„Für alle“, sagt Helmholtz, „die den Fortschritt der Menschheit in der möglichst breiten Entwickelung ihrer geistigen Fähigkeiten und in der Herrschaft des Geistes über die natürlichen Leidenschaften wie über die widerstrebenden Naturkräfte zu sehen gewohnt sind, war die Nachricht vom Tode dieses bevorzugten Lieblings des Genius eine tief erschütternde. Durch seltenste Gaben des Geistes und Charakters begünstigt, hat er in seinem leider so kurzen Leben eine Fülle fast unverhoffter Früchte geerntet, um deren Gewinnung während des vorausgehenden Jahrhunderts sich viele von den begabtesten seiner Fachgenossen vergebens bemüht haben. In alter classischer Zeit würde man gesagt haben, er sei dem Neide der Götter zum Opfer gefallen. Hier schienen Natur und Schicksal in ganz ungewöhnlicher Weise die Entwickelung eines Menschengeistes begünstigt zu haben, der alle zur Lösung der schwierigsten Probleme (Seite 98) der Wissenschaft erforderlichen Anlagen in sich vereinigte. Er war ein Geist, der ebenso der höchsten Schärfe und Klarheit des logischen Denkens fähig war, wie der grössten Aufmerksamkeit in der Beobachtung unscheinbarer Phänomene. Der uneingeweihte Beobachter geht an solchen leicht vorüber, ohne auf sie zu achten; dem schärferen Blicke aber zeigen sie den Weg an, durch den er in neue unbekannte Tiefen der Natur einzudringen vermag.Heinrich Hertz schien prädestinirt zu sein, der Menschheit solche neue Einsicht in viele bisher verborgene Tiefen der Natur zu erschliessen, aber alle die Hoffnungen scheiterten an der tückischen Krankheit, die, langsam und unaufhaltsam vorwärts schleichend, dieses der Menschheit so kostbare Leben vernichtete und alle darauf gesetzten Hoffnungen grausam zerstörte.
Ich selbst habe diesen Schmerz tief empfunden; denn unter allen Schülern, die ich gehabt habe, durfte ich Hertz immer als denjenigen betrachten, der sich am tiefsten in meinen eigenen Kreis von wissenschaftlichen Gedanken eingelebt hatte, und auf den ich die sichersten Hoffnungen für ihre weitere Entwickelung und Bereicherung glaubte setzen zu dürfen.“
Ob Helmholtz bei dem schweren Schicksal, das ihn während seines Lebens in dem Dahinsiechen seiner beiden Söhne getroffen, nicht auch in Bezug auf sich der Anschauung der classischen Zeit vom Neide der Götter Raum gab? Diese Frage kam häufig vielen seiner Freunde — die seinen hohen und bescheidenen Sinn kannten, beantworteten sie verneinend.
Niemand wusste besser die Geistesgaben und die Charaktereigenschaften von Hertz zu würdigen als Helmholtz, vor dem aber jener in Ehrfurcht sich beugte; im Laufe seines Zusammenseins mit Helmholtz hatte Hertz nicht nur dessen gewaltige wissenschaftliche Grösse anstaunen gelernt, auch die tiefe, wahrhafte Bescheidenheit und die (Seite 99) sittlich vornehme Gesinnung erregte immer von Neuem seine Bewunderung; er war von der Wahrheit der Worte und Anschauungen überzeugt, denen Helmholtz in jener herrlichen Tischrede Ausdruck geliehen:
„Meine Erfolge sind nur zunächst für mein Urtheil über mich selbst von Werth gewesen, weil sie mir den Maassstab abgaben für das, was ich weiter versuchen durfte, sie haben mich aber, hoffe ich, nicht zur Selbstbewunderung verleitet. Wie verderblich der Grössenwahn übrigens für einen Gelehrten werden kann, habe ich oft genug gesehen und habe deshalb stets mich zu hüten gesucht, dass ich diesem Feinde nicht verfiele. Ich wusste, dass strenge Selbstkritik der eigenen Arbeiten und Fähigkeiten das schützende Palladium gegen dieses Verhängniss ist. Aber man braucht nur die Augen offen zu halten für das, was Andere können, und was man selbst nicht kann, so finde ich die Gefahr nicht gross, und was meine eigenen Arbeiten betrifft, so glaube ich nicht, dass ich je die letzte Correctur einer Abhandlung beendet hatte, ohne nicht 24 Stunden später schon wieder einige Punkte gefunden zu haben, die ich hätte besser oder vollständiger machen können.Ich weiss, in wie einfacher Weise Alles, was ich zu Stande gebracht habe, entstanden ist, wie die von meinen Vorgängern ausgebildeten Methoden der Wissenschaft mich folgerichtig dazu geführt haben, wie mir zuweilen ein günstiger Zufall oder ein glücklicher Umstand geholfen hat. Aber der Hauptunterschied wird wohl der sein: was ich langsam aus kleinen Anfängen durch Monate und Jahre mühsamer und oft genug tastender Arbeit aus unscheinbaren Keimen habe wachsen sehen, das ist ihnen plötzlich wie eine gewaffnete Pallas aus dem Kopfe des Jupiter vor Augen gesprungen. Ihr Urtheil war durch Ueberraschung beeinträchtigt, meines nicht; mag vielleicht auch oft durch die Ermüdung der Arbeit und durch Aerger über allerlei (Seite 100) irrationelle Schritte, die ich unterwegs gemacht hatte, etwas herabgestimmt gewesen sein.“
Die Trauer, welche sich bei dem Tode von Hertz der naturwissenschaftlichen Welt bemächtigte, spiegelt sich in den Zeilen, welche Boltzmann am 6. Januar 1894 an Helmholtz richtete, bezeichnend für die Verehrung, welche der so jäh entrissene Physiker genossen, aber auch charakteristisch für die Gesinnung des hervorragenden Forschers, der diese Zeilen geschrieben:
„Beim so plötzlichen Tode Hertz' frug ich mich, was hat das deutsche Volk an seinem Sarge zu thun? … Wäre es nicht möglich, an den Reichstag eine Petition zu richten, um den Hinterbliebenen Hertz' ein Nationalgeschenk zu votiren? … Man müsste die ganz ausserordentliche Tragweite der Entdeckungen Hertz' in Hinsicht unserer ganzen Naturanschauung betonen, und dass dadurch sicher der Forschungsrichtung für lange der einzig richtige Weg gewiesen wurde, dass es ganz ebenso unangebracht wäre, für jeden Forscher, der seine Pflicht thut und das Glück hatte, ein Paar Sätze zu finden (wozu ich z. B. mich zu rechnen wage), etwas Besonderes zu thun, als es unentschuldbar wäre, für Hertz nichts Besonderes zu thun.“
Boltzmann liess sich durch die Antwort von Helmholtz von der Unausführbarkeit der Idee überzeugen.
Am 24. Februar 1894 veröffentlichte Helmholtz die erste Lieferung der wissenschaftlichen Abhandlungen der Deutschen Physikalisch-Technischen Reichsanstalt, „die“, wie Werner von Siemens in seinen Lebenserinnerungen sagt, „unter der Leitung des ersten Physikers unserer Zeit, Hermann von Helmholtz, eine deutsche Heimstätte für die wissenschaftliche Forschung bildet“. Er begleitete diese Lieferung mit einem Vorworte, in welchem er einen geschichtlichen Ueberblick über die Entstehung dieser Anstalt gab; „dieselbe müsse, wie durch die zu der genannten Commission gehörigen Herren Werner von Siemens und Helmholtz (Seite 101) unter Zustimmung der Königl. Akademie der Wissenschaften bei ihrer Gründung hervorgehoben worden war, neben einer mechanisch-technischen auch eine wissenschaftliche Abtheilung fassen, um der ersteren neben den ihr von selbst zufliessenden Aufgaben, die nach bekannten Methoden zu lösen waren, auch neue und schwierigere von entsprechender praktischer Wichtigkeit zu stellen, für die es lohnte, grössere Mittel anzuwenden und grössere technische Schwierigkeiten der Ausführung zu überwinden“.
Im Frühjahr suchte Helmholtz Ruhe und Erholung nach den aufreibenden Erlebnissen des vergangenen Jahres in Abbazia. Aber das Schicksal riss unerbittlich im Kreise seiner Bekannten und Freunde immer neue Lücken.
Sein Nachfolger an der Universität für experimentelle Physik war 1888 Kundt geworden. Auch diesen noch im besten Mannesalter stehenden ausgezeichneten Forscher und liebenswürdigen Menschen an einem schweren Herzleiden erkrankt zu wissen, war für Helmholtz ein grosser Kummer. Als Kundt ihm mittheilte, dass er den Wunsch habe, Urlaub zu nehmen, schreibt er ihm, auf der Rückreise begriffen, am 18. April aus Klagenfurt Worte der Theilnahme und des Trostes:
„Ich kann Ihren Entschluss nur billigen, da ich selbst lange gefühlt habe, wie aufreibend es ist, geistige Kräfte und Zeit für ermüdende Geschäfte verwenden zu müssen, während man in sich die Fähigkeit zu höheren Leistungen fühlt und durch die angewiesene Stellung auch eigentlich verantwortlich dafür gemacht ist, dass man dergleichen zu Stande bringe. Ich selbst habe im Beginn meines Berliner Aufenthalts auch eine Zeit durchgemacht, wo ich mich körperlich sehr hinfällig fühlte und an einer schweren Herzkrankheit zu leiden glaubte. Aber ich kam später als Sie nach Berlin und mit abgebrühterem Gewissen, so dass ich es leichtherziger nahm, die zehrendsten Arten der Arbeiten abzuschütteln, und noch verhältnissmässig schnell (Seite 102) und nach kürzerer Pause meine Erholung wieder gewinnen konnte. Ich kann Ihnen daher aus eigener Erfahrung nur rathen, für lange Zeit nur Ihrer Gesundheit. zu leben. … Abbazia ist nicht gerade amüsant und nicht bequem und leicht zum Leben. Aber es hat sich für unsere Gesundheitszustände doch als sehr vortheilhaft erwiesen. Meine von dem grossen Blutverluste im October zurückgebliebene Schwäche hat sich fast spurlos verloren, und die verletzten Augenmuskeln haben gute Fortschritte in der Gewöhnung an neue Orientirung der Gesichtsbilder gemacht. Nur bei raschen Bewegungen und Drehungen des Körpers habe ich gelegentlich noch Schwindelgefühle. Ich denke in den letzten Tagen des April wieder in Berlin einzutreffen und Sie zu sehen. Wir waren zuletzt noch acht Tage in Venedig bei wunderschönem Wetter und sind jetzt hier bei meinem Schwager und Schwägerin in Kärnten, wo lang ersehnter Regen auch reiches Grün hervorgerufen hat. …“
Kaum nach Berlin zurückgekehrt, erhält er die Nachricht vom Tode Kundt's. Er hatte Kundt als Gelehrten und Menschen hochgeschätzt, und liess es sich nicht nehmen, am 21. Mai 1894 an dessen Sarge seinen Gefühlen der tiefen Trauer um den Hingang dieses ausgezeichneten Mannes Worte zu leihen. In den Entwürfen zu dieser Grabrede, welche sich in seinen Aufzeichnungen finden, ist die grosse Aufregung unverkennbar, in der er sich befand — es hatten ihn aber auch in den letzten Jahren gar zu schwere Schicksalsschläge getroffen, der Tod des von ihm so geliebten Sohnes Robert, die stete, Körper und Geist verzehrende Krankheit seines Sohnes Fritz, sein eigener schwerer Unfall auf dem Schiffe, der Tod seines grossen Schülers Hertz und so kurz darauf das plötzliche Hinscheiden des in jugendlicher geistiger und körperlicher Kraft stehenden Collegen und Freundes! Aus dem von ihm benutzten Entwurfe mögen einige Worte hier eine Stelle finden: (Seite 103)
„… Diese Einsicht in das Wirken der Natur ist an sich schon die Quelle aller Herrschaft des Menschengeistes über die Natur und damit die Wurzel, aus der sich unendlich praktische Wohlthaten für das Menschengeschlecht entwickeln. Sie hat aber noch eine viel tiefere sittliche Bedeutung. Dieses Arbeiten für die Wissenschaft ist nothwendig eine Arbeit für allgemeine Zwecke der ganzen Menschheit, für Zwecke, die nicht auf ein einzelnes Individuum abgegrenzt, nicht einmal für ein Volk, für einen Welttheil abgegrenzt werden können, sondern nothwendig die Arbeit des Einzelnen zu einer Arbeit für die Zwecke der Menschheit und deren Einsicht machen. Durch sie wird der Einzelne gewöhnt, für ideelle Zwecke zu arbeiten, die innere Befriedigung in sich zu erfahren, welche mit solcher Art der Arbeit verbunden ist, und in ihr seine Freude und seinen Lohn zu finden. Und da das Beispiel idealer Gesinnung viel mehr auf die Jüngeren wirkt als alle Moralpredigt, so ist ein solcher Lehrer auch der beste Erzieher, um die jüngere Generation zu den gleichen Gesinnungen zu erziehen.Es ist ja der normale Entwickelungsgang der geistigen Cultur des Menschengeschlechts, dass immer frisches Blut als Träger derselben eintreten muss. Die Alten werden müde, ihr Gedächtniss wird unsicherer, wenigstens für neue Anschauungen, damit hört auch die Bildung originaler neuer Gedankencombinationen auf. Nur die alten Erfahrungen bleiben sicher und werden im Gegentheil immer mehr gereinigt von allem Zufälligen und in sich mehr befestigt, so dass Alter und Jugend ihre verschiedenen natürlichen Rollen bei der geistigen Arbeit haben. Unser verstorbener Freund war vorzugsweise eine jugendliche Natur, lebhaft, eifrig, das Neue schnell ergreifend und umfassend, der Gedanke an ein Aufhören seiner Leistungsfähigkeit drückte ihn nieder … Anstrengung aller Kräfte freilich wird hier auf Erden auch dem grössten (Seite 104) Genie nicht erspart, wenn es grosse Ziele erreichen will, und zwischen die Tage freudigen Erfolges schieben sich nothwendig auch solche der Ermüdung, der Abspannung, der Hoffnungslosigkeit, die unternommene Aufgabe lösen zu können. …“
Am 28. April wandte sich Lenard mit der folgenden Bitte an Helmholtz:
„… Meine Bitte betrifft das Werk von Hertz, „Die Principien der Mechanik“, mit deren Herausgabe er selbst mich noch beauftragt hat. Wie es Ihnen bekannt ist, hat Hertz das Werk in seinen letzten Tagen noch so weit zum Abschluss gebracht, dass er den grösseren Theil desselben noch selbst dem Verleger übergeben konnte. Aber nur unter Bedauern hat er das Manuscript abgesandt, denn er hatte gewünscht, das Buch noch ein halbes Jahr zurückbehalten zu können, um die zweite Hälfte desselben nochmals durchzuarbeiten. … Der Wunsch, nichts versäumt und das Beste gethan zu haben für dieses Werk, hat mich nun zu dem Entschlusse gebracht, noch zur rechten Zeit mich an Sie zu wenden mit der Bitte, dass Sie die beiden bezeichneten Stellen gütigst durchsehen und mir Rath ertheilen möchten. Nur auf Ihren Rath hin würde ich mich überhaupt für befugt halten, etwa eine wesentliche Aenderung vorzunehmen. …“
Am 21. Mai erwiderte Helmholtz:
„… Ich bitte Sie um Verzeihung, dass ich auf Ihre Fragen nicht eher geantwortet habe. Aber seitdem ich von meiner Reise zurückgekommen bin, hatte ich sehr wenig freie Zeit, um ruhige Ueberlegungen über eine so von den bisherigen Wegen abweichende und in sich so scharfsinnig verkettete Sache, wie es diese Schrift von Hertz ist, anzustellen und sie in ihrem Zusammenhange zu verstehen. Ich kann nur sagen: ich fange jetzt an, das Ziel zu begreifen, nach welchem er hinstrebt, aber dies ist erst der Fall seit wenigen Tagen, seit ich die letzte Sendung der Druckbogen erhielt. (Seite 105) Bis dahin hatte ich nicht die leiseste Ahnung, wo er hinstrebte. Unter diesen Umständen kann ich noch nicht unternehmen, eine Kritik des Textes vorzunehmen oder einer solchen zuzustimmen, und nehme an, dass es noch einige Wochen dauern wird, bis ich so weit gekommen sein werde, um eine solche vertreten zu können. Ich begreife ganz die Verlegenheit, in der Sie sich dabei befinden. Aber es scheint mir, dass Sie sich einfach dadurch herausziehen können, ohne sich zu compromittiren, wenn Sie die Ihnen zweifelhaft erscheinenden Stellen im Druck markiren lassen und unter dem Text bemerken: „Auf seine Genauigkeit controllirter Abdruck des Originals.“ Dadurch ist dem Leser angezeigt, dass er hier aufmerksam sein müsse, und dass die Stelle zu Bedenken Veranlassung geben könne …“
Helmholtz vertiefte sich nun in das Studium der Hertz'schen Mechanik und schrieb zu diesem so eigenartig wunderbaren Werke im Juli 1894 ein Vorwort, das uns wieder einen tiefen Einblick in seine eigenen Anschauungen über die Entwickelung der Mechanik gewährt.
Nachdem er in der früher angedeuteten Weise den Stand der Elektricitätslehre gekennzeichnet, zur Zeit als Hertz in deren Entwickelung eingriff, und dessen grosse physikalische Entdeckungen gepriesen hatte, sagt er:
„Wie sehr das Nachsinnen von Hertz auf die allgemeinsten Gesichtspunkte der Wissenschaft gerichtet war, zeigt auch wieder das letzte Denkmal seiner irdischen Thätigkeit, das vorliegende Buch über die Principien der Mechanik. Er hat versucht, darin eine consequent durchgeführte Darstellung eines vollständig in sich zusammenhängenden Systems der Mechanik zu geben und alle einzelnen besonderen Gesetze dieser Wissenschaft aus einem einzigen Grundgesetz abzuleiten, welches logisch genommen natürlich nur als eine plausible Annahme betrachtet werden kann. Er ist dabei zu den ältesten theoretischen Anschauungen zurückgekehrt, die man eben deshalb auch (Seite 106) wohl als die einfachsten und natürlichsten ansehen darf, und stellt die Frage, ob diese nicht ausreichen würden, alle die neuerdings abgeleiteten allgemeinen Principien der Mechanik consequent und in strengen Beweisen herleiten zu können, auch wo sie bisher nur als inductive Verallgemeinerungen aufgetreten sind.“
Helmholtz hebt hervor, dass die Principien der Mechanik sämmtlich entwickelt worden sind unter der Voraussetzung von Newton's Attributen der von der Zeit unabhängigen, also auch conservativen Anziehungskräfte zwischen materiellen Punkten und der Existenz fester Verbindungen zwischen denselben, und nur unter dieser Annahme waren sie gefunden und bewiesen worden.
„Man hat dann später durch Beobachtung gefunden, dass die so hergeleiteten Sätze eine viel allgemeinere Geltung in der Natur in Anspruch nehmen durften, als aus ihrem Beweise folgte, und hat demnächst gefolgert, dass gewisse allgemeine Charaktere der Newton'schen conservativen Anziehungskräfte allen Naturkräften zukommen, vermochte aber diese Verallgemeinerung aus einer gemeinsamen Grundlage nicht abzuleiten.“
Er hebt nun hervor, dass Hertz eine solche Grundanschauung zu finden bestrebt war, dass er, um eine vollkommen folgerichtige Ableitung aller bisher als allgemeingültig anerkannten Gesetze der mechanischen Vorgänge zu geben, als einzigen Ausgangspunkt die Anschauung der ältesten mechanischen Theorien gewählt hat und alle mechanischen Processe so vor sich gehen lässt, als ob alle Verbindungen zwischen den auf einander wirkenden Theilen feste wären, indem er zur Erklärung der Kräfte zwischen nicht in unmittelbarer Berührung mit einander befindlichen Körpern die Hypothese zu Hülfe nimmt, dass es eine grosse Anzahl unwahrnehmbarer Massen und unsichtbarer Bewegungen gebe. Die Einschaltung Helmholtz'scher cyklischer Systeme mit unsichtbaren Bewegungen wollte Hertz (Seite 107) für die Ausführung von Beispielen verwenden, beruhte doch der ganze Aufbau seiner Mechanik auf dem von Helmholtz gelegten Fundamente — doch war durch den Tod dieses genialen Forschers die Entwickelung der Mechanik nach dieser Seite hin vielleicht für lange Zeit verhindert.
„Englische Physiker, wie Lord Kelvin in seiner Theorie der Wirbelatome und Maxwell in seiner Annahme eines Systems von Zellen mit rotirendem Inhalt, die er seinem Versuche einer mechanischen Erklärung der elektromagnetischen Vorgänge zu Grunde gelegt hat, haben sich offenbar durch ähnliche Erklärungen besser befriedigt gefühlt als durch die blosse allgemeinste Darstellung der Thatsachen und ihrer Gesetze, wie sie durch die Systeme der Differentialgleichungen der Physik gegeben wird. Ich muss gestehen, dass ich selbst bisher an dieser letzten Art der Darstellung festgehalten und mich dadurch am besten gesichert fühlte; doch möchte ich gegen den Weg, den so hervorragende Physiker wie die drei genannten eingeschlagen haben, keine principiellen Einwendungen erheben. Freilich werden noch grosse Schwierigkeiten zu überwinden sein bei dem Bestreben, aus den von Hertz entwickelten Grundlagen Erklärungen für die einzelnen Abschnitte der Physik zu geben. Im ganzen Zusammenhange aber ist die Darstellung der Grundgesetze der Mechanik von Hertz ein Buch, welches im höchsten Grade jeden Leser interessiren muss, der an einem folgerichtigen System der Dynamik, dargelegt in höchst vollendeter und geistreicher mathematischer Fassung, Freude hat. Möglicherweise wird dieses Buch in der Zukunft noch von hohem heuristischen Werth sein als Leitfaden zur Entdeckung neuer allgemeiner Charaktere der Naturkräfte.“
Noch am 14. Juni trug Helmholtz in der Akademie den Inhalt einer Arbeit vor, welche „Nachtrag zu dem Aufsatz: Ueber das Princip der kleinsten Wirkung in der Elektrodynamik“ betitelt war, und die erst nach seinem (Seite 108) Tode auf Grund seiner schriftlichen Aufzeichnungen von Planck veröffentlicht wurde.
Die im Jahre 1892 der Akademie vorgelegte Arbeit über das Princip der kleinsten Wirkung in der Elektrodynamik hatte zu grossen mathematischen Complicationen geführt, und Helmholtz war seit dieser Zeit fast unaufhörlich mit dem Gedanken beschäftigt, durch eine grössere Vereinfachung in der Ausführung der Variationen dem Problem, so wie er es gefasst hatte, eine grössere Klarheit und Durchsichtigkeit zu geben. Er wollte eine vollständige Umarbeitung seiner Untersuchungen für den dritten Band seiner „Wissenschaftlichen Abhandlungen“ bewerkstelligen, und eine einfachere und übersichtlichere Darstellung des für die Elektrodynamik in Frage kommenden kinetischen Potentials und der Variation des zugehörigen Hamilton'schen Integrales sollte ihm den Weg bahnen zur Ausdehnung des Princips der kleinsten Wirkung auf alle Kräfte der Natur. Wiederholte einleitende Ueberlegungen finden sich in seinem Nachlasse vor, welche zur Einführung in gross angelegte Arbeiten bestimmt waren, und es mögen zur erneuten Orientirung hier nur die ersten Blätter einer „Die Elektrodynamik, unter Faraday's Hypothese zusammengefasst in Hamilton's Form“ betitelten Aufzeichnung eine Stelle finden, welche wahrscheinlich den ersten Entwurf einer Einleitung zu der im Jahre 1886 veröffentlichten Arbeit „Ueber die physikalische Bedeutung des Princips der kleinsten Wirkung“ bildete und wenigstens bis zur Einführung des Hamilton'schen Integrales allgemeiner verständlich ist:
„Meine Untersuchungen über die Mechanik der monocyklischen Systeme führten mich zur Betrachtung allgemeinerer Formen, welche die in Lagrange's und Hamilton's Darstellungsweisen der Mechanik vorkommende charakteristische Function annehmen kann. In ihrer ursprünglich von Lagrange gegebenen Form ist diese (Seite 109) Function die Differenz zwischen der potentiellen Energie und der lebendigen Kraft des betreffenden mechanischen Systems. Der Werth der potentiellen Energie hängt nur von der augenblicklichen Lage der einzelnen Theile des Systems ab, die lebendige Kraft dagegen ist eine homogene Function zweiten Grades der nach der Zeit genommenen Differentialquotienten der die Lage des Systems bestimmenden Coordinaten. Durch die in meinen vorgenannten Abhandlungen erörterten Umstände kann die charakteristische Function aber ziemlich abweichende Formen erhalten.Dies veranlasste mich nachzusehen, wie es sich in dieser Beziehung mit der Elektrodynamik verhalte. Die Wirkungen der elektromagnetischen und elektrodynamischen Kräfte sind scheinbar ganz abweichend von denen, die wir aus der Dynamik der wägbaren Massen kennen. Es liess sich hoffen, dass in einer vollständigen und kurzen Zusammenfassung aller Wechselwirkungen des betreffenden Gebietes von Erscheinungen, wie sie in Hamilton's Variationsproblem gegeben ist, sich auch das Wesen des Unterschiedes in seinen charakteristischen Zügen zeigen müsse.
Dass die Zurückführung der Elektrodynamik auf eine dem Hamilton'schen Principe entsprechende Form möglich sei, war schon durch drei verschiedene Darstellungsformen der Elektrodynamik nachgewiesen, und für geschlossene Ströme stimmten alle drei unter einander, sowie mit den beobachteten Thatsachen vollkommen gut überein. Die älteste war die von Herrn F. E. Neumann (dem Vater) zunächst für beschränkte Fälle hingestellte und von mir selbst verallgemeinerte sogenannte Potentialtheorie. Herr Neumann hatte von Anfang an die ponderomotorischen, wie die elektromotorischen Kräfte starrer linearer Stromleiter in der von Lagrange gegebenen Form ausgedrückt. Darin entsprechen die Stromintensitäten den Geschwindigkeiten, aber, was wohl zu beachten ist, sie sind relative Geschwindigkeiten der Elektricität gegen die (Seite 110) wägbare Substanz des Leiters. Die die lebendige Kraft der elektrischen Bewegung vertretende Function ist wie in der Dynamik der wägbaren Körper eine homogene Function zweiten Grades der Stromintensitäten, die vollständig analog gebildet ist den für vollständige polycyklische Systeme aufzustellenden Formen.
Die Potentialtheorie war in vollständiger Uebereinstimmung mit dem Gesetze von der Constanz der Energie und dem von der Gleichheit der Action und Reaction, aber in ihrer damaligen Gestalt, wo sie als elektrische Bewegungen nur die elektrischen Ströme in Leitern und nicht die diëlektrischen Vorgänge in Isolatoren berücksichtigte, kam sie in Widerspruch mit dem Erfolg von Versuchen über die Induction im ungeschlossenen Kreise, welche ich selbst zur Prüfung ihrer Folgerungen anstellte, und ebenso mit denen, die Herr Rowland im Berliner Laboratorium über die elektromagnetische Wirkung elektrischer Convection ausführte.
Ausserdem ist zu erwähnen, dass Herr W. Weber die von ihm angenommenen Fernkräfte zwischen bewegten elektrischen Quantis, die von der relativen Geschwindigkeit und Beschleunigung abhängig sein sollten, auf Lagrange's Form zurückgeführt hat, und dass Herr Clausius direct von einer solchen Form ausgegangen ist, um die Werthe der Kräfte zu entwickeln. Die beiden Hypothesen sind für geschlossene Ströme in vollständiger Uebereinstimmung mit Ampère's und F. E. Neumann's Gesetzen und führen für solche auch nicht auf Widersprüche gegen das Gesetz von der Constanz der Energie, noch das von der Gleichheit der Action und Reaction. Ersteres geschieht aber nach der Hypothese von Herrn W. Weber, letzteres nach der von Herrn Clausius, sobald sie auf ungeschlossene Ströme angewendet werden, weil die von ihnen angenommenen Elementarkräfte selbst diesen Principien widersprechen.
Faraday's Betrachtungsweise der elektrischen und (Seite 111) magnetischen Erscheinungen dagegen bietet einen Ausweg aus diesen Widersprüchen. Dass sich auch in Isolatoren der elektrische Zustand verändert, sobald sie der Einwirkung elektrostatischer Kräfte ausgesetzt werden, indem in ihnen diëlektrische Polarisation eintritt, hat er thatsächlich nachgewiesen, ebenso wie die Magnetisirbarkeit aller bekannten Substanzen. Dass die von ihm vorausgesetzten ponderomotorisch wirksamen Spannungen und Drucke in den diëlektrisch polarisirten Substanzen wirklich bestehen, ist jetzt durch eine Reihe von experimentellen Untersuchungen constatirt. Die Frage ist nur, wie stark diese inneren Kräfte diëlektrisch und magnetisch polarisirter Substanzen sind im Vergleich zu den ursprünglich angenommenen Fernkräften. Durch alle bekannten Versuche können wir immer nur das Verhältniss zwischen den magnetischen Constanten und das Verhältniss zwischen den elektrischen Constanten verschiedener Substanzen ermitteln. Dass in dem raumfüllenden Aether alle elektrischen und magnetischen Wirkungen nur durch Fernkräfte übertragen werden, nicht auch theilweise oder vielleicht auch ganz durch solche Spannungen und Drucke, wie wir sie in elektrisirten und magnetisirten wägbaren Substanzen kennen, ist eine Hypothese, über die wir keine experimentelle Entscheidung gewinnen können. Ich habe am Schlusse meiner der Akademie am 17. Februar 1881 mitgetheilten Arbeit nachgewiesen, wie der Uebergang aus Poisson's Theorie auf Faraday's und Maxwell's, welche von den Fernkräften ganz absieht, gewonnen werden kann.
Für die Elektrodynamik ist nun Faraday's Hypothese insofern entscheidend, als in ihr alle ungeschlossenen Ströme wegfallen. Ein solcher Strom muss die Enden seines Leiters mit freier Elektricität laden, diese wirkt auf die zwischen den Enden des Leiters liegende isolirende Substanz und bringt in dieser diëlektrische Polarisation hervor, welche genau so lange und in dem Verhältniss an Stärke zunehmen (Seite 112) muss, als der Strom dauert und fortfährt, freie Elektricität heranzutreiben. In den sich polarisirenden Molekeln des Isolators bewegt sich die positive Elektricität von dem positiv geladenen Ende des Leiters fort gegen das negative hin, die negative Elektricität umgekehrt, und so bildet diese Entstehung und Steigerung der Polarisation des Diëlektricums eine Fortsetzung des Stromes im Leiter, der unter diesen Umständen natürlich nur einen Moment dauern kann, und zwar ist unter Faraday's Hypothese der Strom im Diëlektricum eine vollständig äquivalente Fortsetzung und Schliessung jenes Stromes.“
Dieser Einleitung folgen mathematische Entwickelungen, welche in seiner grossen Arbeit vom Jahre 1892 eine weitere Ausführung gefunden haben.
Aber immer brechen alle diese Versuche ab, wenn die Darstellung der in dieser Arbeit überwundenen grossen mathematischen Schwierigkeiten zur Klarheit und Darlegung der wahren Bedeutung der complicirten Eechnungen geführt werden soll — und anders konnte er den Weg nicht erkennen, den die Natur selbst ihn zur Ausgestaltung seiner tiefen Gedanken führen sollte. In der am 14. Juni 1894 der Akademie vorgelegten Arbeit gelang es ihm, sich dem Ziele, das er sich gesteckt, schon mehr zu nähern.
Helmholtz hatte früher die von Maxwell und Hertz aufgestellten Gesetze der Elektrodynamik in eine verallgemeinerte Form des Princips der kleinsten Wirkung zusammengefasst und die Frage auf die Entscheidung zurückgeführt, ob der bekannte Werth der gesammten Energie der elektromagnetischen Vorgänge mit dem von Maxwell angegebenen System der ponderomotorischen Kräfte zusammenpasst oder noch den Zusatz einer nach den Geschwindigkeiten linearen Function verlangt. Es waren aber, wenn die ponderomotorischen Kräfte aus dem genannten Princip hergeleitet werden sollen, bei der von ihm gegebenen Darstellung (Seite 113) Variationen nach den Coordinaten und nach den entsprechenden Geschwindigkeitscomponenten herzuleiten, die zu sehr verwickelten Rechnungen führten. Eine einfachere und übersichtlichere Methode der Lösung des Problems, welche diese rein formalen Schwierigkeiten zu beseitigen bestimmt war, sollte den Inhalt der unvollendet gebliebenen Arbeit bilden, deren Ergebniss, wie er angiebt, seine frühere Untersuchung bestätigt hat.
Es findet sich noch aus dem Juni eine kurze Aufzeichnung vor, welche sich auf diese Frage bezieht und das Ziel seiner Untersuchung etwas klarer formulirt, betitelt „Weitere Untersuchungen über die Vollständigkeit der unbekannten elektrodynamischen Kräfte“:
„In meinem der Akademie unter dem 10. März 1892 vorgelegten Aufsatze habe ich versucht, das von Maxwell aufgestellte System der elektrodynamischen Kräfte darauf hin zu prüfen, ob sich dasselbe unter eine Ausdrucksform bringen lässt, welche dem Princip der kleinsten Wirkung entspricht, wenn man letzteres Princip in seiner weiteren Form nimmt, die nur verlangt, dass sich eine bestimmte Function der den gegenwärtigen Zustand des Systems bestimmenden Grössen und ihrer Aenderungsgeschwindigkeiten finden lässt, deren Integral über die Zeit und alle Massen, des Systems genommen die Bewegungsgleichungen desselben ergiebt, wenn man die Bedingungen aufsucht, welche erfüllt werden müssen, damit die Variation des genannten Integrales zwischen gegebenen Anfangs- und Endzuständen gleich Null wird.Es gelang mir auch damals, eine Form des kinetischen Potentials und Gleichungen für die Darstellung der eigenthümlichen Beziehungen zwischen elektrischen und magnetischen Polarisationen zu finden, die der gestellten Aufgabe zu entsprechen schienen; sie ergaben das System der Maxwell'schen Gleichungen sowohl in Bezug auf die elektrischen als auch magnetischen und ponderomotorischen (Seite 114) Kräfte. Wenn man also diese verschiedenen Arten von Kräften durch die bisherigen Untersuchungen als ausreichend bekannt betrachten durfte, so war zunächst kein Grund, an der Richtigkeit des gefundenen kinetischen Potentials zu zweifeln.
Nun hatten aber meine früheren Untersuchungen über den physikalischen Sinn des Princips von der kleinsten Wirkung schon gezeigt, dass die Aufgabe, aus dem Werthe der Energie die Form des kinetischen Potentials herzuleiten, nicht eindeutig gelöst werden kann, dass dabei vielmehr eine unbekannte lineare Function der Geschwindigkeiten zum kinetischen Potential hinzutreten kann, welche sich aus dem Werthe der Energie weghebt, wohl aber Einfluss auf die Werthe der Kraftcomponenten hat. Die von mir damals gefundene Form des elektrokinetischen Potentials erhielt nun in der That eine solche lineare Function der Geschwindigkeiten, deren Richtigkeit nicht verbürgt erschien, da die Ergebnisse der älteren Versuche allerdings über die grösseren Energievorräthe der elektrischen und magnetischen Bewegungen ausreichenden Aufschluss gaben, aber nicht über die schnell vorübergehenden schwachen Kräfte elektrischer Oscillationen, wie sie namentlich in metallisch nicht geschlossenen Stromkreisen vorkommen können.
Mein späterer Aufsatz vom 6. Juli 1893 zeigt nun in der That, dass die elektrodynamischen Kräfte, die Maxwell bekannt waren und von ihm in seiner Theorie berücksichtigt worden sind, kein System bilden, deren Kräfte sich gegenseitig ebenso im Gleichgewicht halten, wie bei den Bewegungen schwerer Systeme die der Beschleunigung entgegengesetzten Kräfte des d'Alembert'schen Princips den übrigen Bewegungskräften des bewegten Systems auch während der Bewegung fortdauernd das Gleichgewicht halten. Sie würden es thun, wenn man allen Theilen des bewegten elektromagnetischen Aethers einen endlichen Grad von Trägheit zuschreiben dürfte. (Seite 115) Für die Mechanik eines solchen Aethers treten dann die Schwierigkeiten ein, die ich in jenem Aufsatze hervorgehoben habe. Nach den von Hertz ausgeführten Messungen der Inductionsströme muss die Trägkeit der bewegten Elektricität selbst in metallischen oder elektrolytischen Leitern viel kleiner gesetzt werden, als die irgend einer uns bekannten ponderabeln Masse, wenn nicht im strengen Sinne gleich Null. Massen von verschwindender Trägheit würden aber durch jede endliche Bewegungskraft, die nicht durch eine gleich grosse entgegengesetzte im Gleichgewicht gehalten wird, in unendlich schnelle Bewegung gerathen und würden also eine unmögliche Mechanik ergeben. Unter diesen Umständen schien es mir nothwendig, zu untersuchen, ob nicht andere Annahmen über den mechanischen Zusammenhang des Aethers gemacht werden könnten, welche ein brauchbareres Resultat ergeben.
Die in meiner Abhandlung über das Princip der kleinsten Wirkung in der Elektrodynamik enthaltenen Hypothesen über den gegenseitigen Einfluss bewegter Aethermassen knüpfen sich an zwei Beobachtungsthatsachen,
- den Satz, dass die in einer geschlossenen Linie inducirte magnetische Gesammtkraft unverändert bleibt, so lange die Anzahl und Intensität der elektrischen Stromfäden, welche durch das Innere der genannten geschlossenen Linie hindurchgehen, constant bleibt,
- den entsprechenden Satz für die elektrisch inducirte Kraft in geschlossener Bahn, welche durch magnetische Stromfäden hervorgerufen wird, die durch das Innere der Bahn hindurchgehen.
Auf diese Weise bestimmen sich die Variationen der elektrischen und magnetischen Kräfte, die durch die Aenderungen der Lage und Polarisation der benachbarten Aethervolumina bedingt werden, ganz unzweideutig aus den beobachteten physikalischen Erscheinungen. Die Kenntniss dieser Variationen genügt aber, um die Aenderungen der (Seite 116) elektrischen und magnetischen Kräfte abzuleiten, wie dies in dem Aufsatz geschehen ist.
Sobald wir aber zu der Vorstellung übergehen, dass die Aethervolumina selbst ihren Platz, ihre Grösse und Form verändern können und gegenseitig dabei mechanische Kräfte auf einander ausüben, die ihre Bewegungsweise ändern können, so hängt die Berechnung dieser Kräfte von der Kenntniss der Variationen der Lage der Massenpunkte des Aethers ab, über welche bisher noch keine Festsetzung gemacht ist, und es musste also noch eine Form der Hypothese für dieselben gesucht werden, welche zu einem in sich consequenten System der Mechanik führt.
Die in dem Aufsatz von 1893 gemachte Annahme dieser Art schliesst sich ihrer analytischen Form nach den beiden für die elektrischen und magnetischen Kräfte hingestellten an und führte zu einem Resultat, was mit Maxwell's Annahmen für die Werthe auch der ponderomotorischen Kräfte von mechanischen Systemen, in denen Elektricität und Magnetismus sich bewegt, vollständig übereinstimmte, und schien also in dieser Beziehung ein sehr befriedigendes Resultat zu ergeben.
Da ich aber erkannte, dass der einen Voraussetzung über die Variationen der Kräfte durch strömenden Aether die physikalische Begründung fehlte, wie sie für die Variationen der elektrisch und magnetisch inducirten Kräfte im ruhenden Aether sich sicher geben lässt, so sah ich mich veranlasst, nach Abänderung dieses Theiles der Theorie zu suchen, und fand in der That einen Weg, die besprochenen Schwierigkeiten zu beseitigen, und zwar einfach durch die Annahme, dass keine andere Art von Variation der Kräfte existirt als die durch die schon erwähnten Formänderungen der Volumelemente hervorgerufenen.
Diese geänderte Annahme führt auch zu einer sehr viel einfacheren und viel übersichtlicheren Ableitung des Werthes der ponderomotorischen Kräfte.“
(Seite 117) Auch in diesem Entwurfe bricht die folgende mathematische Untersuchung mitten in der Entwickelung ab, wie in der oben besprochenen Mittheilung in der Akademie. Aber sein Geist blieb unaufhörlich mit der Durchforschung dieser so überaus schwierigen Materie beschäftigt.
Am Sonntag, den 9. Juli, an welchem Tage er sich bei seiner Tochter in Wannsee die Correctur zur Vorrede von Hertz's Mechanik hatte vorlesen lassen, fand ihn diese, nachdem sie in der Absicht, mit ihm eine Ausfahrt zu machen, ihn lange Zeit vergeblich im ganzen Hause gesucht hatte, an einem stillen Fenster sitzend, sein kleines Notizbuch und Bleistift in Händen, in Gedanken vertieft. „Sein Auge leuchtete und eine auffallende Freudigkeit lag auf seinem Wesen.“ Er äusserte, dass er an diesem Tage Glück gehabt und etwas gefunden habe, was er und seit langer Zeit viele vor ihm gesucht haben; er werde aber vor Mittwoch keine Zeit finden, seine Gedanken aufzuzeichnen, die er dann am Donnerstag der Akademie vorlegen wolle. Am 10. schwankte er wieder, ob wohl alles in seiner Ueberlegung richtig sei — aber er blieb bis zu seinem Tode in dem Banne der Vorstellung, dass alle Erscheinungen der Natur dem Princip der kleinsten Wirkung in der von ihm gegebenen ganz allgemeinen Form unterworfen seien, eine Anschauung, die auch Hertz von ihm übernommen und über deren Allgemeingültigkeit erst die Zukunft entscheiden wird.
Noch während des Sommers erschien in der Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane eine Arbeit von Helmholtz, betitelt „Ueber den Ursprung der richtigen Deutung unserer Sinneseindrücke“, welche dann von ihm selbst noch für die im Erscheinen begriffene zweite Auflage des Handbuchs der Physiologischen Optik umgearbeitet wurde; die Schlusslieferungen derselben erschienen erst im folgenden Jahr.
Diese letzte Arbeit physiologisch-psychologischer Natur (Seite 118) ist deshalb von so hohem Interesse, weil sie die Anschauungen von Neuem darlegt und begründet, welche er in seinen ersten Königsberger Arbeiten gewonnen, und weil er am Ende seines forschungsreichen Lebens sich von Neuem als treuer Anhänger der empiristischen Theorie erweist, ohne der nativistischen in gewissen Umgrenzungen ihre Berechtigung abzusprechen. Aber nach jeder Richtung hin bleibt er ein entschiedener Gegner jeglicher metaphysischer Speculation. Schon früher hatte er in herrlicher Ironie die verschwommene Nachahmung des Gesetzes der kleinsten Wirkung abgewiesen, wodurch der „Schopenhauer'sche Pessimismus, welcher diese Welt zwar für die beste unter den möglichen Welten, aber für schlechter als gar keine erklärt, zu einem angeblich allgemein gültigen Princip von der kleinsten Summe der Unlust formulirt und dieses als oberstes Gesetz der Welt, der lebenden wie der leblosen, proclamirt werden sollte“. Aber er verwahrt sich bei einer anderen Gelegenheit gegen den Vorwurf, dass man seine Gegnerschaft gegen jede, wie auch immer geartete metaphysische Speculation etwa auf das Gebiet philosophischer Forschung überhaupt übertrage:
„Indem ich den Namen der Metaphysik hier auf diejenige vermeintliche Wissenschaft beschränke, deren Zweck es ist, durch reines Denken Aufschlüsse über die letzten Principien des Zusammenhanges der Welt zu gewinnen, möchte ich mich nur dagegen verwahren, dass das, was ich gegen die Metaphysik sage, auf die Philosophie überhaupt bezogen werde. Mir scheint, dass nichts der Philosophie so verhängnissvoll geworden ist, als ihre immer wiederholte Verwechselung mit der Metaphysik. Letztere hat der ersteren gegenüber etwa dieselbe Rolle gespielt, wie die Astrologie neben der Astronomie. Die Metaphysik war es, welche hauptsächlich die Augen des grossen Haufens der wissenschaftlichen Dilettanten auf die Philosophie gerichtet und ihr Schaaren von Schülern und Anhängern zugeführt hat, freilich (Seite 119) vielfach solche, die ihr mehr schadeten, als die erbittertsten Gegner hätten thun können. Es war die täuschende Hoffnung, auf einem verhältnissmässig schnellen und mühelosen Wege Einsicht in den tiefsten Zusammenhang der Dinge und das Wesen des menschlichen Geistes, in die Vergangenheit und Zukunft der Welt erlangen zu können, worin das aufregende Interesse beruhte, das so viele dem Studium der Philosophie zuführte, ebenso wie die Hoffnung, Vorhersagungen für die Zukunft zu gewinnen, ehemals der Astronomie Ansehen und Unterstützung verschaffte. Was die Philosophie uns bisher lehren kann oder bei fortgesetztem Studium der einschlagenden Thatsachen uns einst wird lehren können, ist zwar vom höchsten Interesse für den wissenschaftlichen Denker, der das Instrument, mit dem er arbeitet, nämlich das menschliche Erkenntnissvermögen, nach seiner Leistungsfähigkeit genau kennen lernen muss. Aber zur Befriedigung dilettantischer Wissbegier oder, was noch mehr in Betracht kommt, menschlicher Eigenliebe, werden diese strengen und abstracten Studien wohl auch in Zukunft nur geringe und schwer zu hebende Ausbeute liefern, gerade so wie die mathematische Mechanik des Planetensystems und die Störungsrechnungen trotz ihrer bewunderungswürdigen systematischen Vollendung viel weniger populär sind, als es die astrologische Afterweisheit alter Zeit gewesen ist.“
Und auf diesen, fast zwanzig Jahre zuvor klar gekennzeichneten Standpunkt stellt er sich nun in dem für seine physiologische Optik völlig umgearbeiteten Abschnitte „Von den Wahrnehmungen im Allgemeinen“.
Indem er hier wieder seine schon vor fünfzig Jahren aufgestellten Anschauungen über Nativismus und Empirismus näher ausführt, erläutert er an dem Beispiel von der Erlernung einer Sprache, dass wir durch häufige Wiederholungen gleichartiger Erfahrungen dazu gelangen können, eine regelmässig immer wieder eintretende (Seite 120) Verbindung zwischen zwei verschiedenen Perceptionen herzustellen und mehr zu befestigen, die ursprünglich gar keinen natürlichen Zusammenhang zu haben brauchen. Am ausnahmslosesten wird eine Verbindung zweier Beobachtungsthatsachen sich immer wiederholen, wenn dieselbe durch ein Naturgesetz gefordert wird, welches entweder die Gleichzeitigkeit oder die regelmässige Aufeinanderfolge derselben in bestimmter Frist verlangt. Er geht wiederum ausführlich auf den schon früher hervorgehobenen Gegensatz zwischen der Kenntniss eines Objectes, vermöge welcher wir ein durch sinnliche Eindrücke gegebenes Anschauungsbild desselben in uns tragen, zu dem in Worte zu fassenden Wissen ein und erläutert diese Gegensätze durch die verschiedensten Beispiele aus der physiologischen Optik. Nach genauer Definition der Begriffe: Anschauen und Denken wird er naturgemäss auf seine schon viel früher aufgestellte Theorie der Inductionsschlüsse und unbewussten Schlüsse geführt, auf die falschen Inductionen und Sinnestäuschungen, und geht auf interessante Betrachtungen über den Grad der Täuschung ein, wobei der Begriff der Aufmerksamkeit schon nach seinen frühesten Arbeiten eine wesentliche Rolle spielt.
„Das Endergebniss der angeführten Ueberlegungen und Erfahrungen glaube ich dahin zusammenfassen zu dürfen:
- Als Wirkungen angeborener Organisation finden wir beim Menschen Reflexbewegungen und Triebe, letztere die Gegensätze des Wohlgefallens an einzelnen Eindrücken, des Missfallens gegen andere umschliessend.
- Bei der Bildung von Anschauungen spielen Inductionsschlüsse, gewonnen durch unbewusste Arbeit des Gedächtnisses, eine hervorragende Rolle.
- Es erscheint zweifelhaft, ob im Vorstellungskreise der Erwachsenen überhaupt Kenntnisse vorkommen, die eine andere Ursprungsquelle erfordern.“
S. 97 - 120 aus:
Koenigsberger, Leo: Hermann von Helmholtz. - Braunschweig : Vieweg
Band 3. - 1903
Letzte Änderung: 24.05.2014 Gabriele Dörflinger Kontakt
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