = R², wo R eine unbestimmt bleibende Constante, die im Euclidischen Raume unendlich ist.“ — Ich möchte Sie bitten, mich wissen zu lassen, ob Riemann's (Seite 139) Aufsatz schon gedruckt ist, oder ob Aussicht ist, dass er bald gedruckt werden könne, was mir höchst wünschenswerth erscheint; eventualiter ob Riemann von demselben Ausgangspunkte ausgegangen ist, dann würde nämlich meine Arbeit unnütz, und ich möchte dann nicht mehr so viel Zeit und Kopfschmerzen daran verwenden, als sie mich schon gekostet haben.“

Als ihm Schering darauf mitgetheilt hatte, dass „das wesentlichste Moment in Riemann's Untersuchung der Satz bildet, dass die von Gauß als Krümmungsmaass definirte Grösse eine Differentialinvariante für homogene Differentialausdrücke zweiten Grades erster Ordnung mit zwei Variabeln bedeutet“, antwortet ihm Helmholtz bereits am 18. Mai:

„Dank für das Exemplar von Riemann's Habilitationsschrift … Beiliegend sende ich Ihnen eine kurze Darstellung desjenigen, was in meinen Arbeiten über denselben Gegenstand von Riemann's Arbeit nicht gedeckt wird, mit der Bitte, es der Königl. Gesellschaft zum Abdruck in den Göttinger Anzeigen (Sitzungsberichten) zu überreichen. Ich glaube, dass eine vollständige Ausarbeitung des Ganzen im Zusammenhange wohl wünschenswerth sein wird, und ich möchte sie dann am liebsten in den Abhandlungen Ihrer Gesellschaft, wo Riemann's steht, gedruckt sehen. Ich erlaube mir deshalb die Frage, ob Abhandlungen correspondirender Mitglieder der Gesellschaft, was ich bin, aufgenommen werden, und wann etwa wieder der Druck eines neuen Bandes beginnen würde … Verzeihen Sie um Riemann's willen, wenn ich Ihnen mit diesen Dingen Mühe mache.“

Schon wenige Tage darauf hielt er am 22. Mai in Heidelberg den oben erwähnten Vortrag, den er noch am 30. April 1869 durch einen Zusatz ergänzte, während die Arbeit selbst in den Nachrichten der Göttinger Gesellschaft am 3. Juni 1868 erschien.

Die physiologisch-optischen Untersuchungen hatten (Seite 140) Helmholtz zur Ueberzeugung geführt, dass, so wie beim Acte des Sehens gleichzeitig zwei verschiedene Empfindungen unverschmolzen zum Bewusstsein kommen, und daher ihre Verschmelzung zu dem einfachen Anschauungsbilde der körperlichen Welt durch einen Act des Bewusstseins auf Grund der Erfahrung geschieht, es überhaupt unmöglich ist, den Theil unserer Anschauungen, welcher der unmittelbaren Empfindung angehört, von demjenigen zu trennen, der erst durch Erfahrung gewonnen ist. Nur die Beziehungen des Raumes und der Zeit, also auch der Zahl sind nach ihm der inneren und äusseren Welt gemeinsam, in diesen allein also kann eine volle Uebereinstimmung der Vorstellungen mit den abgebildeten Dingen erstrebt werden. So trat naturgemäss die Frage an ihn heran, wodurch wird diese Uebereinstimmung der Raum- und Zeitvorstellungen mit den abgebildeten Dingen erreicht, was ist in diesen Vorstellungen a priorisch, was Ausfluss der Erfahrung, und welches ist der Ursprung der allgemeinen Raumanschauung überhaupt? Er ist weit davon entfernt, wie er das schon in seiner physiologischen Optik ausführt, Widerspruch zu erheben gegen die Kant'sche Auffassung des Raumes als transcendentaler Form der Anschauung. Aber er hatte auf dem Gebiete der Sinneswahrnehmungen sich klar gemacht, dass es z. B. in der Organisation unseres Auges liegt, alles, was wir sehen, nur als eine räumliche Vertheilung von Farben zu sehen, ohne dass durch diese Gesichtswahrnehmung selbst irgend welche räumliche oder zeitliche Aufeinanderfolge der Farben bedingt wird, —- und da lag für ihn die Frage nahe, ob denn die transcendentale Form der Raumanschauung nothwendig die Annahme nach sich zieht, dass nach oder neben bestimmten Raumwahrnehmungen auch eine andere bestimmte eintreten müsse, oder ob darin die Annahme gewisser Axiome eingeschlossen ist.

Es war zunächst sein Bestreben, die Begriffsentwickelungen in der Geometrie von den Ergebnissen der Erfahrung, (Seite 141) welche scheinbar als Denknothwendigkeiten auftreten, zu sondern, während er erst in seiner zehn Jahre später gehaltenen Rede über die Thatsachen der Wahrnehmungen die Resultate seiner Forschungen zum Aufbau eines einheitlichen philosophischen Systems, welches wesentlich von dem Kant'schen abwich, zusammenfasste. War die Abweichung von Kant auch schon theilweise früher in seiner physiologischen Optik hervorgetreten, so vollzog sie sich doch erst entschieden in den Arbeiten vom Jahre 1868 über die Axiome der Geometrie. In einem 20 Jahre später abgegebenen Gutachten über ein Werk, welches damals allgemeineres Interesse erregte, führt er aus:

„Die Kantianer strictester Observanz betonen vor Allem die Punkte, wo Kant meines Erachtens unter der unvollkommenen Entwickelung der Specialwissenschaften seiner Zeit gelitten und sich in Irrthümer verwickelt hat. Der Kernpunkt dieser Irrthümer sind die Axiome der Geometrie, die er für a priori gegebene Formen der Anschauung ansieht, die aber in der That Sätze sind, die durch Beobachtung geprüft und, wenn sie unrichtig wären, eventuell auch widerlegt werden könnten. Dies letztere habe ich zu erweisen gesucht. Damit fällt aber überhaupt die Möglichkeit fort, metaphysische Grundlagen der Naturwissenschaft geben zu können, an die Kant in der That glaubte. Nun ist es in seinen hinterlassenen Papieren für meinen Standpunkt sehr interessant, zu sehen, wie diese Angelegenheit den alternden Mann in seinem Innern beunruhigt hat, wie er sie hin- und hergewälzt, dafür immer wieder und wieder neue Formulirungen gesucht und keine gefunden hat, die ihn befriedigten. Dabei tauchen im Einzelnen immer noch sehr überraschende Einsichten auf, wie man sie bei einem Manne seiner geistigen Grösse erwarten darf, z. B. über die Natur der Wärme. … Meines Erachtens kann man, was Kant Grosses geleistet hat, nur halten, wenn man seinen Irrthum über die rein transcendentale Bedeutung der geometrischen und (Seite 142) mechanischen Axiome fallen lässt. Damit fällt aber auch jede Möglichkeit, sein System zu einer Grundlage der Metaphysik zu machen, und dies scheint mir der innere Grund zu sein, weshalb sich unter seinen Anhängern alle, die metaphysische Neigungen und Hoffnungen haben, an diese bestrittenen Punkte anzuklammern suchen.“

Dass sich Helmholtz mit diesen Problemen schon während der Ausarbeitung seiner physiologischen Optik beschäftigte, geht aus einigen an seinen damaligen mathematischen Collegen Hesse im Jahre 1865 gerichteten Briefen hervor, in denen er sich bezüglich der Eigenschaften der homogenen Functionen zweiten Grades mit beliebig vielen Variabeln Mittheilungen erbat. Aus einer noch früheren Zeit stammen einige kurze Aufzeichnungen, in denen er sich selbst erst in consequenter Durcharbeitung der in die Mathematik und Naturwissenschaften eintretenden Begriffe und Anschauungen die a priorischen Anschauungen des Raumes und der Zeit zu analysiren bestrebt ist. Abgesehen von Bruchstücken, welche ihrem Inhalte nach in die beiden oben genannten Arbeiten vom Jahre 1868 Aufnahme gefunden haben, die nachher besprochen werden sollen, findet sich unter anderem die als Disposition zu einer beabsichtigten Ausarbeitung zu betrachtende Notiz:

„Um den Sinn der Axiome klar zu machen, ist es nöthig, zu untersuchen, welche anderen Systeme der Raummessung logisch denkbar seien. Logisch denkbar in Bezug auf Grössenverhältnisse ist das algebraisch mögliche, da die Algebra nichts ist als die logische Entwickelung des Begriffes der Grösse und ihrer Gleichheit. — Punkt ein Ort im Raume, innerhalb dessen keine Verschiedenheit mehr zu finden ist. — Bei der Art unseres Wahrnehmungsvermögens muss ferner die Möglichkeit der Bewegung von jedem Punkte des Raumes in continuirlichem Uebergange zu jedem anderen vorausgesetzt werden, i. e. der Raum sei continuirlich zusammenhängend. Durch die Bewegung wird zugleich (Seite 143) die Anordnungsweise der Raumpunkte neben einander gegeben, ohne dass noch Grössenmessnng nöthig ist.

Eine netzförmige Anordnungsweise unterscheidet sich von einer ganz continuirlichen dadurch, dass eine begrenzte Anzahl einzelner discreter Punkte einen Theil vollständig abgrenzen kann. Linie ist eine Reihe von Punkten der Art, dass jeder Theil derselben durch eine endliche Anzahl von Punkten vollständig abgegrenzt werden kann. Eine geschlossene Linie ist eine solche, welche durch einen Punkt nicht in zwei Theile getheilt wird; eine ungeschlossene wird es. Eine zellenartige Anordnung des Raumes würde zulassen, dass ein Theil durch eine endliche Anzahl von Linien zu begrenzen wäre. Fläche ist ein Raumgebilde, welches durch eine endliche Anzahl von Linien vollständig abgegrenzt werden kann. Der wirkliche Raum ist dadurch charakterisirt, dass er nur durch Flächen abgegrenzt oder getheilt werden kann; ferner dadurch, dass er durch jede unbegrenzte Fläche (geschlossene einbegriffen) vollständig getheilt wird. Er ist also einfach zusammenhängend.“

Alle weiteren Aufzeichnungen, zu denen noch eine grosse Anzahl einzelner mathematischer Ausführungen von dem höchsten Interesse gehört, die uns Helmholtz auch als einen ausgezeichneten Algebraiker bewundern lassen, zeigen uns deutlich die Richtung, in welcher sich seine Untersuchungen über die Axiome der Geometrie, ohne Kenntniss der Forschungen Anderer über diesen Gegenstand, bewegten. Er beabsichtigte auch seine Resultate in Form einer zusammenhängenden Theorie eines Raumes von zwei, drei und mehr Dimensionen zu entwickeln, bis er durch die oben erwähnte Mittheilung von Schering bezüglich der Riemann'schen Habilitationsschrift veranlasst wurde, in seinen beiden Veröffentlichungen in Heidelberg und Göttingen nur das, was in seinen Untersuchungen zu den von Riemann gewonnenen Resultaten neu hinzukam, eingehend zu behandeln. (Seite 144)

Bei seinen Untersuchungen über die Sinneswahrnehmungen hatte sich Helmholtz die Frage aufgedrängt, was in den einfachsten Formen unserer Raumanschauung aus der Erfahrung entnommen sei, was nicht aus einer solchen herrühren könne, und wie viel nothwendig aus der Erfahrung entnommen werden müsse, um das Andere darauf zu stützen. Es waren bereits früher Gründe und Gegengründe dafür vorgebracht worden, dass entweder die geometrischen Axiome ursprünglich gegebene Formen unseres Anschauungsvermögens seien, welche aller Erfahrung vorausgingen und in der Organisation unseres Geistes begründet seien, oder im Gegentheil für Erfahrungssätze allgemeinster Art zu gelten haben. Um diese Untersuchung aus dem philosophisch-physiologischen Gebiete in das mathematische zu übertragen, suchte sich Helmholtz zum Zwecke einer präciseren Fragestellung klar zu machen, welche andere Beschaffenheiten des Raumes, als einer Grösse von mehreren Dimensionen, überhaupt logisch denkbar oder, da es sich hier um Grössenverhältnisse handelt, algebraisch möglich, wären, wenn man von den bisher angenommenen Axiomen unserer Geometrie absehen wollte.

Wesentlich war es für die Untersuchungen Helmholtz's gewesen, dass er bei seinen physiologisch-optischen Arbeiten zwei anderen Fällen von Grössen mehrerer Variabeln begegnet war, in deren Abmessungssystem sich gewisse fundamentale Unterschiede gegen die Raummessungen zeigten. Während im Raume zwischen je zwei Punkten eine Grössenbeziehung besteht, die mit der zwischen zwei anderen verglichen werden kann — nämlich das Zahlenverhältniss der Entfernung ab:cd der drei Punkte a,b,c — wird im Gebiete der Farben, wenn man die Unterschiede der Helligkeit mit hinzunimmt, die einfachste Maassbeziehung erst zwischen vier Farben a, b, c, d bestehen, wenn diese aus je zweien mischbar sind, also in der Farbentafel in gerader Linie liegen — nämlich das Verhältniss der beiden Verhältnisse, in denen a und c (Seite 145) gemischt werden müssen, um einerseits b, andererseits d zu geben. Er hatte ferner bei der Untersuchung der Bildung des Augenmaasses im zweidimensionalen Gesichtsfelde gefunden, dass die Messung sehr wahrscheinlich darauf beruht, dass durch die Bewegungen des Auges die Netzhaut wie ein fester Zirkel am Netzhautbilde entlang geführt wird, wobei aber ein Unterschied gegen die Messungen im äusseren Raume darin stattfindet, dass wir diesen Zirkel bei den Messungen so gut wie gar nicht zur Vergleichung verschieden gerichteter Linien gebrauchen können. Dadurch wurde Helmholtz auf den Einfluss aufmerksam, den das Messungsmittel auf das System der ganzen Messung und die Form ihrer Resultate ausübt, und diese Ueberlegungen führten ihn zu Untersuchungen, die sich nicht nur auf den Raum, sondern auch auf jedes andere Gebiet von mehreren Dimensionen beziehen, in welchem eine durch nur zwei Punkte gegebene Grösse (Entfernung) messend verglichen werden kann mit einer entsprechenden, die sich auf ein beliebig gelegenes anderes Punktepaar bezieht. Helmholtz zeigt, dass alles darauf ankomme, die speciellen Voraussetzungen zu formuliren, unter denen das Quadrat der Entfernung zweier unendlich naher Punkte die verallgemeinerte Form des Pythagoräischen Lehrsatzes annimmt, also durch eine homogene Function zweiten Grades von den Differentialien dreier beliebiger zur Abmessung der Lage der Punkte gebrauchten Grössen ist.

„Ich glaube, dass die von mir durchgeführte Betrachtung nicht ohne Wichtigkeit auch für die Frage von der Auffindung der geometrischen Grundsätze durch ihre ersten Entdecker ist. Denn wenn die Menschen nach einer mathematischen Formulirung suchten, der sie ihre mehr oder weniger genauen Beobachtungen und Messungen anpassen konnten, so konnten sie keine andere, die sich hätte consequent durchführen lassen, finden, als die im Pythagoräischen Lehrsatz ausgesprochene, weil es in der That keine (Seite 146) andere gab. Und darin ist, glaube ich, auch die eigenthümliche Art von Ueberzeugung begründet, die wir von den sowohl theoretisch als praktisch unbeweisbaren Axiomen haben. Es bleibt uns nämlich keine Wahl, sie anzunehmen, wenn man nicht auf alle Möglichkeit der Raummessung verzichten will.“

Helmholtz sieht nun zunächst völlig ab von Kant's Lehre der a priori gegebenen Formen der Anschauung und der Axiome der Geometrie und legt sich die Frage nach den Thatsachen vor, welche der Geometrie zu Grunde liegen, oder die Frage, welche Sätze der Geometrie sprechen Wahrheiten von thatsächlicher Bedeutung aus, welche dagegen sind nur Definitionen oder Folgen von Definitionen und der besonderen gewählten Ausdrucksweise. Die Beantwortung dieser Frage bietet aber deshalb so grosse Schwierigkeiten, weil man es in der Geometrie stets mit idealen Gebilden zu thun hat, denen sich die körperlichen Gebilde der wirklichen Welt immer nur annähern; die Entscheidung darüber, ob z. B. die Flächen eines Körpers eben, seine Kanten gerade sind u. s. w., kann nur mit Hülfe der geometrischen Sätze getroffen werden, deren thatsächliche Richtigkeit erst erwiesen werden soll. Man sieht auch leicht, dass ausser den gewöhnlich für die Geometrie hingestellten Axiomen von Euclid noch eine Reihe von weiteren Thatsachen stillschweigend vorausgesetzt wird. Es ist wesentlich zu beachten, dass wir uns nur solche Raumverhältnisse anschaulich vorstellen können, welche im wirklichen Räume möglicher Weise darstellbar sind, und dass wir uns daher durch diese Anschaulichkeit nicht verleiten lassen dürfen, etwas als selbstverständlich vorauszusetzen, was in Wahrheit eine besondere und nicht selbstverständliche Eigenthümlichkeit der uns vorliegenden Aussenwelt ist.

Da aber die analytische Geometrie die Gebilde des. Raumes nur als Grössen behandelt, welche durch andere (Seite 147) Grössen bestimmt werden, indem alle uns bekannten Raumverhältnisse messbar, also auf Bestimmung von Grössen, Linienlängen, Winkeln, Flächen u. s. w. zurückgeführt werden können, so wird dieselbe zu ihren Beweisen die Anschauung nicht brauchen, und Helmholtz wurde durch diese Ueberlegung naturgemäss zur Formulirung der Frage geführt, welche analytischen Eigenschaften des Raumes und der Raumgrössen müssen für die analytische Geometrie vorausgesetzt werden, um deren Sätze vollständig von Anfang her zu begründen. Er gewann damit den Vortheil, die Möglichkeit folgerichtiger Durchführung eines abweichenden Systemes von Axiomen vollständig überblicken zu können, da die in der analytischen Geometrie auszuführende Rechnung eine rein logische Operation ist, welche keine Beziehung zwischen den der Rechnung unterworfenen Grössen ergeben kann, die nicht schon in den Gleichungen, welche den Ansatz der Rechnung bilden, enthalten ist.

Durch die Untersuchungen von Gauß war gezeigt worden, dass, während sich das Quadrat der Länge eines Linienelementes in der Ebene durch die Summe der Quadrate der Incremente der beiden rechtwinkligen Coordinaten ausdrückt, sich das Quadrat eines Linienelementes auf einer beliebigen Fläche als homogene Function zweiten Grades der Incremente zweier allgemeiner Coordinaten darstellt, welche die Lage eines Punktes auf einer Fläche bestimmen. Wenn Figuren von endlicher Grösse nach allen Theilen einer solchen Fläche ohne Veränderung ihrer in der Fläche selbst zu machenden Abmessungen beweglich und um jeden beliebigen Punkt drehbar sein sollen, so muss ferner die Fläche in allen ihren Punkten ein constantes Krümmungsmaass haben, wobei das Krümmungmaass der Fläche in einem Punkte von Gauß definirt ist als das reciproke Verhältnis eines unendlich kleinen, diesen Punkt umschliessenden Flächenstückes zu demjenigen Flächentheil, welcher durch, zu den Normalen parallele, Kugelradien auf der Einheitskugel (Seite 148) abgebildet wird. Aber selbst auf Flächen constanten Krümmungsmaasses, wo also die freie Beweglichkeit der Figuren möglich ist, würde die Geometrie eine völlig von der unserigen abweichende Gestalt gewinnen.

Helmholtz geht von der Annahme aus, dass es uns als Bewohnern eines Raumes von drei Dimensionen möglich ist, die verschiedenen Arten, in denen flächenhafte Wesen ihre Raumvorstellungen ausbilden, uns zur Anschauung zu bringen und deren sinnliche Eindrücke uns auszumalen; Räume von mehr als drei Dimensionen können wir jedoch nicht mehr anschauen, da alle unsere Mittel sinnlicher Wahrnehmung sich nur auf einen dreidimensionalen Raum erstrecken — und nun führt er die Geometrie näher aus, wie sie sich verstandbegabten Wesen von nur zwei Dimensionen darstellen würde.

Er wirft die Frage auf, was dann aus den Axiomen unserer Geometrie wird, dass es zwischen zwei Punkten nur eine kürzeste Linie, die gerade Linie, giebt, dass ferner durch drei nicht in gerader Linie liegende Punkte des Haumes eine Fläche, die Ebene, gelegt werden kann, in welche jede zwei ihrer Punkte verbindende gerade Linie ganz hineinfällt, und dass endlich durch einen ausserhalb einer geraden Linie liegenden Punkt zu dieser nur eine einzige sie niemals schneidende, parallele Gerade gelegt werden kann. Jene Flächenwesen würden freilich ebenfalls im Allgemeinen kürzeste Linien zwischen zwei Punkten ziehen können, die er geradeste Linien nennt, aber schon in dem einfachsten Falle der Kugel würden zwischen je zwei Polen sich unendlich viele geradeste Linien ziehen lassen; parallele, sich nicht schneidende geradeste Linien würde man gar nicht ziehen können, und die Summe der Winkel im Dreieck würde immer grösser sein als zwei Rechte und um so grösser, je grösser die Fläche des Dreiecks. Der Raum jener Wesen würde allerdings unbegrenzt, aber endlich ausgedehnt gefunden oder mindestens vorgestellt werden (Seite 149) müssen. Nur wenn das constante Krümnmngsmaass den Werth Null hat, also die Fläche nach Gauß auf einer Ebene durch Biegung ohne Dehnung und Zerreissung abwickelbar ist, würde unsere Geometrie Geltung behalten.

Aber zunächst handelte es sich weder für Riemann noch für Helmholtz darum, unter welchen Bedingungen unsere geometrischen Axiome erhalten bleiben, sondern um die Frage, unter welchen, bisher nicht klar erkannten Voraussetzungen wir überhaupt zur Kenntniss unserer Axiome gelangt sind. Riemann legte dar, wie bei einer Verallgemeinerung des dreidimensionalen Raumes die allgemeinen Eigenthümlichkeiten des Raumes, seine Continuität und die Vielfältigkeit seiner Dimensionen dadurch ausgedrückt werden können, dass jedes besondere Einzelne in der Mannigfaltigkeit, die es darbietet, also jeder Punkt bestimmt sei durch Abmessung von n continuirlich und unabhängig von einander veränderlichen Grössen, seinen Coordinaten, so dass der Raum eine n-fach ausgedehnte Mannigfaltigkeit wird, und wir ihm n Dimensionen zuschreiben. Riemann fügt als weitere Forderung hinzu, dass die Länge einer Linie unabhängig sei von Ort und Richtung, dass also jede Linie durch jede andere messbar sei, und da in unserem wirklichen Räume das Maass eines jeden Linienelementes die Quadratwurzel aus einer homogenen Function zweiten Grades der Incremente von drei Abmessungen irgend welcher Art ist, so geht er bei seiner allgemeinen Untersuchung von dieser Form des Linienelementes als von einer hypothetischen aus. Er verallgemeinert endlich die Definition des Krümmungsmaasses auf den Raum von n Dimensionen und zeigt, dass, wenn er schliesslich noch die Forderung hinzufügt, dass endliche Raumgebilde ohne Formveränderung überall hin beweglich und in jeder Richtung drehbar sein sollen, das Krümnmngsmaass constant sein muss. Es zeigt sich dabei, dass durch die zu Grunde gelegten Voraussetzungen die Unendlichkeit der Ausdehnungen des dreidimensionalen Raumes (Seite 150) nicht gefordert wird; der Raum könnte auch in Bezug auf eine vierfach ausgedehnte Mannigfaltigkeit das sein, was für eine dreifache Mannigfaltigkeit eine Fläche mit constantem Krümmungsmaass ist.

Die Untersuchung von Helmholtz war grösstentheils implicite schon in der von Riemann enthalten, lieferte jedoch in einer Beziehung wesentlich Neues und wurde gerade dadurch für alle weiteren Folgerungen und für die Frage nach den Axiomen der Geometrie von grosser Bedeutung. Er suchte nämlich die Bedingungen aufzustellen, unter denen der von Riemann hypothetisch angenommene, verallgemeinerte Pythagoräische Satz gültig war, und machte die von diesem erst zum Schluss seiner Untersuchung eingeführte Forderung, dass Raumgebilde ohne Formveränderung denjenigen Grad von Beweglichkeit hahen sollen, den die Geometrie voraussetzt, von Anfang an zur Grundlage seiner Betrachtungen.

„Uebrigens muss ich bekennen, dass, wenn auch durch die Veröffentlichung von Riemann's Untersuchungen die Priorität in Bezug auf eine Reihe meiner eigenen Arbeitsresultate vorweg genommen ist, es für mich bei einem so ungewöhnlichen und durch frühere Versuche eher discreditirten Gegenstande von nicht geringem Gewicht war, zu sehen, dass ein so ausgezeichneter Mathematiker dieselben Fragen seines Interesses gewürdigt hatte, und dass es mir eine gewichtige Bürgschaft für die Richtigkeit des eingeschlagenen Weges war, ihn als Gefährten darauf anzutreffen.“

Dass alle ursprüngliche Raummessung auf Beobachtung der Congruenz beruht, bildete für Helmholtz den Ausgangspunkt der Untersuchung. Da aber von Constatirung der Congruenz nicht die Rede sein kann, wenn nicht feste Körper oder Punktsysteme in unveränderlicher Form zu einander bewegt werden können, und wenn nicht Congruenz zweier Raumgrössen ein unabhängig von allen (Seite 151) Bewegungen bestehendes Factum ist, so stellte er sich die Aufgabe, die allgemeinste analytische Form einer mehrfach ausgedehnten Mannigfaltigkeit zu suchen, in der die verlangte Art der Bewegungen möglich ist. Er prüft zunächst, in wie weit die von ihm aufgestellten Voraussetzungen seiner Untersuchung, welche 1. die Continuität und Dimensionen, 2. die Existenz beweglicher und in sich fester Körper, 3. die freie Beweglichkeit, 4. die Unabhängigkeit der Form fester Körper von der Drehung betreffen, die Möglichkeit verschiedener Systeme der Geometrie einschränken. Die gemachten Annahmen führen ihn zu einem von der Richtung unabhängigen Maass des Linienelementes in der Form, wie es Riemann verlangt, und er fasst die von ihm aufgestellten Bedingungen hierfür kurz dahin zusammen, dass ein Punkt einer n-fachen Mannigfaltigkeit durch n Coordinaten bestimmt ist, dass ferner zwischen den 2n Coordinaten eines unendlich benachbarten Punktepaares eine von der Bewegung des letzteren unabhängige Gleichung besteht, welche für alle congruenten Punktepaare dieselbe ist, und dass endlich bei sonst vollkommen freier Beweglichkeit des festen Körpers die Eigenschaft der Monodromie des Raumes erfüllt sein soll, wonach, wenn ein fester Körper von n Dimensionen sich um n - 1 feste Punkte dreht, die Drehung ohne Umkehr in die Anfangslage zurückführt. Indem er nun diese Bedingungen auf den Fall von drei unabhängigen Variabeln anwendet, kann er auf rein analytischem Wege zeigen, dass eine homogene Function zweiten Grades der Incremente derselben existirt, welche bei der Drehung unverändert bleibt, und dass es somit ein von der Richtung unabhängiges Maass des Linienelementes giebt.

Bei der Fortführung seiner Betrachtungen schlich sich ein Versehen durch die Behauptung ein, dass, wenn noch die unendliche Ausdehnung des Raumes gefordert wird, keine andere Geometrie möglich ist als die von Euclid gelehrte, während, wie Beltrami nachgewiesen hat, noch (Seite 152) die Geometrie von Lobatschewsky existiren kann, nach welcher in dem nach allen Richtungen unendlich ausgedehnten Raume noch Figuren, die einer gegebenen congruent sind, in allen Theilen desselben construirt werden können, ferner zwischen je zwei Punkten nur eine kürzeste Linie möglich ist, aber der Satz von den Parallellinien nicht mehr zutrifft. Nur wenn das Krünmrangsmaass des Raumes überall den Werth Null hat, entspricht ein solcher Raum den Axiomen des Euclid, und diesen Raum nennt Helmholtz dann einen ebenen Raum. Ist das Krümmungsmaass constant und positiv, so erhalten wir den sphärischen Raum, in welchem die geradesten Linien in sich zurücklaufen, und es keine Parallelen giebt; ein solcher Raum ist, wie die Oberfläche einer Kugel, unbegrenzt, aber nicht unendlich gross. Ist endlich das Krümmungsmaass constant und negativ, so laufen in solchen pseudosphärischen Flächen die geradesten Linien in das Unendliche aus, und in jeder ebensten Fläche lässt sich durch jeden Punkt ein Bündel von geradesten Linien legen, welche eine gegebene andere geradeste Linie jener Fläche nicht schneiden. In einem Raume, dessen Krümmungsmaass von Null verschieden ist, werden Dreiecke von grossem Flächeninhalt eine andere Winkelsumme haben als kleine; jedoch berechtigt uns das Resultat der geometrischen und astronomischen Messungen, welche die Winkelsumme eines Dreieckes nur nahezu und nie streng gleich zwei rechten Winkeln ergeben können, offenbar nur, zu schliessen, dass das Krümmungsmaass unseres Raumes sehr klein ist; dass es in Wirklichkeit verschwindet, lässt sich nicht beweisen, es ist ein Axiom.

Sehr interessant ist die in seinem Vortrage gegebene Ausführung, in welcher Helmholtz zeigt, dass wir uns den Anblick einer pseudosphärischen Welt nach allen Richtungen hin ausmalen können, und dass somit die Axiome unserer Geometrie durchaus nicht in der gegebenen Form unseres Anschauungsvermögens begründet sein können. Beltrami (Seite 153) hatte einen pseudosphärischen Raum im Innern einer Kugel des Euclid'schen Raumes so abgebildet, dass jede geradeste Linie und jede ebenste Fläche des ersteren durch eine gerade Linie und eine Ebene in der letzteren vertreten wird; Helmholtz macht es durch ähnliche Abbildungsbetrachtungen plausibel, dass, wenn unsere Augen mit passenden Convexgläsern bewaffnet wären, uns der pseudosphärische Raum verhältnissmässig gar nicht sehr fremdartig erschiene, und dass wir nur in der ersten Zeit bei der Abmessung der Grösse und Distanz fernerer Gegenstände Täuschungen unterworfen sein würden.

Die Behauptung von Helmholtz, dass, wenn zu den von ihm aufgestellten Bedingungen noch die Forderung hinzukäme, dass der Raum unendlich ausgedehnt sei, die Euclid'sche Geometrie eindeutig bestimmt werde, widerlegt zuerst Beltrami in einem sehr interessanten, am 24. April 1869 von Bologna aus an Helmholtz gerichteten Briefe: …

[ Brief Beltramis vom 24. April 1869 an Helmholtz ]
(Seite 156) Helmholtz erkannte sogleich sein Versehen, welches darauf beruhte, dass er wegen einer imaginären Constante einen Fall ausgeschlossen hatte, welcher einer reellen Deutung fähig war, und berichtigte schon wenige Tage später, am 30. April 1869, diesen Punkt in einer Mittheilung an den naturwissenschaftlichen Verein in Heidelberg.

Die philosophischen Consequenzen dieser Untersuchungen hatte Helmholtz, wie aus seinen Aufzeichnungen hervorgeht, schon damals gezogen, aber er hat dieselben erst im Zusammenhange entwickelt in seiner Rede über „die Thatsachen in der Wahrnehmung“, welche er zur Stiftungsfeier der Friedrich Wilhelms-Universität zu Berlin im Jahre 1878 gehalten, und in der im „Mind“ im April desselben Jahres veröffentlichten Note: „Ueber den Ursprung und Sinn der geometrischen Sätze; Antwort gegen Herrn Professor Land“, welcher Helmholtz's Arbeit über die Axiome der Geometrie einer Kritik unterzogen hatte. Um den Zusammenhang mit den oben entwickelten Anschauungen zu wahren, möge der Inhalt dieser beiden Veröffentlichungen schon hier besprochen werden.

Die Grundprobleme der Erkenntnisstheorie „Was ist Wahrheit in unserem Anschauen und Denken? in welchem Sinne entsprechen unsere Vorstellungen der Wirklichkeit?“ beschäftigten seit dem Anfange des neunzehnten Jahrhunderts Philosophie und Naturwissenschaften. Während die Philosophie alles aus den Einwirkungen der Körperwelt Stammende auszuscheiden und nur das zu behalten sucht, was der eigenen Thätigkeit des Geistes angehört, muss die (Seite 157) Naturwissenschaft, welche die Gesetze sucht für die Welt der Wirklichkeit, das absondern, was Definition, Bezeichnung, Vorstellungsform und Hypothese ist — beide vollziehen also dieselbe Scheidung, wenden jedoch verschiedenen Theilen ihr Interesse zu. Schon zur Zeit seiner ersten physiologisch-optischen Arbeiten hatte Helmholtz hervorgehoben, dass die Wahrnehmung von im Raume vertheilten Objecten das Anerkennen einer gesetzlichen Verbindung zwischen unseren Bewegungen und den dabei auftretenden Empfindungen einschliesst, und dass alles, was in der Anschauung zu dem rohen Material der Empfindungen hinzukommt, in Denken aufgelöst werden kann.

„Wenn „begreifen“ heisst Begriffe bilden, und wir im Begriffe einer Classe von Objecten zusammensuchen und zusammenfassen, was sie von gleichen Merkmalen an sich tragen, so ergiebt sich ganz analog, dass der Begriff einer in der Zeit wechselnden Reihe von Erscheinungen das zusammenzufassen suchen muss, was in allen ihren Stadien gleich bleibt.“

„Suchet den ruhenden Pol in der Erscheinungen Flucht“ war noch bis an sein Ende das Lieblingscitat, wenn er in die Fülle ungeordneter physikalischer Erscheinungen, die jeder Erklärung zu spotten schienen, Ordnung und Gesetz zu bringen sich bemühte. Was ohne Abhängigkeit von anderem, unabhängig von der Zeit gleich bleibt, ist für ihn die Substanz; das gleichbleibende Verhältniss zwischen veränderlichen Grössen ist das sie verbindende Gesetz — dieses nehmen wir direct wahr, der Begriff jener kann nur durch erschöpfende Prüfung gewonnen werden, bleibt jedoch immer problematisch. Wir erkennen das Gesetzliche als ein unabhängig von unserem Vorstellen Bestehendes an, als Ursache, die wir dann als Kraft bezeichnen, wenn wir das Gesetz als unserm Willen gleichwerthig anerkennen, und dieses als etwas den Ablauf der Naturprocesse Zwingendes erscheint. Das Gesetz, welches das Vertrauen auf die vollkommene (Seite 158) Begreifbarkeit der Welt ausspricht, ist das Causalgesetz, ein a priori gegebenes, transcendentales Gesetz, für welches die Erfahrung einen Beweis nicht liefern kann. „Künstler und Forscher streben, wenn auch in verschiedener Behandlungsweise, dem Ziele zu, neue Gesetzlichkeit zu entdecken.“

Ein Blatt in seinem Nachlass giebt uns eine nur flüchtig hingeworfene, aber äusserst interessante Analyse des thatsächlich vorhandenen Wissens:

„a) Des Inhaltes: 1. Unmittelbare reine Perceptionen sind nur die Sinnesempfindungen. 2. Die Anschauungsbilder äusserer individueller Objecte sind Inbegriffe einer grossen Zahl verschiedener Anschauungen. 3. Der Begriff eines daseienden Dinges enthält die Zuversicht ausgesprochen, dass ich bei geeigneten Bedingungen der Beobachtung stets wieder dieselben Sinneseindrücke von dem Dinge empfangen werde. 4. Die daseienden Dinge verändern sich, aber wir suchen und finden Gesetze für diese Veränderungen, d. h. Begriffe für dieselben, die selbst unverändert bestehen bleiben, aber nur in Wirksamkeit, d. h. Erscheinung treten, so oft die gleichen Bedingungen ihrer Wirksamkeit wieder hergestellt sind. Dadurch unterscheiden sie sich vom Dasein der Substanzen, deren Erscheinungsweise nur vom Beobachter abhängig betrachtet wird, die der Naturgesetze von den Veränderungen im Daseienden. 5. Die Aufstellung eines Naturgesetzes enthält die Zuversicht, dass in allen künftigen entsprechenden Fällen die Erscheinungen sich dem Gesetze fügen werden. Ein vollständiges Gesetz, welches die Bedingungen und die Grösse des Erfolges vollständig und genau angiebt, ist für unser Wissen der genügende Grund, sicher auf den Erfolg zu schliessen. Ebenso ist es dann objectiv anzusehen als Kraft, als der objectiv genügende Grund des Eintrittes. 6. Die naturwissenschaftlichen Hypothesen sind Versuche, Gesetze von einer weiter ausgedehnten Bedeutung zu finden, als die Beobachtungen unmittelbar erlauben. (Seite 159)

Die empirisch nachweisbare Bedeutung des Wissens . . . . . Die Vorstellungen sind Zeichen, welche durch Bewegungen rückübersetzbar sind in die Wirklichkeit. Reell gleich ist nur das Zeitverhältniss. —

Die psychischen Processe, die der Entstehung des Wissens zu Grunde liegen . . . . . Der Urquell alles Wissens ist die Uebertragung des bisher Erfahrenen in das zukünftig zu Erfahrende. Deduction der Grundbegriffe, die aus der Natur des Begreifens und der vorausgesetzten Möglichkeit vollständiger Lösung dieser Aufgabe herfliessen.“

Von diesen Anschauungen ausgehend sucht Helmholtz die Anknüpfung an Kant, welcher selbst schon die Qualitäten der Sinnesempfindungen als durch die Eigenthümlichkeiten unseres Anschauungsvermögens gegeben ansah — was erst die neuere Physiologie als unzweifelhaft hingestellt — aber zugleich auch Raum und Zeit in derselben Weise auffasste, da wir nichts in der Aussenwelt wahrnehmen können, ohne dass es zu einer bestimmten Zeit geschieht und an einen bestimmten Ort gesetzt wird. Auch hier stimmt Helmholtz noch unbedingt Kant zu, welcher die Zeit als die gegebene und nothwendige transcendentale Form der innern, den Raum als die entsprechende Form der äusseren Anschauung bezeichnet; er pflichtet ihm auch darin bei, dass die Raumanschauung eine subjective Anschauungsform ist, wie die übrigen Empfindungsqualitäten, da der Raum uns auch sinnlich mit den Qualitäten unserer Bewegungsempfindungen als das erscheint, durch welches wir uns bewegen und blicken können. Der Raum ist ihm ferner auch die nothwendige Form der äusseren Anschauung, weil eben das, was wir räumlich wahrnehmen, für uns die Aussenwelt ist, alles andere die Welt der inneren Anschauung oder des Selbstbewusstseins, und es ist ihm auch wie Kant der Raum eine gegebene, vor aller Erfahrung mitgebrachte Form der Anschauung, da seine Wahrnehmung an die Möglichkeit motorischer (Seite 160) Willensimpulse geknüpft ist, für die uns die geistige und körperliche Fähigkeit durch unsere Organisation gegeben sein muss, ehe wir Raumanschauung haben können, — aber Kant ging weiter, indem er nicht nur annahm, dass die allgemeine Form der Raumanschauung gegeben sei, sondern dass dieselbe auch von vornherein und vor aller möglichen Erfahrung gewisse nähere Bestimmungen enthalte, nämlich die bekannten Axiome der Geometrie, dass diese also auch transcendentaler Natur seien.

Hier scheiden sich die Wege von Kant und Helmholtz, welcher die Frage, ob die Axiome der Geometrie transcendentale oder Erfahrungssätze sind, völlig trennt von der, ob der Raum überhaupt eine transcendentale Anschauungsform sei oder nicht.

Kant's Lehre von den a priori gegebenen Formen der Anschauung ist ein sehr glücklicher und klarer Ausdruck der Sachverhältnisse, aber diese Formen müssen inhaltsleer und frei genug sein, um jeden Inhalt, der überhaupt in die betreffende Form der Wahrnehmung eintreten kann, aufzunehmen. Die Axiome der Geometrie aber beschränken die Anschauungsform des Raumes so, dass nicht mehr jeder denkbare Inhalt darin aufgenommen werden kann, wenn überhaupt Geometrie auf die wirkliche Welt anwendbar sein soll.“

Wenn die Axiome wirklich eine angeborene Anschauungsform des Raumes wären, so würden wir zu ihrer Anwendung auf die Erfahrungswelt erst berechtigt sein, wenn durch Beobachtung und Versuch constatirt wäre, dass die nach der vorausgesetzten transcendentalen Anschauung gleichwerthigen Raumtheile auch physisch gleichwerthig seien. Helmholtz weist nun die Annahme Kant's von der Apriorität der geometrischen Axiome als überflüssig und unrichtig nach. Gestützt auf seine vorher besprochenen Untersuchungen kann er zeigen, dass sich eine Geometrie auf Grund der einzigen Definition der physischen (Seite 161) Gleichwerthigkeit construiren lässt, nach welcher unter gleichen Umständen und zu gleicher Zeit gleiche physische Vorgänge oder Zustände ablaufen, wobei sich die Gleichwerthigkeit durch Messung mittelst eines Zirkels bewerkstelligen liesse; es würde sich daraus eine Geometrie ergeben, deren Sätze sich freilich mit unseren Axiomen decken würden, welche aber lediglich auf Erfahrungstatsachen gegründet ist, so dass wir die a priorischen Axiome gar nicht brauchen. Aber es ist auch die Annahme von Kant, dass räumliche Verhältnisse, welche den Axiomen von Euclid widersprächen, gar nicht vorstellbar seien, nach den früheren Untersuchungen unrichtig, wie denn Helmholtz überhaupt die ganze Auffassung der Anschauung von Kant, als eines einfachen, nicht weiter aufzulösenden psychischen Vorganges, durch den Entwickelungszustand der Sinnesphysiologie beeinflusst ansieht.

„Wenn man die Reihe der Sinneseindrücke, welche nach den bekannten Gesetzen derselben von einer nie gesehenen Sache zu Stande kommen müssten, vollständig und eindeutig angeben kann, muss man meines Erachtens die Sache für anschaulich vorstellbar erklären; da dieselbe der Voraussetzung nach noch nie beobachtet sein soll, kann keine frühere Erfahrung uns zu Hülfe kommen und bei der Auffindung der zu fordernden Reihe von Eindrücken unsere Phantasie leiten, sondern es kann dies nur durch den Begriff des vorzustellenden Objectes oder Verhältnisses geschehen. Der Begriff von Raumgebilden, die der gewöhnlichen Anschauung nicht entsprechen sollen, kann nur durch die rechnende analytische Geometrie sicher entwickelt werden.“

Den Schluss seiner geistvollen Rede über die Thatsachen der Wahrnehmung bildet wiederum die Gegenüberstellung der nativistischen und empiristischen Theorie. Er versucht den Nachweis zu führen, dass die nativistischen Hypothesen nichts erklären, und dass ihre Annahmen, fertige (Seite 162) Vorstellungen von Objecten würden durch den organischen Mechanismus hervorgebracht, viel bedenklicher seien als die Annahmen der empiristischen Theorie, nach welcher nur das unverstandene Material von Empfindungen von den äusseren Einwirkungen herrühre, alle Vorstellungen aber daraus nach den Gesetzen des Denkens gebildet werden. Er hält die nativistischen Annahmen aber auch für unnöthig, und ist der Ansicht, dass für die Einrichtungen, welche diese voraussetzen, höchstens ein gewisser pädagogischer Werth in Anspruch genommen werden kann, welcher das Auffinden der ersten gesetzmässigen Verhältnisse erleichtert.

Die mathematisch-philosophischen Untersuchungen, welche Helmholtz in seinen Arbeiten über die Axiome der Geometrie niedergelegt, hatten ihn wiederum sehr ermüdet; er schreibt am 28. März 1869 an Ludwig:

„Ich bin im Augenblick wieder bei elektrischen Studien über den zeitlichen Verlauf und die Ausbreitung von Entladungen, wozu mich physiologische Versuche und Fragen anregten. Die physiologische Optik und Psychologie habe ich absichtlich jetzt eine Weile liegen lassen. Ich fand, dass das viele Philosophiren zuletzt eine gewisse Demoralisation herbeiführt und die Gedanken lax und vage macht, ich will sie erst wieder eine Weile durch das Experiment und durch Mathematik discipliniren und dann wohl später wieder an die Theorie der Wahrnehmung gehen. Es ist auch gut, inzwischen zu hören, was die Anderen dazu sagen, was sie einzuwenden haben, was sie missverstehen u. s. w., und ob sie sich überhaupt für diese Fragen schon interessiren. Bisher ist mein Anhang in diesen Sachen noch klein, aber es gehören gute Leute dazu.“

  Fortsetzung des Kapitels


S. 125 - 162 aus:
Koenigsberger, Leo: Hermann von Helmholtz. - Braunschweig : Vieweg
Band 2. - 1903


Letzte Änderung: 24.05.2014     Gabriele Dörflinger   Kontakt

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