Leo Koenigsberger: Hermann von Helmholtz

Helmholtz als Professor der Physik in Berlin
von Ostern 1871 bis Ostern 1888


Anfang des Kapitels

Berlin 1877/79

Die Vielseitigkeit von Helmholtz wird immer grösser, die Höhe der Anschauung und Auffassung wissenschaftlicher Probleme immer staunenswerther. Jede neue Erscheinung verfolgt er mit dem grössten Interesse und ist stets gern bereit, in ausführlichen Briefen seine Ansichten darüber kund zu geben. Als ihm Kühne am Anfange des Jahres 1877 seine Optogramme überschickte, nahm er dessen Entdeckung mit Begeisterung auf und legte dieselben unmittelbar nach deren Empfang der Akademie vor; er schreibt ihm am 13. März 1877:

„Ich habe mich ungeheuer gefreut über diesen Fund; ich hatte mir immer hypothetisch eine photochemische Wirkung in der Netzhaut gedacht, aber nie daran gedacht, dass man sie würde nachweisen können. Nun bin ich neugierig auf die Farbenwirkung. Boll hat schon der hiesigen Akademie und den Lincei Mittheilungen darüber gemacht. Rothes Licht soll das Roth verstärken, blaues Licht es ausblassen, daneben unterscheidet er aber noch grünliche Stäbchen zwischen den rothen, die durch grünes Licht intensiver werden sollen. Ob das Grün mehr als ein Contrast ist, ist mir noch fraglich; aber dass anders gefärbte und ungefärbte Stäbchen zwischen den rothen lagen, habe ich bei seinen Demonstrationen im vorigen Sommer hier selbst gesehen.“

Und all' die ausgebreitete wissenschaftliche Bethätigung hinderte ihn nicht, als nach dem Tode Poggendorff's in demselben Jahre die Leitung der Annalen der Physik und Chemie auf G. Wiedemann überging, der Redaction, nach (Seite 234) der eigenen Aussage Wiedemann's, stets hülfsbereit zur Seite zu stehen und derselben über jede eingereichte Arbeit mathematisch-physikalischen Inhalts ausführliche schriftliche Gutachten abzugeben.

Professor an der Militär-Akademie

Nachdem er noch am 24. Juli 1877 zum Professor der Physik an der „medicinisch-chirurgischen Akademie für das Militär“, durch welche er selbst seinen Bildungsgang genommen, ernannt worden war, hielt er am 2. August dieses Jahres zur Feier des Stiftungstages der militär-ärztlichen Bildungsanstalten eine Rede „das Denken in der Medicin“, in welcher er das medicinische Studium als diejenige Schule pries,
„welche ihm eindringlicher und überzeugender, als es irgend eine andere hätte thun können, die ewigen Grundsätze aller wissenschaftlichen Arbeit gepredigt hat, Grundsätze so einfach und doch immer wieder vergessen, so klar und doch immer wieder mit täuschendem Schleier verhängt“.

Er hebt hervor, dass man in der Medicin mehr als auf anderen Wissensgebieten zur Einsicht geführt wird, dass erkenntnisstheoretische Fragen über die Methodik der Wissenschaft auch eine bedrängende Schwere und eine fruchtbare praktische Tragweite erlangen können; dass, wenn man auf wohl gesicherter Basis arbeitet, einem durch Irrthum nichts genommen wird, als das, worin er sich geirrt hat, dass aber, wo alles auf eine Hypothese gestellt ist, die nur dem entspricht, was man für wahr halten zu können wünscht, jeder Riss das ganze Gebäude der Ueberzeugungen einreisst. Und nun wendet er sich in überaus geistvoller Ausführung gegen die metaphysischen Systeme in der Naturforschung, ebenso wohl gegen die Spiritualisten, die sich als Wesen fühlen wollen, welche über das Maass der übrigen Natur hinausragen, wie gegen die Materialisten, welche durch ihr Denken mit denjenigen Begriffsformen, zu deren Ausbildung sie bis jetzt gelangt sind, die Welt unbedingt beherrschen (Seite 235) wollen. Wie er es früher und bis zu seinem Ende stets gethan, hebt er auch hier wieder eindringlich hervor, dass es keine andere Methode zur Feststellung des Kommenden giebt, als die Gesetze der Thatsachen durch Beobachtungen kennen zu lernen; wir können sie kennen lernen durch Induction, durch Herbeiführung und Beobachtung solcher Fälle, die unter das Gesetz gehören; dann erst beginnt das Geschäft des Deducirens.

Er führt klar und überzeugend aus, dass durch Kant's Zurückweisung der Ansprüche des reinen Denkens die spiritualistische Theorie zurückgedrängt worden sei, dass seine Kritik der reinen Vernunft eine fortlaufende Predigt gegen den Gebrauch der Kategorien des Denkens über die Grenzen der Erfahrung hinaus gewesen, und dass er in allen metaphysischen Systemen nur Gewebe von Trugschlüssen erkannt habe. Aber dadurch, dass Kant die Axiome der Geometrie als durch transcendentale Anschauung gegeben betrachtete, ist die reine Anschauung a priori der Ankerplatz der Metaphysiker geworden; der Ausdruck eben dieser Theorie in der Physiologie ist die nativistische Theorie. Daher sind die Versuche von so grosser Bedeutung, die reinen oder empirischen Anschauungen, die Axiome der Geometrie, die Grundsätze der Mechanik oder die Gesichtswahrnehmungen in ihre rationellen Elemente aufzulösen. Er ermahnt die jungen Naturforscher, sich dadurch nicht irre machen zu lassen, dass alle Secten der Metaphysiker sich darüber ereifern, „denn diese Untersuchungen legen die Axt an die scheinbar festeste Stütze, die ihren Ansprüchen noch blieb“. Aber auch den Materialismus hält Helmholtz für eine metaphysische Hypothese, die sich bisweilen für die Naturwissenschaften fruchtbar erwiesen hat, aber als Dogma dem Fortschritt der Wissenschaft ebenso hinderlich werden kann.

„Gedächtniss, Erfahrung, Uebung sind auch Thatsachen, deren Gesetze gesucht werden können, und welche sich nicht (Seite 236) wegdecretiren lassen, wenn sie auch nicht schon jetzt glatt und einfach auf die bekannten Gesetze der Erregung von Nervenfasern und deren Leitung zurückzuführen sind, so günstigen Spielraum der Phantasie das Gewirr der Ganglienfortsätze und Nervenfaserverbindungen im Gehirn darbieten mag.“

Tod seiner Tochter Käthe

Durch den Tod seiner Tochter Käthe und die unausgesetzte wissenschaftliche Arbeit war Helmholtz gemüthlich, körperlich und geistig angegriffen; auch nahm er manche Widerwärtigkeiten, die Neid und Missgunst ihm bereiteten, schwerer als sonst. Da war ihm seine Frau, welche mit ihren Kindern am Starnberger See weilte, eine Trösterin im edelsten Sinne:
„Ich sitze und träume stundenlang und denke an Dich, Du lieber Mann, und wünsche Dich her, ferne von allen Miserabilitäten. Die Natur ist eine grosse Lehrerin auch auf Gebieten, wo sie sonst nichts zu thun hat. Der relative Werth der Dinge kommt in ihrem Lichte so recht zu Tage.“

Hatte er noch in seiner eben besprochenen Rede seinen Schülern zurufen können:

„Nun noch eine Verwahrung; ich möchte nicht, dass Sie glaubten, meine Darstellung sei durch persönliche Erregung beeinflusst gewesen. Dass Jemand, der solche Meinungen hat, wie ich sie Ihnen vorgetragen, der seinen Schülern, wo er kann, den Grundsatz einschärft: „Ein metaphysischer Schluss ist entweder ein Trugschluss oder ein versteckter Erfahrungsschluss“, von den Liebhabern der Metaphysik und der Anschauungen a priori nicht günstig angesehen wird, brauche ich nicht aus einander zu setzen. Metaphysiker pflegen, wie Alle, die ihren Gegnern keine entscheidenden Gründe entgegen zu setzen haben, nicht höflich in ihrer Polemik zu sein; den eigenen Erfolg kann man ungefähr an der steigenden Unhöflichkeit der Rückäusserungen beurtheilen.“,
und nahm er auch sonst stets von unhöflichen (Seite 237) wissenschaftlichen Entgegnungen mit einer des grossen Forschers würdigen Vornehmheit Kenntniss, so übten doch die unqualificirbaren Angriffe auf seine Person und seine Familie einen deprimirenden Eindruck auf ihn aus, und es war eine kritische Zeit, welche Helmholtz damals durchlebte.

Rector der Berliner Universität

Da verband sich, wie es die philosophische Facultät schon früher gethan, die ganze Berliner Universität solidarisch mit ihm; sie wählte ihn, der erst wenige Jahre ihr angehörte, für das Jahr 1876 [sic!] zu ihrem Rector, und dieses glänzende Zeugniss von Vertrauen und Verehrung so vieler hervorragender Forscher, welche der Berliner Hochschule angehörten, gab ihm wieder Ruhe und Freudigkeit. Er suchte Erfrischung und Erholung in der Schweiz, ging in starken Märschen über die Grimsel, Eggischhorn, Belalp, wo er Tyndall besuchte, nach Zermatt und von dort mit seiner Frau nach Stresa, Mailand, Spezzia und Rom.

Noch auf der Reise verfasste er seine am 15. October 1877 zum Antritt des Rectorats gehaltenen Rede „Ueber die akademische Freiheit der deutschen Universitäten“, welche den Geist kennzeichnen sollte, der durch die Eigenartigkeit der deutschen Universitäten besonders gehegt und gepflegt wird, und den Helmholtz in der weit später von ihm verfassten Glückwunschadresse der Akademie zum 50jährigen Doctorjubiläum du Bois' in die Worte kleidet: „Es soll die Jüngeren lehren, dass ideale Ziele schon in diesem Leben erreichbar sind und ihren Lohn finden, freilich aber nur, wenn man die rechte Arbeit dafür einsetzt.“ Die Rede bietet gerade dadurch ein ganz hervorragendes Interesse, weil aus ihr sowie schon aus der zum Gedächtniss von Magnus 1871 gehaltenen der hohe sittliche, religiöse und politische Standpunkt erkennbar ist, den Helmholtz während seines ganzen Lebens festgehalten, ohne dass er je zu Fragen dieser Art öffentlich Stellung genommen.

Helmholtz sieht die Macht einer Nation nicht allein begründet in den Vorräthen von Lebensmitteln und Geld, (Seite 238) von Gussstahlkanonen und Panzerschiffen, sondern vor allem in der politischen und rechtlichen Organisation des Staates und in der moralischen Disciplin des Einzelnen, welche das Uebergewicht der gebildeten Nationen über die ungebildeten bedingt. Wo kein fester Rechtszustand ist, wo die Interessen der Mehrzahl des Volkes sich nicht in geordneter Weise geltend machen können, wo nicht den politischen Interessen der arbeitenden bürgerlichen Classe eine berechtigte Stimme in dem Rathe der Regierungen eingeräumt wird, da hält er eine Entwickelung der Macht des Staates für unmöglich. In dem Ringen und Streben wohlentwickelter Staaten ist aber, wie er später bei anderer Gelegenheit hervorhebt, bei der modernen Menschheit die Wissenschaft das einzig einigende Band geworden, welches unbedingt Frieden predigt; in ihr arbeitet jeder für das Wohl seines Volkes nicht nur, sondern für das der ganzen Menschheit, so weit die Menschen die Vorbildung besitzen, um von den Früchten der Wissenschaft Vortheil zu ziehen. Aber zur fruchtbaren Fortentwickelung der Wissenschaften ist die selbständige Ueberzeugung von der Richtigkeit der Resultate derselben als eine Folge gewissenhaftester Prüfung und entschlossener Arbeit nöthig, sie wird dann ein fruchtbarer Keim neuer Einsicht und die wahre Richtschnur des Handelns. Er betrachtet Deutschland im Vorrang des Kampfes gegen die Autorität stehend, es hat im 16. Jahrhundert für das Recht solcher Ueberzeugung als Blutzeuge gelitten. Schon in seiner Innsbrucker Rede hatte er hervorgehoben, dass in Deutschland eine grössere Furchtlosigkeit vor den Consequenzen der ganzen und vollen Wahrheit bestehe als anderswo, während in England und Frankreich die vielen und ausgezeichneten Naturforscher bisher fast immer vor gesellschaftlichen und kirchlichen Vorurtheilen sich beugen mussten, wenn sie nicht ihren gesellschaftlichen Einfluss und ihre Wirksamkeit schädigen wollten. In der voll erkannten Wahrheit sieht er das Heilmittel gegen die Gefahren und Nachtheile des halben Erkennens: (Seite 239)

„Ein arbeitsfrohes, massiges, sittenstrenges Volk darf solche Kühnheit üben, es darf der Wahrheit voll ins Antlitz zu schauen suchen; es geht nicht zu Grunde an der Aufstellung einiger voreiligen und einseitigen Theorien, wenn diese auch die Grundlagen der Sittlichkeit und der Gesellschaft anzutasten scheinen sollten.“

Aber gerade diese Liebe zur Wahrheit ist, wie er in seiner Magnus-Rede ausführt, bei den Deutschen auch wieder der Antrieb, die principiellen Fragen bis in ihre tiefsten Gründe zu verfolgen, unbekümmert um die praktischen Consequenzen und die nützlichen Anwendungen derselben. Die selbständige geistige Entwickelung der letzten drei Jahrhunderte hatte in Deutschland unter politischen Zuständen begonnen, welche das Hauptgewicht auf die theologischen Studien fallen liessen. Deutschland hatte Europa von der alten Zwingherrschaft befreit, aber durch die Reformation hatte das geistige Leben seinen alten Halt und seinen alten Zusammenhang verloren, alles musste in neuem Lichte erscheinen und neue Fragen aufregen. Da man nun hauptsächlich sittliche, ästhetische und metaphysische Probleme zu lösen hatte, so war es nach Helmholtz's Ansicht wohl begründet, dass sich die Gebildeten aller Nationen auf die Philosophie stürzten. Die Kritik der Erkenntnissquellen wurde vorgenommen, und der deutsche Geist konnte von der Metaphysik, die auf ihn eine gefährliche Anziehungskraft ausübte, nicht früher ablassen, bis er nichts mehr zu finden vermochte. Dazu kam, dass in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts das verjüngte geistige Leben der Nation anfing, seine künstlerischen Blüthen zu treiben, und aus der freudlosen bürgerlichen und politischen Existenz flüchteten sich alle Gemüther in das Land der Poesie oder das der Philosophie. „Die Arbeit des Naturforschers erschien eng, niedrig, gleichgültig neben den grossen Conceptionen der Philosophen und Dichter.“ Helmholtz erkennt wohl an, dass jene Strömung das napoleonische Joch (Seite 240) gebrochen und in den grossen Dichtungen uns den edelsten Schatz unserer Nation gegeben, aber

„sich in eine ideale Welt flüchten, ist eine falsche Hülfe von kurz dauerndem Erfolge, sie erleichtert nur dem Gegner sein Ziel, und wenn das Wissen immer nur sich selbst spiegelt, so wird es gegenstandslos und leer oder löst sich in Illusionen und Phrasen auf“.

Die Reaction gegen diese Richtung ist jedoch nicht nur im Gebiete der Naturwissenschaften, sondern ebenso im Kreise der Geschichte, der Kunstwissenschaft und Sprachforschung eingetreten, man hat überall begriffen, dass man erst die Thatsachen kennen muss, ehe man ihre Gesetze aufstellen kann.

Helmholtz richtet nun in seiner Rectoratsrede an die jungen Studirenden die Aufforderung, die Wissenschaft um ihrer selbst willen zu treiben, und erörtert Gedanken hoher sittlicher Anschauung, denen er bescheiden und in offener Selbsterkenntniss in seiner berühmten Tischrede im Jahre 1891 so schöne Worte geliehen:

„Ich will nicht sagen, dass in der ersten Hälfte meines Lebens, wo ich noch für meine äussere Stellung zu arbeiten hatte, neben der Wissbegier und dem Pflichtgefühl als Beamter des Staates nicht schon höhere ethische Beweggründe mitgewirkt hätten; jedenfalls war es schwerer, ihres wirklichen Bestehens sicher zu werden, so lange noch egoistische Motive zur Arbeit trieben. Es wird ja wohl den meisten Forschern ebenso gehen. Aber später, bei gesicherter Stellung, wo diejenigen, welche keinen inneren Drang zur Wissenschaft haben, ganz aufhören können zu arbeiten, tritt für die, welche weiterarbeiten, doch eine höhere Auffassung ihres Verhältnisses zur Menschheit in den Vordergrund. Sie gewinnen allmählich aus eigener Erfahrung eine Anschauung davon, wie die Gedanken, die von ihnen ausgegangen sind, sei es durch die Literatur oder mündliche Belehrung ihrer Schüler, weiter durchgearbeitet, reicheren Inhalt und festere (Seite 241) Form erhalten und ihnen selbst wieder neue Belehrung zuführen. Es tritt ihm die ganze Gedankenwelt der civilisirten Menschheit als ein fortlebendes und sich weiter entwickelndes Ganzes entgegen, dessen Lebensdauer der kurzen des einzelnen Individuums gegenüber als ewig erscheint. Er sieht sich mit seinen kleinen Beiträgen zum Aufbau der Wissenschaft in den Dienst einer ewigen heiligen Sache gestellt, mit der er durch enge Bande der Liebe verknüpft ist. Dadurch wird ihm seine Arbeit selbst geheiligt.“
Dieser Geist ist es, welchen Helmholtz den jungen Studirenden als den auf deutschen Universitäten gepflegten schildert, deren Einrichtungen und Wesen er als von anderen Nationen unerreicht hinstellt, wenn er auch nicht verhehlen will, dass wir den englischen Universitäten in der Pflege eines lebendigen Gefühls für die Schönheit und Jugendfrische des Alterthums, der Feinheit und Schärfe des sprachlichen Ausdruckes und des körperlichen Wohles ihrer Studirenden nachstreben sollten. Aber die aufsichtslose Freiheit der deutschen Studirenden, ein Gegenstand des Staunens aller Ausländer, ist ein Schatz, der gewahrt bleiben muss; sie rechnet freilich auf die Urtheilskraft und Vernunft derer, denen man die Freiheit gewährt. Dann, aber auch nur dann, ist die Freiheit in der Lehre der Wissenschaft nothwendig und gefahrlos.
„Im neuen deutschen Reiche können auf den Universitäten die extremsten Consequenzen materialistischer Metaphysik, die kühnsten Speculationen auf dem Boden von Darwin's Evolutionstheorie ebenso ungehindert wie die extremste Vergötterung päpstlicher Unfehlbarkeit vorgetragen werden.“

Noch am Ende desselben Jahres, am 26. November 1877, legte Helmholtz der Akademie eine Arbeit vor, betitelt „Ueber galvanische Ströme, verursacht durch Concentrationsunterschiede; Folgerungen aus der mechanischen Wärmetheorie“, mit der er die Reihe seiner wichtigen elektrochemischen (Seite 242) Untersuchungen eröffnete. Nachdem er in seinen elektrischen Arbeiten die Ueberzeugung gewonnen hatte, dass die Faraday-Maxwell'sche Hypothese für die Elektrodynamik, zu deren erneuter Prüfung er erst nach zwei Jahren wieder zurückkehrte, die grösste Wahrscheinlicheit für sich habe, wandte er sich jetzt auch den elektrochemischen Anschauungen Faraday's zu, von denen sowie von deren Ausbildung durch Hittorf, Wiedemann und F. Kohlrausch er später in der in England gehaltenen Faraday-Rede eine ausführlichere Darlegung gab.

Faraday nannte Ion die vom Strome fortgeführten Atome oder Atomgruppen, Kation diejenigen Bestandtheile, die mit der positiven Elektricität sich bewegen, Anion, die mit der negativen fortgehen; das Kation wandert also zu derjenigen Elektrode, zu welcher die positive Elektricitätsmenge der Flüssigkeit hinströmt, zur Kathode, das Anion zur Anode, von welcher dieselbe Elektricität in die Flüssigkeit einströmt. Faraday hatte nun das die ganze jetzige Elektrochemie beherrschende Gesetz gefunden, dass durch jeden Querschnitt eines elektrolytischen Leiters immer äquivalente elektrische und chemische Bewegung stattfindet, also genau dieselbe bestimmte Menge sei es positiver, sei es negativer Elektricität sich mit jedem einwerthigen Ion oder mit jedem Valenzwerthe eines mehrwerthigen Ion bewegt und es unzertrennlich begleitet bei allen Bewegungen, die dasselbe durch die Flüssigkeit macht. Helmholtz nennt diese Quantität die elektrische Ladung des Ion. Indem er nun annimmt, dass auch die Elektricität in bestimmte elementare Quanta getheilt ist, Atome der Elektricität, schliesst er, dass jedes Ion, so lange es sich in der Flüssigkeit bewegt, mit je einem elektrischen Aequivalent für jeden seiner Valenzwerthe vereinigt bleiben muss. Nur an den Grenzflächen der Elektroden kann eine Trennung eintreten, so dass, wenn dort eine hinreichend grosse (Seite 243) elektromotorische Kraft wirkt, die Ionen ihre bisherige Elektricität abgeben und elektrisch neutral werden können. Indem er als Grundvoraussetzung das Gesetz von der Constanz der Energie und die strenge Gültigkeit des Faraday'schen elektrolytischen Gesetzes festhält, findet er, dass Wasserstoff und Sauerstoff des Wassers, wenn sie, ohne ihre elektrischen Ladungen zu verlieren, von einander getrennt werden könnten, eine Anziehung auf einander ausüben würden, gleich der Gravitation von Massen, die ihnen 400 000 Billionen mal an Gewicht überlegen wären. Bei der weiteren Untersuchung, in welcher Weise die Bewegungen der wägbaren Molekel durch diese Kräfte beeinflusst werden, hatte sich durch die Betrachtungen von Clausius ergeben, dass die elektrischen Kräfte eine gleichmässige Vertheilung der entgegengesetzten Ionen durch die ganze Flüssigkeit zu unterhalten im Stande sind, so dass alle Theile derselben ebenso gut elektrisch wie chemisch neutralisirt sind, dass aber die geringsten äusseren elektrischen Kräfte ausreichen, um die Gleichmässigkeit dieser Vertheilung zu stören. Bei der Trennung eines Ion jedoch von seiner elektrischen Ladung begegnen die elektrischen Kräfte der Batterie einem Widerstande, dessen Ueberwindung einer höchst bedeutenden Arbeitsleistung entspricht. Dies wird eintreten, wenn die Ionen, indem sie ihre elektrischen Ladungen verlieren, auch gleichzeitig als Gase oder in Form fester metallischer Schichten aus der Flüssigkeit ausscheiden. Die chemische Verbindung zweier Elementarstoffe von grosser Verwandtschaft erzeugt Wärmemengen, welche einer grossen mechanischen Arbeitsleistung äquivalent sind; die Zersetzung der entstandenen chemischen Verbindung erfordert zur Herstellung der Energie der bei der Schliessung der Verbindung verloren gegangenen chemischen Arbeitskräfte einen entsprechenden Aufwand arbeitsfähiger Kräfte.

„Sauerstoff und Wasserstoff von einander getrennt, enthalten einen Vorrath von Energie; denn lassen wir sie mit (Seite 244) einander zu Wasser verbrennen, so entwickeln sie eine grosse Wärmemenge. Im Wasser sind die beiden Elemente enthalten, und ihre chemische Anziehungskraft besteht fort, indem sie sie fest vereinigt hält; aber dieselbe kann nunmehr keine Verwendung, keine positive Action mehr hervorbringen. Wir müssen die vereinigten Elemente in ihren ersten Zustand zurückführen, wir müssen sie von einander trennen und dazu eine Kraft anwenden, die ihrer Verwandtschaft überlegen ist, ehe wir ihnen die Fähigkeit wiedergeben, ihre erste Action zu erneuern. Die Wärmemenge, welche durch die chemische Verbindung hervorgebracht wird, ist wenigstens angenähert das Aequivalent der Arbeitsleistung der chemischen Kräfte, die in Wirksamkeit versetzt worden sind. Derselbe Betrag von Arbeit muss andererseits aufgewendet werden, um die Verbindung zu trennen und die beiden Gase in den unverbunde,nen Zustand zurückzuführen.“

In der oben erwähnten Arbeit „Ueber galvanische Ströme“ hat Helmholtz als erster die beiden Gesetze der Thermodynamik auf elektrischem Gebiete angewandt. Um einen elektrischen Strom durch irgend einen Leiter dauernd zu unterhalten, ist ein bestimmter Betrag chemischer oder mechanischer Arbeit nöthig; es müssen fortdauernd neue Vorräthe positiver Elektricität in das positive Ende des Leiters gegen die abstossende Kraft der dort angesammelten positiven Elektricität eingetrieben werden, negative Elektricität in das negative Ende. Dabei muss nach dem Faraday'schen Gesetze die elektromotorische Kraft der Batterie der Arbeit proportional sein, welche durch die Umsetzungen von je einem Aequivalent der betreffenden Stoffe gewonnen werden kann. Nun kommen aber hierbei nicht bloss die grossen Verwandtschaftskräfte der sich in festen Verhältnissen vereinigenden und trennenden Elemente in Betracht, sondern auch die kleineren molekularen Anziehungskräfte, welche das Wasser und andere Bestandteile der Lösung (Seite 245) auf deren Ionen ausüben, und Helmholtz stellte sich die Aufgabe, selbst Einflüsse dieser Art, welche zu schwach sind, um durch die calorimetrischen Methoden gefunden zu werden, durch Messung der elektromotorischen Kräfte zu ermitteln. Um mit Hülfe der mechanischen Wärmetheorie den Einfluss zu berechnen, welchen die Concentration einer Salzlösung auf die elektromotorische Kraft hat, wurde ein Strom durch eine Salzlösung geleitet, welcher einerseits eine chemische Zersetzung derselben nach ihren Aequivalenten, andererseits eine Veränderung der Concentration an den Elektroden bewirkte; diese Veränderung wurde fortdauernd dadurch rückgängig gemacht, dass da, wo der Strom die Lösung verdünnt, die überschüssige Wassermenge in Dampf verwandelt und entfernt wird, während an den Stellen, wo die Lösung concentrirter wird, Dampf niedergeschlagen wird. Bewegt sich das Wasser mit dem aufgelösten Salz, und wird durch geeignete Zufuhr von Wärme die Temperatur constant erhalten, so kann bei schwachen Strömen der ganze Vorgang als umkehrbarer Kreisprocess aufgefasst werden, und es wird die Summe der gewonnenen und verlorenen Arbeit verschwinden; die daraus gezogenen theoretischen Folgerungen gaben eine sehr befriedigende Uebereinstimmung mit den damals vorliegenden experimentellen Daten.

Am Ende des Jahres 1877 verliess sein Sohn Richard das Polytechnicum in München, welches er vier Jahre hindurch besucht hatte; Helmholtz hatte die Freude, seinen Sohn in der Locomotivfabrik von Krauss angestellt zu sehen, in welcher derselbe 1880 Chef des Constructionsbureaus und 1887 Oberingenieur wurde.

Die immer mehr sich häufenden Amtsgeschäfte nahmen nun Helmholtz sehr in Anspruch. Schon im October 1877 hatte er beim Antritt seines Rectorats die oben erwähnte Rede „Ueber die akademische Freiheit der deutschen Universitäten“ gehalten, nachdem kurz zuvor sein Vortrag „Das Denken in der Medicin“ die Feier des Stiftungstages (Seite 246) der militär-ärztlichen Bildungsanstalten in Berlin zu einem für die wissenschaftliche Welt bedeutungsvollen Acte gestaltet hatte. Als ihn daher am 12. März 1878 Beltrami zu der am 28. April in Pavia geplanten Enthüllung des Monumentes von Volta einlud:

„Tutti i mei colleghi e, posso dire, tutti gli scienziati italiani nutrono vivissimo desiderio che questa solennità sia onorata della presenza dei fisici che hanno maggiormente fecondato il campo aperto dall' invenzione di quel grande, e da Lei fra i primi. Io Le trasmetto l'espressione di questo desiderio con tanto maggiore fiducia in quanto mi è nota la di Lei benevolenza verso l'Italia, ed in quanto ebbi già da Lei una quasi promessa di intervenire a questa festa, quando ebbi l'onore di darne a Lei un preannunzio a Firenze, nello scorso Autumno“,
musste Helmholtz zu seinem grossen Bedauern die ehrenvolle Einladung ablehnen, „da er den Umzug des physikalischen Instituts in das neue Gebäude bewerkstelligen müsse und ausserdem Rector der Universität sei“.

Und nun stand noch die verheissungsvolle Rede in Aussicht, die er am 3. August 1878 zur Stiftungsfeier der Berliner Universität halten sollte, und in welcher er frei und rückhaltlos sein philosophisches Glaubensbekenntniss abzulegen gedachte. Er schwankte einige Zeit, welchen Titel er seinem Vortrage geben sollte:

„Den Titel werde ich erst zuletzt machen“, schreibt er seiner Frau, „ich weiss ihn noch nicht. Vielleicht: „Was ist wirklich?“ oder „Alles Vergängliche ist nur ein Gleichniss“ oder „Ein Gang zu den Müttern“ oder auch vielleicht trockener „Principien der Wahrnehmung“.“

Er wählte aber den Titel „Die Thatsachen in der Wahrnehmung“, nachdem seine Frau ihm geschrieben: „Die “Mütter“, fürchte ich, würden für Viele ein unbekanntes Ziel sein.“

Nachdem er diese schönste und bedeutendste seiner (Seite 247) Reden, deren Inhalt schon oben skizzirt worden, gehalten, meldet er am 4. August seiner Frau:

„Ich wusste, dass es nicht nach dem Geschmack der Majorität sein würde. Es waren neue Gedanken darin, die sie in Verlegenheit bringen mussten — natürlich nicht Zeller, du Bois, Kronecker u. a. Ich aber hatte mir gesagt, wenn ich einmal arbeiten müsste, so wollte ich auch etwas machen, an dessen Ausarbeitung ich selbst Interesse hätte, dann ist es schliesslich immer besser, dass sie mich zu gelehrt finden, als trivial.“

So blieb ihm nur wenig Zeit zur Fortführung seiner elektrodynamischen und elektrochemischen Untersuchungen, und nur zwei auf seine früheren akustischen und optischen Arbeiten bezügliche Ergänzungen, aber von bedeutendem Interesse, traten in diesem Jahre in die Oeffentlichkeit.

Die Erfindung des Telephons hatte ihm zuerst eine grosse Ueberraschung bereitet, aber die wissenschaftliche Begründung desselben war ihm leicht gewesen.

„Die Sache sei ihm so selbstverständlich erschienen“, schreibt er an du Bois, „dass er es nicht für nöthig gehalten habe, eine Theorie davon zu geben; aber freilich, er sei Jahre lang mit Fourier'schen Reihen im Kopfe zu Bett gegangen und wieder aufgestanden und dürfe in diesem Falle keinen Schluss von sich auf Andere machen.“

Du Bois hatte unmittelbar nach dem Bekanntwerden des Telephons die Bewahrung der Klangfarbe durch diesen Apparat dadurch erklärt, dass er sich jeden Klang in seine Partialtöne zerlegt dachte und sich darauf stützte, dass jeder dieser Partialtöne zwar in veränderter Phase, aber mit derselben Schwingungszahl und verhältnissmässiger Amplitude durch die elektrischen sinusoiden Schwingungen des Leitungsdrahtes auf das Telephon des Hörers übertragen werde. Da die Verschiebung der Phase nach den früheren akustischen Untersuchungen von Helmholtz für die Klangfarbe gleichgültig ist, so müsste die Klangfarbe der gesprochenen (Seite 248) Klänge hiernach bewahrt bleiben. Hermann hatte zum Zwecke einer erneuten theoretischen Begründung einen Versuch angestellt, bei welchem ein stromerregendes Telephon durch den einen Draht einer aus zwei neben einander liegenden Drähten gewickelten Spirale geschlossen war, während der zweite, von jenem vollständig isolirte Draht entweder direct mit dem Telephon des Beobachters oder auch mit dem einen Draht einer zweiten bifilaren Spirale verbunden wurde, deren zweiter Draht zu dem Telephon des Beobachters führt. Nun ist nach dem bekannten Gesetz der elektrodynamischen Induction deren elektromotorische Kraft dem Differentialquotienten der Stromintensität nach der Zeit proportional; da aber bei dem Differentialquotient des Sinus einer linearen Function der Zeit der Multiplicator der Zeit als Factor zur Amplitude tritt, so folgerte Hermann, dass bei dieser Uebertragung der elektrischen Oscillationen durch Induction in jeder der Doppelspiralen die Amplituden der elektrischen Oscillationen, welche den höheren Partialtönen jedes Klanges entsprechen, im Verhältniss ihrer grösseren Schwingungszahlen gegen die der tieferen zunehmen. Da hiernach einerseits das Verhältniss der Intensitäten der aus dem zweiten Telephon herausdringenden Partialtöne erheblich verändert werden muss, andererseits die Klangfarbe in der That dieselbe bleibt, so fand Hermann dies unvereinbar mit der Theorie, welche Helmholtz von der Klangfarbe in seinen früheren akustischen Untersuchungen entwickelt hatte.

Helmholtz zeigt nun in einer der Akademie am 11. Juli 1878 vorgelegten Arbeit „Telephon und Klangfarbe“, dass, wenn man nicht bloss die Induction jedes Stromkreises auf den benachbarten, sondern auch auf sich selbst berücksichtigt, die von Hermann gemachten Schlüsse gerade die Richtigkeit seiner Erklärung von der Klangfarbe bestätigen. Er weist nach, dass die Intensitäten der inducirten Ströme von der Schwingungszahl unabhängig, ihre Phasen dagegen (Seite 249) ein wenig verschoben sind, und erklärt zugleich aus den von ihm aufgestellten mathematischen Ausdrücken die stets gemachte Erfahrung, dass die tiefen Töne der Männerstimmen im Allgemeinen hei den gebräuchlichen Telephonen verhältnissmässig zu schwach erscheinen. Die Rückwirkung, welche von der schwingenden Eisenplatte im Telephon des Hörers ausgeht, berücksichtigte Helmholtz bei seiner Untersuchung deshalb nicht, weil deren Oscillationen jedenfalls eine sehr viel geringere Amplitude haben als die der entsprechenden Platte im Telephon des Sprechers. Wenn die Dauer der ohne äussere Störung ablaufenden Inductionsströme 0,01 Secunde übertrifft, so weichen nach seinen Untersuchungen bei directer Verbindung beider Telephone die den höchsten Tönen und Geräuschen entsprechenden elektrischen Oscillationen weder in ihrer Phase noch in ihrer relativen Stärke wesentlich von denen des erregenden Magnetismus ab; die tieferen Töne dagegen können in der Phase merklich verschoben und in der Stärke etwas benachtheiligt sein. Die Klangfarbe wird nicht durch Vermittelung der elektrischen Bewegungen, sondern nur durch die mitschwingenden Eisenplatten beeinflusst.

Eine andere interessante Ergänzung zu seinen Ausführungen in der physiologischen Optik, in welcher er noch die Convergenzstellung der Augen als eines der unsicheren Mittel zur Beurtheilung der Entfernung binocular gesehener Objecte bezeichnet, lieferte er am 10. Mai 1878 in einer der Physiologischen Gesellschaft zu Berlin unter dem Titel „Ueber die Bedeutung der Convergenzstellung der Augen für die Beurtheilung des Abstandes binocular gesehener Objecte“ vorgelegten Mittheilung. Helmholtz geht von der bekannten Beobachtung aus, dass, wenn man die Augenaxen auf benachbarte, nicht identische Stücke eines Tapetenmusters richtet, dasselbe und zwar in anderer Entfernung körperlich plastisch erscheint, und findet, dass bei einer Bewegung des Kopfes eine scheinbare Bewegung des Tapetenbildes (Seite 250) eintritt. Dagegen macht das reelle, mit richtig gestellten Augenaxen binocular angeschaute Object keine derartige Bewegung, weil wir die durch die Verschiebung unseres Kopfes entstehende Winkelgeschwindigkeit erwarten. Es ergiebt sich daraus, dass eine ruhende Convergenz, welche auf eine bestimmte Entfernung eingerichtet ist, deutlich und fein unterschieden wird von dem Grade der Convergenz,. welcher der wirklichen Lage des Objectes entsprechen würde. Die nicht objective Natur des Tapetenbildes verräth sich dadurch, dass jede Bewegung des Kopfes eine scheinbare Winkelbewegung des Bildes hervorruft, und zwar bei Convergenz auf einen entfernteren Punkt nach entgegengesetzter Richtung als der Kopf, bei Convergenz auf einen näheren in derselben Richtung.

Reise nach Italien

Von den Anstrengungen des Rectoratsjahres sucht Helmholtz im August 1878 Erholung in der Schweiz und besucht zunächst Boll in Davos, der dort schwer krank danieder lag und mit ihm seine Hypothesen zur Licht- und Farbenempfindung zu besprechen wünschte. In der Einleitung zu der nach dem Tode Boll's im Jahre 1881 erschienenen Arbeit giebt Helmholtz selbst ein kurzes Referat darüber. Es handelte sich hauptsächlich um die beiden wesentlichen Fragen, ob die drei von Boll unterschiedenen lichtempfindenden Schichten der Netzhaut als die Träger der drei elementaren Farbenempfindungen aufzufassen sind, und ferner, wie die Empfindungen der drei Grundfarben an die drei empfindlichen Schichten der Netzhaut zu vertheilen sind. Helmholtz verwirft die von Boll gemachten Hypothesen nicht, hält aber eine weiter vertiefte Untersuchung für nothwendig.
Boll hat mir die Resultate seiner letzten Arbeiten auseinandergesetzt“, schreibt Helmholtz seiner Frau, „unter denen wieder viel Interessantes ist. Es machte mir den Eindruck, als wolle er die Bewahrung seiner Gedanken gegen Eventualitäten sichern. Das Meiste war zwar aufgeschrieben; (Seite 251) über Einiges wollte er meine Meinung haben. Insofern ist es mir lieb, dass ich hergegangen bin, es wird vielleicht Einiges zu seiner Beruhigung beitragen. … Er ist wirklich ein Mann von allgemeiner Bildung und originalen Gedanken.“

Er reiste von dort zunächst über Samaden nach Pontresina, sodann über die italienischen Seen nach Mailand und von dort über Nervi nach Siena, das er schon seit langer Zeit zu sehen gewünscht. Am 24. September schreibt er seiner Frau aus Siena:

„Gestern und heute habe ich nun das alte, höchst merkwürdige Bergnest betrachtet. Es liegt auf ein Hügelkreuz zusammengedrängt, von hohen Mauern umgeben, die mit engen Strassen angefüllt sind. Die jetzige Verarmung sticht tief ab gegen die gewaltigen Reste ehemaliger Grösse. Es hat aber viel mehr Charakter als Pisa, die Kunstwerke erinnern an die Pisaner, namentlich der Dom, dessen Façade von Giovanni Pisani herrührt, aber viel schöner und reicher ist, als die des Domes zu Pisa. Er ist auch schwarz gebändert, aber bedeckt mit einem ungeheuren Reichthum feinster Sculpturarbeit in schöner Anordnung mit feinen rothen Marmoreinrahmungen dazwischen. Im Innern ist eine Kanzel von Niccolo Pisano, dem Vater des Giovanni, welche an diejenige im Baptisterium zu Pisa erinnert, allerdings nicht so fein gegliedert ist, wie jene. Im Innern, das auch gebändert und an der Decke mit feinen Farbenbändern versehen ist, sind ganz merkwürdig schöne Graffiti aus weissem Marmor mit schwarzen Strichen, zum Theil auch noch mit grauem, gelbem und rothem Marmor weiter ausgeführt, die den Fussboden bedecken. Sie sind von wunderbarer Vollendung der Zeichnung und machen eine merkwürdige Wirkung, nur sind sie schon zum Theil durch die Fusstritte der Menschen sehr zerstört. Auch ausser dem Dome sind viel merkwürdige Palazzi, meist mit den schweren Quadern von Pitti und Strozzi in Florenz in der Stadt erhalten; (Seite 252) man begegnet ihnen auf Schritt und Tritt. Eine grosse Menge von Gemälden sind überall angehäuft, überwiegend alterthümlicher Art, meist nicht sehr gut erhalten, so dass man auch die Farbenwirkung nicht mehr hat und sich höchstens an den freundlichen stillen Gesichtern erbauen kann. Von den späteren aber reichen Sodoma und Beccafumi bis dicht an Raphael heran. Von ersterem kriegt man sonst nur Ungenügendes zu sehen; er ist geschickter Al fresco, er ist unruhiger und hat nicht den grossen dramatischen Zug wie Raphael, aber seine Gestalten könnten oft für raphaelitisch gelten und sind sehr liebenswürdig im Ausdruck. Um Siena ganz gerecht zu werden, müsste man sich tiefer in die Kunsthistorien versenken, als ich bisher gekommen bin — sehr charakteristisch ist auch der Platz vor dem Rathhause, dem Palazzo publico, welcher letztere etwas an den Dogenpalast erinnert, freilich alterthümlicher und nicht so königlich. Der Platz davor hat die Form und Vertiefung eines alten, halbkreisförmigen Theaters, dessen geraden Durchmesser der Palazzo einnimmt. Die Räume im Innern sind sehr gross angelegt und enthalten eine Menge von Gemälden, aber meist älterer Periode und halb geschwunden.“

Nach kurzem Aufenthalte in Rom eilt er in das ihm noch unbekannte Neapel:

„Ich sitze jetzt wirklich in Neapel, und die Natur ist wirklich unglaublich schön hier. Das von Bonghi empfohlene Hotel ist hoch gelegen, circa 200 Fuss über dem Meere am Bergabhange an der neuen Grenzstrasse der inneren Stadt, dem Corso Vittorio Emmanuele. Wo ich wohne, haben wir hinter uns eine senkrechte Felswand, vor uns einen tiefen Abhang, so dass wir zu ebener Erde hoch über die Dächer der nächsten Häuser wegsehen. Nachmittags, wenn die Sonne von meinem Balcon weg ist, brauche ich mich bloss darauf zu setzen, um die schönste Aussicht der Welt vor mir zu haben, nämlich den belebtesten Theil des Strandes von der hochgethürmten Häusergruppe der Santa (Seite 253) Lucia in der Mitte der Stadt bis zum Posilippo am Ende, darüber den Golf in dem grünblau purpurnen Schiller des Mittelmeeres, jenseits den Vesuv, die Landzunge mit Castellamare und Sorrent und die Insel Capri, dazwischen freien Meereshorizont. Der Vesuv hat sich eben einen neuen Ausblasekegel in seinem Krater gemacht. Gestern Abend und heute früh war der Gipfel in Wolken; heute Abend aber sah man die Dampfwolke, die zwar aschenhaltig, aber bei Tage doch weiss ist, glühroth von dem darunter liegenden Loch des Berges erleuchtet. Man erwartet einen neuen Ausbruch von Lava. Die älteren Lavaströme sind von hier aus gut zu erkennen, weil sie durch ihre schwarzgraue Farbe von den grünen Weinbergen abstechen. Es trifft sich sehr gut, dass ich den Berg werde in einiger Thätigkeit sehen können. Das Wetter ist sehr schön, sonnig, mit halbbewölktem tiefblauem Himmel, heute zum ersten Male recht warm, aber nicht drückend gewesen, kein Staub und die Vegetation grün, wie ich sie in Italien nie gesehen. Die Ulmen mit den dicken Weingehängen sind wohl etwas bräunlich angehaucht, darunter aber der Boden mit der frischesten grünen Saat bedeckt. Es war auch bei Genua und Pisa viel grüner, als wir es sonst gesehen, aber doch nicht so grün wie hier …

… Heute habe ich für dieses Jahr meine letzte Bergübung auf dem Vesuv ausgeführt, in dessen Krater ich hineingestiegen und auf dessen glühender Lava ich herumgewandelt bin und auch glücklich und unverbrannt zurückgekehrt. Der Krater ist jetzt in seinem Grunde mit dieser Lava bedeckt, durch welche sich die Dämpfe an einer neuen Stelle Bahn gebrochen haben und sich um das Loch einen neuen Aschenkegel gebildet, an dem man sie noch fortdauernd weiterbauen sieht, indem von Zeit zu Zeit die von den heissen Dämpfen abgeschmolzene Masse des Berges ihnen den Weg verstopft und dann mit einer kanonenartigen Explosion herausgeschleudert wird, wobei in einer (Seite 254) dicken Dampfwolke die glühenden Fetzen der zähen Schlacke herausgeworfen werden und dann auf den Aschenkegel zurückfallen und so diesen vergrössern. Alle fünf Minuten etwa war eine solche Detonation, und wir konnten etwa auf 100 Schritte heran, da das glühende Zeug ganz regelmässig immer auf die Oberfläche des Schlackenkegels selbst fiel. Die Lava zeigte in ihren neuesten Theilen noch eine äusserst langsame, kaum wahrnehmbare Bewegung. Man fühlte noch etwas Wärme durch die Sohlen, und wenn man Wasser in einen Spalt goss, zischte es sogleich auf. Einzelne Spalten der jüngsten Lava liessen noch das Glühen erkennen. Die Bergstöcke flammten darin auf, und der Führer holte etwas von der zähen, glühenden Masse heraus. Die alten Wände des Kraters dampften überall von durchdringendem Wasserdampf und waren mit gelbem Schwefel, weissem Salz und grünem Kupfer äusserst bunt gefärbt. Es war im höchsten Grade interessant und grossartig, freilich auch ziemlich mühsam und kostspielig …“

Von Neapel reiste er über Rom und Trient nach München zu Lenbach und von dort nach Berlin zurück.

Von den Rectoratsgeschäften frei wendet sich Helmholtz wieder ganz den seit einem Jahre unterbrochenen elektrischen Studien zu und geht zunächst von einer Untersuchung der Contacttheorie in der Elektricität aus, über welche er der Akademie am 27. Februar 1879 eine Mittheilung, „Ueber elektrische Grenzschichten“ betitelt, vorlegte, deren Ausführung „Studien über elektrische Grenzschichten“ in Wiedemann's Annalen erschien. Wenn man in der Theorie der Vertheilung der Elektricität in leitenden Körpern nur die aus den Wirkungen in die Ferne bekannten Kräfte dieses Agens in Rechnung zieht, so findet man, dass im Gleichgewichtszustand die Elektricität das Innere der Körper verlässt und nur auf der Oberfläche derselben eine unendlich dünne Schicht bildet. Tritt aber im Werthe der Potentialfunction ein Sprung an der Grenze zweier (Seite 255) verschiedener Körper ein, wie z. B. bei der Berührung zweier Leiter unter dem Einfluss einer zwischen ihnen wirkenden galvanischen Kraft, so wird sich in diesem Falle längs der Grenzfläche eine elektrische Doppelschicht bilden; Helmholtz bezeichnet das Product der Dichtigkeit der positiven Elektricität mit dem Abstände der beiden Schichten als das elektrische Moment der Schicht, wobei der Abstand als klein, aber nicht als unendlich klein anzusehen ist, weil sonst die zur Bildung der Schichten aufgewandte Arbeit unendlich gross sein müsste.

Diese bereits früher für Körper, welche durch Contact elektrisch werden, gemachte Annahme von der Bildung einer Doppelschicht erweitert nun Helmholtz auf den Fall der Berührung zweier beliebiger Körper. Die Ausdrücke für die Potentialdifferenz lassen ihn zunächst die Elektricitätserregung durch Reibung erklären, und es gelingt ihm, die Verhältnisse der reibungselektrischen Spannungsreihe und die Theorie der Elektrisirmaschine befriedigend daraus zu entwickeln. Den wesentlichsten Gegenstand der Arbeit bildet aber die Darstellung der Theorie derjenigen Erscheinungen, welche beim Fliessen einer Flüssigkeit längs einer festen Wand eintreten und welche den Uebergang liefern zwischen der Elektricitätserregung durch den galvanischen Gegensatz ruhender Körper und der durch gleitende Reibung fester Körper. Von der Annahme ausgehend, dass die Flüssigkeit in galvanischem Gegensatz zu der Wand des Gefässes steht, und beide längs ihrer Grenzfläche eine elektrische Doppelschicht ausbilden, gelingt es ihm, zwei in nahem Zusammenhange stehende Phänomene zu erklären : Die Fortführung von Flüssigkeiten durch enge Röhren in Folge des Durchganges eines elektrischen Stromes durch dieselben, und die Entstehung elektromotorischer Kräfte, wenn Flüssigkeiten durch hydrostatischen Druck durch solche Röhren getrieben werden. Die theoretischen Entwickelungen sowie die Vergleiche mit den Resultaten der von G. Wiedemann (Seite 256) und Quincke angestellten Versuche beziehen sich jedoch nur auf Capillarröhren, während bei weiteren Röhren an der Stelle, wo der Strom eintritt, complicirtere Bewegungserscheinungen vorkommen.

In dieser Abhandlung, sowie in der späteren Faraday-Rede und in einer Reihe der folgenden elektrischen Arbeiten kommt Helmholtz wiederholt auf den engen Zusammenhang zwischen den elektrischen und chemischen Kräften sowie auf die Erklärung des Volta'schen Fundamentalversuchs zu sprechen. Er nimmt an, dass elektrische und chemische Kräfte im Wesentlichen dieselben sind, und hält die Ansicht fest, dass das Vorhandensein dieser Kräfte, welche bei ungehemmter Wirkung chemische Processe zu Stande bringen, genügt, um die entsprechenden elektrischen Vertheilungen hervorzurufen, auch ehe die chemische Vereinigung eintritt; es erscheint ihm nicht nothwendig, dass immer ein fertiger, chemischer Process vorausgehen müsse, wo Volta'sche Ladungen sich finden. Helmholtz weiss sich darin in Uebereinstimmung mit Faraday, welcher die Identität der chemischen Verwandtschaftskräfte mit der Elektricität annahm und der Vorstellung Ausdruck gab, dass die Atome an ihren elektrischen Ladungen und die entgegengesetzten Ladungen wieder an einander haften, ohne deshalb Molekularkräfte auszuschliessen, welche unmittelbar von Atom zu Atom wirken.

Die von Volta beschriebenen, vielfach bestrittenen Versuche hält Helmholtz für unanfechtbar; wenn zwischen einer Kupferplatte und einer Zinkplatte, welche in sehr geringer Entfernung, gut isolirt durch Schellackstäbe getragen, wie Platten eines Condensators einander gegenüberstehen, für einen Augenblick eine metallische Verbindung hergestellt wird, und sie dann wieder von einander entfernt werden, so lädt sich das Kupfer negativ, das Zink positiv. Die dabei wesentlichen Erfahrungssätze hatte Helmholtz schon in seiner „Erhaltung der Kraft“ in der Form (Seite 257) ausgesprochen, dass, so lange nur Leiter erster Classe concurriren — d. h. Leiter, welche durch die Leitung keine elektrolytische Zersetzung erfahren — und so lange diese Leiter gleiche Temperatur haben und unbewegt sind, die elektrische Strömung immer zu einem Gleichgewichtszustände der Elektricität führt; nur wenn dieselben durch eine äussere Kraft bewegt werden, können elektrische Strömungen oder concentrirtere Ansammlungen von Elektricität entstehen. In diese Classe von Versuchen gehören nun aber die mit trockenen Metallplatten, welche durch trockene und isolirte Metalldrähte in Verbindung gesetzt werden. Da hier bei jeder neu eingetretenen Anordnung solcher Leiter von gleicher Temperatur die elektrische Bewegung schnell zu einem Gleichgewichtszustande führt, so darf man als ihre Ursache Kräfte einfacher Art betrachten, welche dem Gesetze von der Erhaltung der Kraft folgen. Helmholtz hatte in jener Schrift die Annahme aufgestellt, dass diese Erscheinungen herrühren von Anziehungskräften, welche die verschiedenen Stoffe in verschiedener Stärke gegen die beiden Elektricitäten haben, und welche nur in merkbar kleiner Entfernung wirken. Wenn ein Kupfer- und ein Zinkstück in Berührung sind und das Zink die positive Elektricität stärker anzieht als das Kupfer, so wird diese dem Zink zuströmen und es positiv laden, während das Kupfer negativ zurückbleibt, bis die durch diese Ladung entstehende und in die Ferne wirkende elektrische Anziehung, welche die positive Elektricität zum Kupfer zurückzieht, der Anziehung des Zinks das Gleichgewicht hält. Dann wird also die lebendige Kraft, welche ein Theilchen positiver Elektricität unter dem Einfluss des Zinks und Kupfers allein bei seinem Uebergang vom Kupfer zum Zink gewinnt, gleich sein dem Verluste der lebendigen Kraft, welche dasselbe elektrische Theilchen durch die Anziehung der negativen Ladung des Kupfers und die Abstossung der positiven des Zinks auf demselben Wege verliert. Diese letzte Grösse, für die (Seite 258) Einheit der positiven Elektricität berechnet, wird aber der Unterschied der elektrischen Potentialfunction des Kupfers und des Zinks genannt.

Diese Theorie fordert also, dass die bei der Berührung von Kupfer und Zink in ihnen vorhandene Elektricität sich zwischen beiden so vertheilt, dass der Unterschied der elektrischen Potentialfunction eine bestimmte, von der Natur der Metalle abhängige Grösse erreicht. Daraus ist dann unmittelbar ersichtlich, dass Leiter dieser Art dem Gesetze der galvanischen Spannungsreihe unterliegen, und dass Ketten, aus drei oder mehr Leitern erster Classe von gleicher Temperatur gebildet, niemals einen galvanischen Strom hervorbringen, da die Anziehungskräfte der Metalle zu den Elektricitäten immer nur bewirken, dass die Elektricitäten demjenigen Gleichgewichtszustande zustreben, wie er durch diese Anziehungskräfte gefordert ist. Volta nahm eine Scheidungskraft an, welche in der Berührungsfläche ihren Sitz haben sollte, und glaubte, dass die positive Elektricität, welche durch die Berührungsfläche mit dem Kupfer einmal in das Zink eingetreten sei, ohne weiteres Hinderniss in jeden Leiter wieder ausfliessen könne, welcher ihr keine entsprechende neue Scheidungskraft an der Berührungsfläche entgegenstelle; nach Helmholtz's Ansicht dagegen wird die positive Elektricität durch eine Anziehung im Zink festgehalten, und es muss durch Ueberwindung dieser Anziehung eine entsprechende Arbeit geleistet werden, ehe mittelst irgend einer anderen Naturkraft die positive Elektricität dem Zink wieder genommen wird. Die zersetzbaren Leiter der Elektricität folgen aber deshalb der Spannungsreihe nicht, weil sie durch jede elektrische Bewegung zersetzt werden und somit, während diese Zersetzung vor sich geht, in ihnen gar kein ruhender Gleichgewichtszustand entstehen kann. Helmholtz suchte seine Theorie durch eine grosse Reihe der feinsten Versuche zu bewahrheiten, welche er mit Hülfe des Quadrantelektrometers von W. Thomson anstellte.

  Fortsetzung des Kapitels


S. 233 - 258 aus:
Koenigsberger, Leo: Hermann von Helmholtz. - Braunschweig : Vieweg
Band 2. - 1903


Letzte Änderung: 24.05.2014     Gabriele Dörflinger   Kontakt

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