Leo Koenigsberger: Hermann von Helmholtz

Helmholtz als Professor der Physiologie in Heidelberg
von Michaelis 1858 bis Ostern 1871.


Anfang des Kapitels

Tod des Vaters 1859

Die grosse Anerkennung, welche seine akustischen Arbeiten in der wissenschaftlichen Welt fanden, die Ernennung zum correspondirenden Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Wien und der Societät zu Erlangen hatten eben noch seinen alten Vater mit Freude und Stolz erfüllt, als völlig unerwartet, da derselbe „sich in der letzten Zeit körperlich wohler gefühlt und die Andeutungen eines Gehirnleidens nur sehr undeutlich hervorgetreten waren“, am 4. Juni Helmholtz die Nachricht traf, dass sein Vater vom Schlage getroffen, gefährlich erkrankt daniederliege. Er reiste sogleich nach Potsdam, seine kranke Frau mit schwerem Herzen verlassend, traf aber seinen Vater nicht mehr lebend an.

(Seite 332) „Sein Zustand“, schreibt er von dort seiner Frau, „ist wohl ähnlich dem der Mutter gewesen, nur dass die schlagartigen Zufälle weniger schnell tödtlich waren. Er ist am Mittwoch Nachmittag noch spazieren gegangen und sehr munter gewesen, wie er es überhaupt in der letzten Zeit meist gewesen sein soll. In der Nacht vernahm Julie ein Geräusch und fand ihn bewusstlos im Bette aufrecht sitzend. Von da ab hat er nur noch unterbrochene Zeichen des Bewusstseins gegeben; in der zweiten Nacht ist er sehr unruhig gewesen, und gestern früh hat der Todeskampf angefangen.“

Nachdem Helmholtz durch den unersetzlichen Verlust tief niedergebeugt noch die Verwandten seiner Frau in Dahlem besucht, reiste er nach Heidelberg zurück und fand dort das folgende Schreiben Fichte's vor:

„Hochgeehrter Herr College! Soeben empfange ich die tief mich erschütternde Nachricht von dem Tode Ihres trefflichen, innigst von mir geliebten Vaters. Wie sehr mich dies ergreift und betrübt, vermag ich Ihnen nicht zu sagen; denn das Gefühl der Reue mischt sich hinzu, dass ich immer es verschob, ihn noch einmal persönlich zu begrüssen, ihn unter seinen herangewachsenen Kindern wiederzusehen und vor Allem ihm Aug' in Auge, Hand in Hand zu sagen, mit wie unverwelklicher, ja gesteigerter Liebe ich ihm zugethan sei. Gerade 50 Jahre (1809) ist es her, dass er mich, den jüngeren Schulgenossen, an sich zog und durch eine Freundschaft und Liebe fesselte, welche auf unser beiderseitiges Leben von den wichtigsten Folgen geblieben ist und trotz unserer ganz verschiedenen äusseren Lebensschicksale uns innerlich verbunden erhalten hat. Wir haben uns verstanden und waren gleichgesinnt bis ans Ende, wofür ich seine köstlichen Briefe noch aus den letzten Jahren als theueres Denkmal bewahre. Und so lebe ich auch der zuversichtlichen Hoffnung, dass unser auf ewige Geistesgüter gegründetes Verhältniss mit dem Tode nicht dahin sei, dass ich ihn wiedersehen werde in der Gemeinschaft (Seite 333) mit den vorangegangenen Guten nnd Edlen, denen er schon hier ebenbürtig war, wenn seine Umgebung dies auch nicht immer erkennen mochte. Rührend und bedeutungsvoll war es mir, dass er in einem seiner letzten Briefe mir schrieb, wie er die jetzt ihm gewordene Musse benutze, um sich durch Betrachtung der ewigen Gesetze der Dinge auf den Eingang vorzubereiten, der unser Aller wartet.

Nun habe ich aber noch eine ernste Bitte und Mahnung Ihnen, dem glücklichen Sohne eines weniger glücklichen Vaters, vorzutragen. Es ist Ihre Sohnespflicht, ihm ein Denkmal zu stiften durch Herausgabe seiner Abhandlungen und durch einen vorangestellten biographischen Abriss. Ihr eigener berühmter Name macht Ihnen dies leicht, und das Gefühl, dass Sie glänzend erreicht haben, was Ihrem Vater bei tiefer Gelehrsamkeit und nicht geringen Geistesanlagen, gehindert durch einen kränklichen Körper und eine aufreibende Berufsbeschäftigung, nicht vollständig gelang, wird Ihnen, neben Ihrer Sohnespietät, dies als eine heilige Pflicht erscheinen lassen. Was ich Ihnen beitragen kann zur Ausführung dieses Werkes, werde ich gern beisteuern.

Mit Hochachtung und theilnahmsvollster Ergebenheit der Ihrige.

Tübingen, den 7. Juni 1859.

Fichte.“

Es kam nicht zu der von Fichte gewünschten Herausgabe der Werke seines Freundes, und deshalb mag hier einer der letzten Briefe von Ferdinand Helmholtz eine Stelle finden, von dessen philosophischen Anschauungen Helmholtz stets nicht nur mit Interesse und Pietät, sondern auch mit hoher Achtung vor deren wissenschaftlichem Werthe, zum Theil auch, wie aus vielen späteren Aeusserungen hervorgeht, mit freudiger Zustimmung Kenntniss genommen; derselbe schreibt am 8. Mai 1858 seinem Sohne:

Letzter Brief Ferdinand Helmholtz' an seinen Sohn Hermann

Tod seiner Frau Olga 1859

(Seite 342) Von der Beerdigung zurückgekehrt, fand Helmholtz auch nicht Trost im eigenen Hause; die Gesundheit seiner Frau verfiel unrettbar, anfangs kaum bemerkbar, schliesslich unaufhaltsam. „Keine Abwehr half“, schreibt ihre Schwester, „und endlich erlosch jede Hoffnung; Heidelberg hat nur noch den Schatten ihres eigenen Selbst gesehen.“ Helmholtz selbst litt sehr unter all' diesen Aufregungen; auf ärztlichen Rath musste er, da seine Migräneanfälle häufiger und stärker eintraten, und zu ernsten Bedenken Anlass gaben, mit Beginn der Herbstferien die Schweiz aufsuchen, wo er in den letzten Jahren stets Linderung und Erholung gefunden. Aber er wurde durch beängstigende Nachrichten über das Befinden seiner Frau schon nach kurzer Zeit nach Heidelberg zurückgerufen, und hatte nun schwere und traurige Monate zu durchleben, während deren (Seite 343) er nur in der angestrengtesten geistigen Arbeit Muth und Vergessen fand.

Zunächst setzte er seine im Sommer begonnenen Arbeiten über Flüssigkeitsreibung fort, von denen er schon Ludwig unmittelbar nach dem Tode seines Vaters, am 13. Juni, Kenntniss gegeben:

„Mit Piotrowski habe ich jetzt eine Arbeit über Flüssigkeitsreibung vorgenommen, wo er den experimentellen Theil ausführt. Daraus werden, wie ich hoffe, die hydrodynamischen Fundamentalgleichungen mit Berücksichtigung der Reibung hervorgehen. Dann wäre nachher jede specielle Aufgabe von Flüssigkeitsbewegung auf eine mathematische Aufgabe reducirt, aber freilich wird sich diese in den wenigsten Fällen lösen lassen.“

Und als er in der Arbeit schon weiter vorgerückt war, schreibt er am 30. August W. Thomson:

„Gegenwärtig bin ich mit Versuchen über die Reibung der Flüssigkeiten beschäftigt, die den Zweck haben, zu prüfen, ob eine gewisse Form der hydrodynamischen Gleichungen, welche ich mir mit Berücksichtigung der Reibung zusammengesetzt habe, richtig sei.“

Indem er ihm diese Gleichungen mittheilt, fügt er hinzu:

„Ich höre, dass Professor Stokes eine Arbeit über die Bewegung der Flüssigkeiten unter dem Einfluss der Reibung veröffentlicht habe in den Cambridge Transactions, kann diese aber hier in Deutschland nicht auftreiben. Können Sie mir vielleicht gelegentlich melden, ob Ihnen diese Arbeit bekannt ist, in welchem Bande sie steht und ob darin dieselben oder andere hydrodynamische Gleichungen aufgestellt sind.“

Aber die Ausführung dieser äusserst schwierigen mathematischen Arbeit, welche die grösste Concentration des Geistes verlangte, wird durch die stete Angst und Sorge um das Leben seiner Frau hingehalten, und er sucht sich (Seite 344) zunächst mit leichteren experimentellen, optischen und akustischen Fragen zu beschäftigen, welche Ergänzungen seiner früheren Untersuchungen bilden.

Vortrag über Farbenblindheit

An seinen auf der Naturforscherversammlung in Karlsruhe im September 1858 gehaltenen Vortrag „Ueber Nachbilder“ anknüpfend, dessen Inhalt er zum Theil schon in demselben Jahre in den Niederrheinischen Sitzungsberichten niedergelegt hatte, hielt er in Heidelberg am 11. November 1859 im naturhistorisch-medicinischen Verein einen Vortrag über „Farbenblindheit“. Zunächst hob er hier hervor, man dürfe die Lehre von den drei Grundfarben nicht in dem Sinne festhalten, dass aus drei objectiv existirenden Farben alle anderen objectiv existirenden Farben zusammengesetzt werden können, da aus den Spectralfarben, als den gesättigtsten Farben, welche wir kennen, wie immer man auch drei derselben auswählen mag, nicht alle anderen Spectralfarben sich zusammensetzen lassen wegen der immer mehr oder weniger weisslichen Färbung der Mischung. Davon unabhängig ist aber die Annahme von Young, dass es drei Hauptfarbenempfindungen giebt, und diese drei Fasersysteme vertheilt sind, welche sämmtlich von allem objectiven Lichte erregt werden können, aber in verschiedener Stärke, so dass sie qualitativ verschiedene Empfindungen hervorbringen, wobei die Wahl der Grundfarben noch bis zu einem gewissen Grade willkürlich bleibt; jedenfalls würden die Spectralfarben die einzelnen Grundempfindungen noch nicht rein und von den beiden anderen getrennt erregen, und dies würde sich mit dem vereinigen lassen, was Helmholtz in seiner Theorie der Nachbilder entwickelt, dass es noch gesättigtere Farbenemfindungen als die durch die Spectralfarben hervorgebrachten giebt. Um die Aufrechterhaltung der Young'schen Hypothese zu stützen, untersuchte Helmholtz einen Farbenblinden mit Hülfe des Maxwell'schen Farbenkreisels, welcher gestattet, für gesunde Augen mit Hinzunahme von Weiss durch Mischung (Seite 345) von drei passend gewählten Grundfarben, welche auf Sectoren mit veränderlicher Breite aufgetragen sind, eine beliebig gegebene Farbe herzustellen, und fand eine Bestätigung der Maxwell'schen Untersuchungen darin, dass für dessen Augen alle Farben durch Mischungen von Gelb und Blau wiedergegeben werden können, dass diesen farbenblinden Augen somit eine der Grundempfindungen fehlte. Indem er nun nach solchen Farben suchte, welche der Farbenblinde mit neutralem Grau verwechselt, wurden als solche Roth und Grünblau gefunden, von denen das Roth demselben als ein dunkles Grau, das complementäre Grünblau als ein sehr helles Grau erschien, während sich das farbenblinde Auge nur sehr wenig empfindlich gegen Roth erwies. So war festgestellt, dass Roth eine der Grundfarben ist; Helmholtz nannte Farbenblinde dieser Art die Rothblinden, bei denen somit nach der Young'schen Theorie eine Lähmung der rothempfindenden Nerven anzunehmen ist. Er hielt es für wahrscheinlich, dass die andere Klasse der bisher als farbenblind Bezeichneten die Grünblinden sind, obwohl die Untersuchung damals noch nicht durchgeführt war, welche mit Hülfe des Maxwell'schen Kreisels für Farben, die dem Farbenblinden nahehin gleich erscheinen, feststellt, ob der noch vorhandene Unterschied den Farbenton oder den Grad der Sättigung betrifft.

Der Tod Olgas

Doch seine Arbeitsfähigkeit erschöpfte sich allmählich, der Zustand der von ihm so innig geliebten Frau wurde immer trauriger; ihre Verwandten übernahmen den Haushalt und sorgten in unermüdlicher Ausdauer und Liebe für die Pflege der Kranken und das Gedeihen der Kinder.

„Es war mir vergönnt“, schreibt ihre Schwester, „bis zum letzten Hauch um sie zu sein; sie starb klar, stark, schlicht wie sie gelebt — den Freund zur Seite und ohne Zagen, wie immer schon im Leben, dem Höchsten zugewendet — am 28. December 1859.“

(Seite 346) Er selbst schreibt nach der Bestattung an Binz(*), damals Arzt in Neapel:

„Bester Herr Doctor! Das letzte kleine Fest, welches meine liebe arme Frau gegeben hat, war jener Tag, den Sie mit Junge bei uns waren. Ich trat bald darauf meine Schweizertour an. Während der Zeit brach in Heidelberg eine Epidemie catarrhalischer Fieber aus, welche von jeher die grössten Feinde meiner Frau gewesen sind. Sie wurde befallen, und das Fieber ging unmittelbar in hektisches über. Die Nachricht erreichte mich spät; als ich 14 Tage nach ihrer Erkrankung zurückkam, fand ich sie furchtbar verändert. Bis Ende October stand sie noch täglich einige Stunden auf, von da ab lag sie, oder sass in Betten gepackt auf dem Sopha. October und November waren furchtbar quälend, das Fieber sehr energisch, fast täglich hysterische Brustkrämpfe, grosse Unruhe, Delirien. Anfangs December musste ich sie auf die Wahrscheinlichkeit ihres Endes vorbereiten. Sie hatte das oft verlangt, und sie wurde von da ab wunderbar ruhig, ordnete alles mit der grössten Ausführlichkeit. Das Fieber wurde mässiger, die hysterischen Zufälle hörten auf, ich glaubte, die neu gebildete grosse Caverne würde sich eine Wand mit schwacher Absonderung organisiren, und ein Stillstand wenigstens bis zum Frühling eintreten. Aber am 23. December trat Abends ein furchtbarer Erstickungsanfall ein, Friedreich vermuthete eine Embolie der Art. pulm. Sie verlor die Besinnung und wurde kalt und pulslos gleich einer Sterbenden, und blieb auch so während des 24. Noch zweimal am 24. schien die Respiration zu erlöschen. Sie nahm Abschied von uns, tröstete uns in der friedlichsten und erhabensten Weise, so dass mir von diesem furchtbaren Tage ein so hohes Bild ihrer Seele zurückgeblieben ist, dass es mir über das Grässliche des körperlichen Sterbens hinweggeholfen hat.

Vom 24. Abends hob sich ihr Puls wieder, sie wurde wieder warm, bekam den Gebrauch ihrer Sinne wieder, nur (Seite 347) war sie furchtbar matt und kurzathmig. Deshalb jammerte sie, dass es noch nicht vorüber sei. Sie hatte noch ziemlich gute Nächte, liess sich vorlesen. Endlich am 28. früh, als sie sich eben wollte nach dem Sopha hinüberbringen lassen, trat ihr eine übermässige Menge von Sputis in die Luftröhre, und in weniger als 5 Minuten war sie erlöst.

Ich habe das reinste und höchste Glück genossen, welches die Ehe bieten kann; es war für diese Erde zu schön.

Am Sylvesterabend haben wir sie bestattet. Meine Schwiegermutter bleibt bei mir und den Kindern. — Für Ihre freundlichen Anerbietungen, für meine Frau in Neapel zu sorgen, noch den besten Dank. Ich weiss, dass sie aufrichtig gemeint waren und treu erfüllt worden wären, aber es war zu spät.“

Ein einfacher Stein schmückt das schön gelegene Grab auf dem Heidelberger Kirchhof, und trägt die Inschrift:

„Gesegnet sei die reiche Saat der Liebe, die sie hienieden ausgestreut.“

Mehrere Monate hindurch war Helmholtz durch den schweren Schicksalsschlag, der ihn getroffen, zu jeder geistigen Anstrengung unfähig; er schreibt am 9. April 1860 an Donders:

„Ich sage Ihnen und den Ihrigen meinen herzlichen Dank für die Theilnahme, die Sie mir bei meinem schweren Verluste gewidmet haben. Ich konnte nicht eher dazu kommen, Ihnen zu antworten, weil ich lange körperlich leidend war. Ich war durch die vielen nächtlichen Störungen und die Gemüthsbewegungen in den letzten Monaten des vorigen Jahres in einen Zustand nervöser Irritation versetzt, dass ich keine Stunde hinter einander schreiben könnte, ohne heftige Kopfschmerzen oder fieberartige Aufregungen zu bekommen. Es war eine schwere Zeit. Da ich nicht arbeiten konnte, hatte ich auch das Hauptwiderstandsmittel gegen das Gefühl der Vereinsamung und (Seite 348) Interesselosigkeit an der Welt eingebüsst. So habe ich zwei Monate langer Tage und endloser Nächte hingebracht. Seit Anfang März konnte ich mir wieder durch Arbeit aufhelfen.“

Der erste Brief, in dem wieder eine wissenschaftliche Frage erörtert wird, ist in der That der erst am 16. März an Wittich gerichtete, welcher die folgende in akustischer Beziehung interessante Stelle enthält:

„. . . . Es thut mir sehr leid, dass Sie auf eine für Sie selbst so unangenehme Weise für die Physiologie interessant werden. Ihr Doppelhören ist allerdings ein seltsames Phänomen. Uebrigens ist so viel sicher, dass ein Ton von bestimmter Schwingungsdauer die Theile des Gehörapparates immer nur in Schwingungen von derselben Schwingungsdauer versetzen kann. Es kann durch Veränderungen des Trommelfelles, der Paukenhöhle u. s. w. wohl die Stärke der Zuleitung verändert werden, aber niemals die objective Tonhöhe. Es muss also in Ihrem Falle die Empfindung der Tonhöhe verändert sein. Ich weiss dies mit meiner Ansicht über die Leistungen des Hörnerven nur dadurch zu vereinigen, dass ich annehme, die Corti'schen Organe seien selbst durch veränderten Druck der Flüssigkeit, der Membranen oder wohl noch eher durch veränderte Quellung im Labyrinthwasser, dessen Dichtigkeit durch die Entzündung etwas verändert sein kann, etwas verstimmt, so dass der elastische Anhang der für a bestimmten Nervenfaser, welcher sonst für a mitschwingt, jetzt auf b mittönt, so dass, wenn b angegeben wird, die a-Faser in Regung versetzt wird und Sie demnach auf dem kranken Ohr a zu hören glauben. Uebrigens wäre es doch wünschenswerth, dass Sie auch den Gegenversuch machen, ob Sie zwei verschiedene Stimmgabeln gleich hören können, wenn die höhere vor das kranke, die tiefere vor das gesunde Ohr gehalten wird.“

Reibung tropfbarer Flüssigkeiten

In Folge der durchlebten Aufregungen und Anstrengungen stellten sich Ohnmachtsanfälle, die schon in den (Seite 349) letzten Jahren öfters auftraten, jetzt häufiger ein; „vor Pfingsten“, schreibt er am 27. Juni, „mitunter täglich zweimal, später sind die Anfälle seltener und leichter geworden, so dass ich mich während derselben aufrecht halten kann, wenn es sein muss“. Dennoch zwingt er sich zur Arbeit, die allein ihm Widerstandskraft geben kann; noch im Laufe des März beendet er die im vorangegangenen Sommer Ludwig und Thomson angekündigte, in Gemeinschaft mit Piotrowski unternommene Arbeit, von welcher letzterer den experimentellen Theil nach seiner Anleitung ausgeführt hatte, und legte dieselbe am 12. April 1860 unter dem Titel „Ueber Reibung tropfbarer Flüssigkeiten“ der Wiener Akademie vor.

Die Bewegungsgleichungen für das Innere einer tropfbar flüssigen Masse, welche der Reibung unterworfen ist, waren schon früher von Poisson, Navier und Stokes entwickelt, und auch für die Bewegung einer Flüssigkeit in sehr engen und sehr langen Rohren durch das Experiment Resultate ermittelt worden, welche mit der Theorie in Uebereinstimmung standen; aber es erwies sich unausführbar, ähnliche mit der Theorie vergleichbare Versuche an anderen Röhren als an capillaren anzustellen. Helmholtz unternahm es nun, einen zweiten Fall von Flüssigkeitsbewegungen zu untersuchen, dessen Theorie vollständig aus den hydrodynamischen Gleichungen für reibende Flüssigkeiten hergeleitet werden kann, um daraus von Neuem die bisher nur aus den Poiseuille'schen Beobachtungen abgeleitete Constante für die innere Reibung des Wassers zu ermitteln und dieselbe mit den Beobachtungen zu vergleichen. Es gelang ihm dies für die Bewegung des Wassers in einer innen polirten und vergoldeten Hohlkugel, indem das kugelförmige Gefäss mittelst eines besonderen Apparates in reine Schwingungen um seine senkrechte Auf hängungsaxe versetzt und die durch die Flüssigkeit bewirkte Verzögerung der mit Spiegel und Fernrohr beobachteten Schwingungen gemessen wurde. In diesem Falle (Seite 350) konnte aus den Beobachtungen die Kraft, welche die in dem Gefäss enthaltene Flüssigkeit auf die Wände des Gefässes ausübt, experimentell bestimmt und mit dem aus der mathematischen Theorie der Flüssigkeitsbewegung hergeleiteten Kraftausdrucke verglichen werden. Er vereinfacht die hydrodynamischen Gleichungen dadurch, dass er die Schwingungen der Kugel so klein macht, dass die Quadrate der Geschwindigkeit gegen die erste Dimension derselben verschwinden, und so gelingt es ihm unter der Annahme, dass als äussere Kraft nur die Schwere wirkt, particuläre Integralgleichungen zu finden, welche die Geschwindigkeitscomponenten des in einem bestimmten Punkte zu einer bestimmten Zeit befindlichen Wassers als Product der Coordinaten in eine Function der Zeit und der Entfernung des Punktes vom Anfangspunkt der Coordinaten ausdrücken. Diese Function genügt einer der bekannten Potentialgleichung der Kugel analogen Differentialgleichung, die hier nur noch ein Glied besitzt, welches die Reibungsconstante für das Innere der Flüssigkeit als Factor enthält, und man kann die Form der diesen Integralgleichungen entsprechenden Bewegung dadurch beschreiben, dass die Wassermasse in concentrische Kugelschalen zerfällt, deren jede gleichsam wie eine feste Kugelschale drehende Bewegungen um die Richtung der Schwere ausführt. Durch Zerlegung jener Function, welche die Winkelgeschwindigkeit der Drehung charakterisirt, in eine von der Zeit linear abhängige Exponentialfunction und einen nur von der Entfernung abhängigen, von der Zeit unabhängigen Factor kann er das allgemeine Integral der gewöhnlichen Differentialgleichung aufstellen, welche diesen zweiten Factor charakterisirt, und daraus ergeben sich in einfacher Weise die Integrale der Bewegungsgleichungen für die im Innern einer Hohlkugel befindliche tropfbar flüssige und der Reibung unterworfene Masse. Da nun vorausgesetzt war, dass keine Kräfte ausser der Schwere auf das Innere der Wassermasse ausgeübt werden, so können die Kräfte, welche sie in Bewegung setzen, (Seite 351) nur auf die äusserste Schicht wirken, und zwar wird diese von dem Gefäss, mit dem sie in Berührung ist, durch Reibung bewegt; sie haftet also an der inneren Gefässwand nicht fest, sondern gleitet an ihr hin. Benutzte man die bekannten analytischen Ausdrücke für die Componenten der Kraft, mit welcher eine bewegte Flüssigkeit auf eine oberflächliche Schicht wirkt, und bemerkte, dass in dem behandelten Falle dieser Kraft, welche das bewegte Wasser auf seine äusserste Schicht ausübt, das Gleichgewicht gehalten werden muss durch die Kraft, welche die Gefässwand auf die äusserste Wasserschicht ausübt, so liess sich zunächst nachweisen, dass die durch die gefundenen Integrale vorgeschriebene Bewegung des Gefässes den Bedingungen von Piotrowski's Versuchen genügt. Helmholtz war nun im Stande, mit Hülfe der Vergleichung der Versuche und der theoretisch gefundenen Ausdrücke die Constanten für die innere Reibung verschiedener Flüssigkeiten zu berechnen, deren,Werth nach der Natur der Flüssigkeit und ihrer Temperatur verschieden ist. Doch traten den Versuchen grosse Schwierigkeiten entgegen, indem dieselben zu bestätigen schienen, dass die chemische Beschaffenheit der Wand auf die Bewegung der Flüssigkeiten nicht in allen Fällen einflusslos ist.

  Fortsetzung des Kapitels


S. 331 - 351 aus:
Koenigsberger, Leo: Hermann von Helmholtz. - Braunschweig : Vieweg
Band 1. - 1902


Anmerkung (Gabriele Dörflinger)

(*) Carl Binz (1832-1913) studierte in Würzburg und Bonn Medizin, wo er 1855 promoviert wurde. Carl Binz verkehrte in Bonn bereits mit Hermann Helmholtz (vgl. Band 1, S. 307 der Helmholtz-Biographie); 1859 zog er nach Neapel, um dort in der deutschen Kolonie eine Arztpraxis zu eröffnen. 1862 kehrte er nach Bonn zurück, habilitierte sich dort und wirkte von 1867 bis zu seiner Emeritierung 1908 in Bonn als Professor der Pharmakologie.
Literatur: Berling, Renate Maria: Der Pharmakologe Carl Binz. - Bonn, 1969. - 90 S.   (Signatur UB Heidelberg: 70 P 2906)


Letzte Änderung: Juli 2016     Gabriele Dörflinger   Kontakt

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