Leo Koenigsberger: Hermann von Helmholtz

Helmholtz als Professor der Physiologie in Heidelberg
von Michaelis 1858 bis Ostern 1871.



Englischer Kupferstich 1867

Die erste Zeit in Heidelberg

Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften

(Seite 318) Die Uebersiedelung nach Heidelberg zwang Helmholtz zunächst, seine grösseren experimentellen Arbeiten zu unterbrechen. Während er sehnsüchtig darauf wartete, noch vor Beginn des Semesters sein neues Local für die Aufstellung der Instrumente fertig zu sehen, suchte er möglichst bis zur Mitte des October die zweite Abtheilung seiner physiologischen Optik abzuschliessen; „er stecke aber noch in den Nachbildern fest“, schreibt er an Wittich, „und könne damit nicht recht zu Ende kommen“, während er nach Beginn der Vorlesungen „in unbesetzten Stunden und Sonntags etwas über Akustik experimentire“. Schnell lebt er sich mit seiner Familie in Heidelberg ein; schon am 9. December schreibt er seinem Vater:
„Bisher macht sich in meinen amtlichen Beziehungen hier in Heidelberg Alles recht gut. Zuhörer habe ich trotz der heruntergekommenen Zahl der Mediciner ebenso viele, als ich sie in Bonn für Physiologie hatte. Nur ist allerdings die Zahl der Laboranten zu gross für das Local, und wir sind deshalb etwas gedrängt; indessen soll es sogleich an die Ausarbeitung von Plänen für einen Neubau gehen, und kann dann für besseren Platz gesorgt werden.

Im November haben sie mich zum Mitgliede der Münchener Akademie der Wissenschaften gemacht, und heute (Seite 319) habe ich auch einen ersten Orden bekommen, und zwar einen holländischen, den niederländischen Löwen. Wie mir Professor Donders aus Utrecht schreibt, ist dort ein neues Hospital für Augenkranke unter seiner Leitung gebaut und feierlich eingeweiht worden, und bei dieser Veranlassung hat man es passend gefunden, der Erfindung des Augenspiegels in solcher Weise zu gedenken. Du siehst, dass mir Heidelberg Glück bringt in Bezug auf äussere Anerkennung.“

Die Antwort des Vaters spricht die grosse Freude über das Glück seiner Kinder aus; es war der letzte Brief des 67jährigen kränkelnden Greises an seinen Sohn; die Zeilen voll geistiger Frische enthalten noch eine Kritik des neuen Werkes zur Seelenfrage von seinem Freunde Fichte, und schliessen mit den Worten:

„Die Schwierigkeit der Wechselwirkung zwischen Geist und Leib glaube ich allerdings klarer lösen zu können, als es Fichte gelungen ist, wegen der vielen Seitenblicke, die er nach anderer Meinungen wirft, und die ihm ein ruhiges Vertiefen in die eigene Anschauung und ein consequentes Entwickeln aus ihr heraus stören; sollte Dich das interessiren, da es die Bedeutung des Leiblichen und das Verhältniss desselben zum Geistigen betrifft, so will ich es Dir, wenn ich es gründlicher und systematischer geformt haben werde, schicken. Denn wenn gleich Deine Aufgabe die scharfe Ermittelung des Körperlichen, seines Zusammenhanges und der Bedeutung des einzelnen im Körper und für den Körper ist, so scheint doch auch diese geleitet werden zu müssen von dem Begriff, was denn nun der Körper überhaupt für die Seele sei und bedeute, und was überhaupt das Leben in ihr entwickele; überhaupt würde auch die Anthropologie sowohl wie die Seelenfrage manches in Dir anregen, was Dich in Deiner materiellen Untersuchung leiten könnte.“

Nach Schluss der Wintervorlesungen reiste Helmholtz am 27. März 1859 zur Festfeier der bayerischen Akademie (Seite 320) nach München und berichtet am 30. von dort aus seiner Frau:

„....... Mir ist es bisher hier vortrefflich gegangen. Am Sonntag früh erschienen Eisenlohr und der hiesige Physiker Jolly, um mich abzuholen. Nachdem wir uns in der Akademie eingeschrieben hatten, brachte uns Jolly in Kaulbach's Atelier, der eben mit einem riesigen Carton der Schlacht von Salamis beschäftigt war, einem höchst gewaltigen und grossen Werke. Kaulbach selbst, den ich auch später beim ersten Festessen wiedergesehen habe, ist eine ausserordentlich liebenswürdige und feine Künstlernatur, mit regem Interesse für Alles, dem sich nur entfernt eine Beziehung auf die Kunst abgewinnen lässt. Er ist auch hier der Liebling Aller.

.... Nachher flanirten wir etwas durch die Strassen, machten dann Visiten bei einigen Akademikern; zum Mittag und Abend lud mich gleich Jolly ein, dessen Frau aus Heidelberg eine Schwägerin von Weber [i.e. Leber (*)] ist.

.... Der Montag verging en grande parure. Um 9 Uhr Gottesdienst mit einer ganz wackeren Predigt in der protestantischen Kirche; um 11 Uhr Sitzung, wo König Ludwig erschien und sich uns vorstellen liess .... In der Sitzung hielt ein katholischer Altbayer, ein Orientalist Müller, eine Rede über die Geschichte der Akademie, worin er sich in grösster Heftigkeit gegen die Jesuiten losliess, dass ich meinen Ohren nicht traute. Da das Essen spät war, frühstückte ich in grösserer Gesellschaft ein Glas Bier, welches hier in der That alle auswärtigen Nachahmungen des Bayrischen Bieres bei weitem übertrifft. Um 3 Uhr ein sehr grosses Festessen hier im Bayrischen Hofe. Ich sass zwischen Schönbein und Bischoff, gegenüber Liebig und Kaulbach, es war sehr amüsant. Abends ein Stück von Terenz im kleinen Theater.

Gestern früh war ich mit Eisenlohr in der optischen Werkstatt von Steinheil (Ministerialrath) ausserhalb der (Seite 321) Stadt, und sah viel Vortreffliches. Dann eine ziemlich langweilige Sitzung mit Reden, nachher wieder Bayrisch Bier und Mittagsruhe. Dann Essen bei Majestät, dem eine sehr lange und ausführliche Vorstellung vorausging. Der König ist sehr freundlich, spricht verständig, scheint aber die schlechte Ernährung von seinem Vater geerbt zu haben. Freute sich, mich persönlich kennen zu lernen, ich dankte für gnädige Bewilligung; er hoffte, dass ich für die Architectur von Sälen würde akustische Aufschlüsse erhalten, ich konnte ihm darauf wenig Aussicht machen. Sehr brillante Tafel im Barbarossa-Saal, sehr feines und wenig substantielles Essen, wie ich es liebe. Nachher im Theater Oedipus von Colonos mit Musik von Mendelssohn, die ihm aber nicht mehr so gut geflossen ist, wie die der Antigone. Heute sind uns die Säle des Schlosses geöffnet, am Abend grosses Maifest im Rathhause, wobei feierlich der Bock angezapft werden soll ....

..... Ich muss schliessen, da R. Wagner gleich kommen wird mich abzuholen.“

Arbeiten über Klangfarben und Luftschwingungen in Röhren

Bei Gelegenheit dieser akademischen Feier hielt nun Helmholtz am 2. April einen Vortrag „Ueber die Klangfarbe der Vocale“; den wesentlichen Inhalt desselben theilte er in Poggendorff's Annalen mit, nachdem er schon früher Donders mündlich seine Theorie der Vocale dargelegt und später schriftlich ergänzt hatte.

Wie er am 13. Juni 1859 an Ludwig schrieb, war er schon durch die nothwendige Vorstudie über die Bewegung der Luft in Röhren zu einer festen Theorie der Klangfarbe gelangt. Hier giebt er eine ausführlichere Entwickelung derselben, nach welcher Klänge von verschiedener Klangfarbe und gleicher Höhe des Grundtones für das Ohr verschieden sind durch die verschiedene Zahl und Stärke der harmonischen Obertöne, oder die Klangfarbe bedingt ist durch Zusammensetzung des Grundtones mit verschieden starken Obertönen. Er bezeichnet als (Seite 322) musikalische Klangfarbe des Tones den Theil der Klangfarbe, welcher unabhängig ist von den unregelmässigen Geräuschen, die nicht eigentlich zu dem musikalischen Theile des Tones zu rechnen sind — wie das Kratzen des Violinbogens, das Pfeifen des über die Flöte geblasenen Luftstromes, das verschiedene Intermittiren des ausgestossenen Athems beim Aussprechen von Consonanten — und wirft nun die Frage auf, ob die Unterscheidung der musikalischen Klangfarbe nur in der Empfindung von Obertönen verschiedener Stärke beruht oder ob das Ohr auch deren Phasenunterschiede aus einander hält; gelangt man doch zu ganz verschiedenen Wellenformen bei Zusammensetzung der Welle eines Grundtones und seiner ersten höheren Octave, je nachdem man das Verdichtungs-Maximum des Grundtones mit dem der Octave zusammenfallen lässt oder nicht. Und die Entscheidung dieser Frage suchte Helmholtz dadurch zu gewinnen, dass er Töne verschiedener Klangfarbe durch directe Zusammensetzung einfacher Töne erzeugte, wie er sie früher durch Stimmgabeln hervorzubringen gelehrt hatte; als passendes Object der Nachahmung wählte er die verschiedenen Vocale der menschlichen Sprache, weil diese als gleichmässig anhaltende musikalische Töne hervorgebracht werden können. Die Charakterisirung der Vocale giebt er ungefähr in der Donders brieflich mitgetheilten Art an, wonach bei diesen nicht der Grundton, sondern einer der Obertöne der stärkste ist; nur fügt er jetzt die genauere Bestimmung hinzu, dass o entsteht, wenn der Grundton kräftig von der höheren Octave begleitet wird, wobei eine ganz schwache Begleitung durch den dritten und vierten Ton vortheilhaft ist, während e charakterisirt wird durch den dritten Ton bei mässiger Stärke des zweiten, und der Uebergang von o zu e dadurch geschieht, dass man den zweiten Ton abnehmen, den dritten anschwellen lässt, so dass, wenn man beide genannte Nebentöne stark angiebt, ö entsteht. So zeigt er, dass die für Stimmgabeln gefundenen (Seite 323) Resultate auch durch die Untersuchung der menschlichen Stimmtöne bestätigt werden, zunächst wenigstens, wenn die Vocale auf einer bestimmten Note gesungen werden. Da nun der vom Menschen ausgesprochene Vocal ein durch Schwingung der Stimmbänder erzeugter Klang ist, die Mundhöhle aber nach seiner Theorie den Resonator bildet, welcher einen bestimmten Oberton besonders hervortreten lässt, damit ein bestimmter Vocal entstehe, so wird durch die veränderte Mundstellung derselbe Klang zu verschiedenen Vocalen. Zur Begründung seiner Vocallehre construirt nun Helmholtz als Resonatoren kleine Glaskugeln, die mit zwei Oeffnungen versehen sind, von denen die eine in einen kurzen trichterförmigen Hals ausläuft, dessen Ende in den Gehörgang einpasst, und deren Luftmasse, wenn ihr Eigenton ausserhalb ertönt, mitzuschwingen anfängt und so auf das Ohr wirkt. Mit Hülfe dieser Resonatoren waren nicht nur die meisten akustischen Phänomene, wie die objectiven Combinationstöne, die Obertöne und ihre Schwebungen, leicht zugänglich, sondern es ergab sich evident die Richtigkeit seiner Theorie der Vocale, und es zeigte sich, dass die musikalische Klangfarbe nur abhängt von der Anwesenheit und Stärke der Nebentöne, die in dem Klange enthalten sind, aber nicht von ihren Phasenunterschieden — zunächst jedoch mit Sicherheit nur, wenn man die Untersuchung bis zum sechsten oder achten Nebenton erstreckt. Zugleich aber gestattete die Bestätigung dieses letzteren Satzes, dass die Phasenunterschiede nicht in Betracht kommen, die von Helmholtz gemachte Annahme aufrecht zu erhalten, nach welcher sich die Empfindung verschiedener Klangfarben darauf reducirt, dass gleichzeitig mit der Faser, welche den Grundton empfindet, andere Nervenfasern in Erregung gesetzt werden, welche den Nebentönen entsprechen; eine so einfache Erklärung würde sich nicht geben lassen, wenn die Phasenunterschiede der tieferen Nebentöne in Betracht kämen. Eine Ergänzung dieser Untersuchung (Seite 324) gab Helmholtz noch im folgenden Jahre im naturhistorisch-medicinischen Verein in Heidelberg durch einen Vortrag „Ueber Klangfarben“; er dehnte die oben erwähnte Beschränkung, dass die Vocalklänge auf einer bestimmten Note — und zwar von einer Männerstimme auf B — gesungen werden, auf die Untersuchung für alle Tonhöhen des gesungenen Vocals aus, wobei sich ergab, dass für gewisse Vocale noch höher liegende Obertöne charakteristisch sind.

Schon in seiner der bayerischen Akademie vorgelegten Arbeit weist Helmholtz auf die von ihm als Vorstudie bezeichnete grosse, noch in demselben Jahre im Journal für reine und angewandte Mathematik erschienene Arbeit hin „Theorie der Luftschwingungen in Röhren mit offenen Enden“, deren Inhalt er bereits am 15. März dem naturhistorisch-medicinischen Verein in Heidelberg mitgetheilt hatte. Diese Arbeit, sowie die früher besprochene Untersuchung über Wirbelbewegung, gehören zu den glänzendsten mathematischen Leistungen von Helmholtz, die nur noch von den Arbeiten in dem letzten Jahrzehnt seines Lebens erreicht, vielleicht übertroffen werden:

„Auch bin ich im Stande gewesen“, sagt er im Jahre 1891, „einige mathematisch physikalische Probleme zu lösen, und darunter sogar solche, an welchen die grossen Mathematiker seit Euler sich vergebens bemüht hatten, z. B. die Fragen wegen der Wirbelbewegungen und der Discontinuität der Bewegung in Flüssigkeiten, die Frage über die Schallbewegung an den offenen Enden der Orgelpfeifen u. s. w. Aber der Stolz, den ich über das Endresultat in diesen Fällen hätte empfinden können, wurde beträchtlich herabgesetzt dadurch, dass ich wohl wusste, wie mir die Lösungen solcher Probleme fast immer nur durch allmählich wachsende Generalisationen von günstigen Beispielen, durch eine Reihe glücklicher Einfälle nach mancherlei Irrfahrten gelungen waren. Ich musste mich vergleichen einem Bergsteiger, der, ohne den Weg zu kennen, (Seite 325) langsam und mühselig hinauf klimmt, oft umkehren muss, weil er nicht weiter kann, bald durch Ueberlegung, bald durch Zufall neue Wegspuren entdeckt, die ihn wieder ein Stück vorwärts leiten, und endlich, wenn er sein Ziel erreicht, zu seiner Beschämung einen königlichen Weg findet, auf dem er hätte herauffahren können, wenn er gescheidt genug gewesen wäre, den richtigen Anfang zu finden. In meinen Abhandlungen habe ich natürlich den Leser dann nicht von meinen Irrfahrten unterhalten, sondern ihm nur den gebahnten Weg beschrieben, auf dem er jetzt ohne Mühe die Höhe erreichen mag.“

Die Theorie der Orgelpfeifen war bisher zunächst unter der Voraussetzung behandelt worden, dass die Bewegung der Lufttheilchen im Innern der Röhre überall ihrer Axe parallel gerichtet und sowohl die Geschwindigkeit wie der Druck in allen Punkten desselben Querschnittes der Röhre gleich gross sei, eine Annahme, welche für die vom offenen Ende entfernteren Theile einer cylindrischen oder prismatischen Röhre statthaft, jedoch in der Nähe offener Enden, wo die ebenen Wellen der Röhre sich in Form kugeliger Wellen ausbreiten, unzulässig war, da ein solcher Uebergang nicht sprungweise geschehen kann. Ferner war die von Bernouilli, Euler, Lagrange gemachte Annahme, dass die Verdichtung der Luft am offenen Ende der Röhre Null ist, ebenfalls unstreng, da die Dichtigkeit derselben nicht gleichgesetzt werden darf der constanten Dichtigkeit der ruhenden Luft, sondern der veränderten Dichtigkeit der anstossenden selbst in Vibration gerathenen Luft im freien Raume. Poisson suchte nun diese irrthümliche Annahme durch eine, wie die Helmholtz'sche Theorie erwies, nicht gerechtfertigte Hypothese über die Verdichtung der Luft am Ende der Röhre zu ersetzen, und so traten beständig Differenzen zwischen der Theorie und der Erfahrung ein. Helmholtz brauchte aber zur Erledigung seiner schon früher angedeuteten akustischen Untersuchungen eine genaue, der Erfahrung (Seite 326) entsprechende, streng theoretische Beantwortung der Frage, in welcher Weise sich ebene Schallwellen, die in der Tiefe einer cylindrischen Röhre erzeugt worden sind, bei ihrem Uebergange in den freien Raum verhalten. Er löste dieses überaus schwierige Problem ohne jede Hypothese mit den höchsten Hülfsmitteln der Analysis, indem er sich die Aufgabe stellte, die Schwingungsform zu ermitteln, welche sich schliesslich dauernd herstellt, wenn die die Schwingungen erregende Ursache dauernd und gleichmässig fortwirkt; seiner früher aufgestellten Theorie gemäss durfte er die Voraussetzung machen, dass die Vibrationen denen eines einfachen Tones entsprechen, da die Willkürlichkeit der Schwingungsform sich aus einer grösseren Anzahl von solchen einfachen Tönen zusammensetzen lässt.

Er formt zunächst die Bewegungsgesetze der Luft unter der Voraussetzung, dass die auf die gasige Masse wirkenden Kräfte eine Potentialfunction besitzen, mit Hülfe des für die Schallbewegung gültigen Geschwindigkeitspotentials in zwei Gleichungen um, die sich von der Laplace'schen Gleichung für das Newton'sche Potential durch einen von den Coordinaten abhängigen und einen anderen Posten unterscheiden, der dem Geschwindigkeitspotential proportional ist, und zeigt, dass für einen von Erregungspunkten des Schalles freien Raum nur der letztere Posten hinzukommt. Für diesen letzteren Fall untersucht er nun die allgemeinen Formen des Geschwindigkeitspotentials und die Beziehungen desselben zu der Dichtigkeit continuirlich verbreiteter Erregungspunkte. Sind diese continuirlich auf einer Fläche verbreitet, so lässt sich, wie er findet, das Theorem von Green auf die Schallbewegung in der Form übertragen, dass jede stetige und eindeutige Function, welche in allen Theilen eines Raumes der oben bezeichneten, für den von Erregungsstellen freien Raum gültigen Differentialgleichung des Geschwindigkeitspotentials genügt, sich als Geschwindigkeitspotential von Erregungspunkten ausdrücken (Seite 327) lässt, die nur längs der Oberfläche jenes Raumes ausgebreitet sind. Endlich werden noch die Grenzbedingungen für weit von den Erregungspunkten entfernte Flächen aufgestellt, durch welche Schallwellen in den unendlichen Raum hinauslaufen, und jenseits welcher es keine Erregungspunkte mehr giebt. Die so gewonnene Uebertragung des Green'schen Theorems auf die Akustik liefert aber nun sogleich den wichtigen Satz, dass, wenn in einem mit Luft gefüllten Räume, der theils von endlich ausgedehnten festen Körpern begrenzt, theils unbegrenzt ist, in einem Punkte Schallwellen erregt werden, das Geschwindigkeitspotential derselben in einem zweiten Punkte ebenso gross ist, als es in dem ersten sein würde, wenn nicht in dem ersten, sondern in dem zweiten Wellen von derselben Intensität erregt wurden, wobei der Phasenunterschied in dem erregenden und erregten Punkte in beiden Fällen gleich ist — und dieser Satz bleibt bestehen, wenn der Raum von einer unendlichen Ebene theilweise begrenzt wird.

So waren die wichtigsten allgemeinen Gesetze der elektrischen Potentialfunctionen für die Lehre von den Schallwellen anwendbar gemacht, und Helmholtz geht nun zu seiner eigentlichen Aufgabe über, die Bewegung der Luft am offenen Ende einer cylindrischen Röhre zu bestimmen, wenn im Innern der Röhre durch irgend welche Ursachen ebene Wellen, die einem einfachen Tone entsprechen, zu Stande gekommen sind, und sich die Bewegung durch die Mündung der Röhre der äusseren, durch keine anderen Schall erregenden Kräfte afficirten Luft mittheilt. Er nimmt dabei an, dass die cylindrischen Röhren in einer so kleinen Entfernung von ihrer Mündung, dass deren Grosse gegen die Wellenlänge vernachlässigt werden kann, in beliebiger Weise von der cylindrischen Form abweichen dürfen, die Dimensionen der Oeffnung ebenfalls sehr klein gegen die Wellenlänge sein sollen, und der äussere Luftraum einseitig begrenzt ist durch eine gegen die Axe der Röhre senkrechte (Seite 328) Ebene, mit welcher auch die Ebene der Mündung zusammenfällt. Mit Hülfe wiederholter Anwendung des Green'schen Satzes auf vier verschiedene Theilräume lassen sich, ohne die specielle Form der Mündung und der Luftbewegung in der Mündung zu kennen, gewisse Beziehungen herleiten zwischen den ebenen und den sich halbkugelförmig in den entfernteren Theilen des Raumes ausbreitenden Wellen, und es werden dadurch die bisher ungelöst gebliebenen Fragen über den Einfluss des offenen Endes auf die ebenen Wellen beantwortet.

Zunächst ergiebt sich für die Form der Wellen in der Röhre, dass die Maxima und Minima der Schwingungen oder die Bäuche und Knoten derselben in der Röhre um Viertelwellenlängen von einander entfernt liegen, und dass die Phasen der Bewegung am Orte der Maxima und Minima um eine Viertelschwingungsdauer verschieden sind. Helmholtz nennt nun die Entfernung der Querschnitte von einem in bestimmt angegebener Entfernung von der Oeffnung gelegenen Punkte der Axe die reducirte Länge des Röhrenstückes, wobei, wenn Mündung und Querschnitt der Röhre zu einander ein endliches Verhältniss haben, die Differenz der wahren und reducirten Länge ein endliches Verhältniss zu den linearen Dimensionen der Mündung besitzt. Er findet, dass die Maxima der Schwingung überall da liegen, wo die reducirte Länge gleich einem geraden Vielfachen der Viertelwellenlänge, Flächen kleinster Bewegung oder Knotenflächen dagegen da, wo die reducirte Länge der Röhre einem ungeraden Vielfachen der Viertelwellenlänge gleich ist. Die gewonnenen Resultate benutzt nun Helmholtz, um die Stärke der Resonanz und die Phasen der in der Luft erregten Schwingungen bei verschiedenen Erregungsweisen des Schalles zu bestimmen. Ist die Röhre in irgend, einem Querschnitt durch eine feste Platte begrenzt, welche durch eine äussere Kraft, z. B. eine aufgesetzte Stimmgabel, in eine schwingende Bewegung versetzt wird, so wird die Resonanz (Seite 329) am stärksten — als Töne stärkster Resonanz definirt er die von der Lage der Schwingunges-Minima und Maxima abhängende Höhe der natürlichen Töne der Röhre — wenn die reducirte Länge der Röhre ein ungerades Vielfaches der Viertelwellenlänge ist, am schwächsten, wenn sie ein gerades Vielfaches ist; diese Eigenschaft bleibt auch erhalten für einerseits geschlossene Röhren, wenn der Schall in der Röhre von einem in den entfernteren Theilen des freien Raumes befindlichen tönenden Punkte erregt wird. Nach Herleitung dieser ganz allgemeinen Sätze, durch welche das Problem auf die Bestimmung der reducirten Länge verschiedener Röhrenformen zurückgeführt wird, stellt sich nun Helmholtz die Aufgabe, solche Röhrenformen aufzusuchen, für welche sich die Luftbewegung in der Mündung und die reducirte Länge vollständig bestimmen lässt für Schallwellen von so grosser Wellenlänge, dass gegen diese die Dimensionen der Röhrenöffnung, ihres Querschnittes und des von der Cylindergestalt abweichenden Theiles der Mündung verschwinden; er sucht unter der Annahme, dass die Wand der Röhre eine Rotationsfläche ist, welche in kleiner Entfernung von der kreisförmigen Mündung mit einem bestimmten Radius in einen Cylinder von kreisförmigem Querschnitt mit einem anderen Radius übergeht, solche Potentialfunctionen auf, welche Röhren bestimmen, die in kleiner Entfernung von der Mündung in einen Cylinder übergehen, um daraus die zugehörige Röhrenform bestimmen und sodann die Bewegung der Luft vollständig angeben zu können. Es gelingt ihm aber auch, für die gegebenen einfachsten Formen der Potentialfunction die Gestalt der Röhren zu berechnen, und er findet durch Anwendung der zur Zeit höchsten Mittel der Analysis, dass sich — für eine Form, bei welcher die Differenz zwischen reducirter und wahrer Länge verschwindet, wobei sich ihre Mündung schwach trompetenförmig erweitert, so dass die Fläche der Mündung doppelt so gross ist als der Querschnitt des Cylinders, und für eine (Seite 330) andere Form, bei welcher die Weite der Oefümmg gleich der des Cylinders ist, und die so ausserordentlich wenig von einem vollständigen Cylinder abweicht, dass die Differenz meistens vernachlässigt werden darf — die Bewegungsweise der Luft vollständig bestimmen lässt. Endlich wird noch die Behandlung der äusserst schwierigen Aufgabe skizzirt, die Luftschwingungen in solchen Hohlräumen zu bestimmen, deren drei Dimensionen gleichmässig als verschwindend klein gegen die Wellenlänge betrachtet werden können, und die durch eine oder mehrere Oeffnungen, deren Flächen selbst gegen die Oberfläche des Hohlraumes verschwindend klein sind, mit der äußeren Luft communiciren; er findet wiederum durch Anwendung des verallgemeinerten Green'schen Theorems das Gesetz, durch welches die Höhe der Töne stärkster Resonanz bestimmt wird; für eine oder zwei, und zwar kreisförmige oder elliptische Oeffnungen ergeben sich Zahlen, die durch die Versuche bestätigt werden.

Zu dieser Arbeit lieferte Helmholtz noch einen Nachtrag in einem am 27. Februar 1863 im naturhistorisch-medicinischen Verein zu Heidelberg gehaltenen Vortrage „Ueber den Einfluss der Reibung in der Luft auf die Schallbewegung“; hier kam er nochmals auf den für einzelne Gestalten der Röhrenmündungen durch die Theorie gegebenen Unterschied zwischen der wahren und reducirten Länge zurück, weil die Theorie für enge Röhren merklich kleinere Unterschiede lieferte als die Versuche, und es ergab sich eine weit grössere Uebereinstimmung, wenn man die Reibung der Luft in Rechnung zog, was er auf Grund der Untersuchungen von Stokes, ähnlich wie es durch ihn für Flüssigkeiten geschehen, durchführen konnte. Er findet in dem ersten Theile seiner Untersuchung, welcher sich auf die Fortpflanzung kugeliger oder ebener Wellen in unendlich ausgedehnten, mit Luft gefüllten Räumen bezog, dass in Folge der Reibung die Schallwellen an Intensität abnehmen, und dass die Abnahme desto bedeutender wird, (Seite 331) je höher der Ton ist. Weiter ergab sich für die Fortpflanzung ebener Wellen in cylindrischen Röhren, dass die Abnahme der Intensität sowie die Verzögerung der Fortpflanzung in solchen Röhren wegen der Reibung an den Wänden viel bedeutender ist als bei der Fortpflanzung im freien Räume, und er findet einen von der Schwingungszahl und dem Radius der Röhre abhängigen Abnahmecoefficienten der Intensität, so dass bei engeren Röhren die wegen der verminderten Fortpflanzungsgeschwindigkeit nothwendige Verkürzung zum Theil über ein Procent der ganzen Länge beträgt. Was endlich die Stärke der Resonanz betrifft, so stimmte der früher entwickelte Satz, dass dieselbe für eine an beiden Seiten offene Röhre am stärksten ist, wenn ihre reducirte Länge einer geraden Anzahl von Viertelwellenlängen gleich ist, für enge Röhren mit der Erfahrung nicht überein. Nach der Theorie rnuss die Resonanz desto stärker sein, je enger die Röhre, weil die Reflexion der Wellen an den offenen Enden desto vollständiger ist, je enger diese sind; die Erfahrung aber zeigt, dass enge Röhren namentlich für tiefe Töne schlecht resoniren. Bei Berücksichtigung der Reibung liefert die Theorie wieder gut mit der Erfahrung übereinstimmende Resultate, und es lässt sich die mittlere Weite der Röhren für die stärkste Resonanz ziemlich genau auswerthen.

Die grosse Anerkennung, welche seine akustischen Arbeiten in der wissenschaftlichen Welt fanden, die Ernennung zum correspondirenden Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Wien und der Societät zu Erlangen hatten eben noch seinen alten Vater mit Freude und Stolz erfüllt, als völlig unerwartet, da derselbe „sich in der letzten Zeit körperlich wohler gefühlt und die Andeutungen eines Gehirnleidens nur sehr undeutlich hervorgetreten waren“, am 4. Juni Helmholtz die Nachricht traf, dass sein Vater vom Schlage getroffen, gefährlich erkrankt daniederliege. Er reiste sogleich nach Potsdam, seine kranke Frau mit schwerem Herzen verlassend, traf aber seinen Vater nicht mehr lebend an.

  Fortsetzung des Kapitels


S. 318 - 331 aus:
Koenigsberger, Leo: Hermann von Helmholtz. - Braunschweig : Vieweg
Band 1. - 1902


Anmerkung (Gabriele Dörflinger):
(*)   Johann Adam Leber (1808-1884), der Vater des Heidelberger Ophthalmologie-Professors Theodor Leber, hatte sein Haus in der Leopoldstr. 7 (jetzt: Friedrich-Ebert-Anlage 7) an Hermann Helmholtz vermietet.


Letzte Änderung: Juli 2016     Gabriele Dörflinger   Kontakt

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