Leo Koenigsberger: Hermann von Helmholtz

Helmholtz als Professor der Physiologie in Heidelberg
von Michaelis 1858 bis Ostern 1871.
(Fortsetzung)


Anfang des Kapitels (Band 2)

Der Horopter

Seine wissenschaftlichen Arbeiten hatten jetzt, während die „Lehre von den Tonempfindungen“ im Drucke war, fast ausschliesslich äusserst schwierige physiologisch-optische Fragen zum Gegenstande, und noch wenige Tage vor seiner akademischen Festrede hielt er am 24. October 1862 in dem naturhistorisch-medicinischen Verein zu Heidelberg einen Vortrag „Ueber die Form des Horopters, mathematisch bestimmt“, der im Wesentlichen die Resultate seiner tiefgehenden Untersuchungen brachte, welche im Jahre 1864 unter dem Titel „Ueber den Horopter“ in Graefe's Archiv für Ophthalmologie erschienen; nur insofern enthielt die letztere Arbeit eine Erweiterung jener in dem Vortrage niedergelegten Theoreme, als er die Veränderungen berücksichtigte, welche die inzwischen von Recklinghausen nachgewiesene Asymmetrie in der Vertheilung der identischen Netzhautstellen in beiden Augen bedingte, während er der ersten Bearbeitung die damals noch allgemeine Annahme zu Grunde legte, dass identische Netzhautstellen in der Primärstellung beider Augen solche sind, auf denen das Bild desselben unendlich weit entfernten Punktes entworfen würde, Veränderungen, die er schon im December 1862 dem genannten Verein in Heidelberg mittheilte. (Seite 22)

Nachdem er mit Berücksichtigung der Asymmetrie eine präcise Definition des Gesichtsfeldes, des Sehfeldes, des geometrischen und scheinbaren Ortes gegeben, hebt er vor allem die wichtige Unterscheidung des wirklich und scheinbar verticalen Meridians hervor, nach welcher der wirklich verticale Meridian des Sehfeldes uns nicht vertical erscheint, sondern vielmehr ein Meridian, der in Wirklichkeit mit seiner oberen Hälfte nach aussen geneigt ist. Als correspondirende oder identische Punkte beider Sehfelder bezeichnet er solche, welche scheinbar gleiche Lage oder gleiche Höhen- und gleiche Breitenwinkel haben, und definirt als Horopter den Inbegriff aller derjenigen Punkte des Raumes, welche in correspondirenden Stellen beider Sehfelder projicirt werden und somit in beiden Augen unter gleichem Höhen- und gleichem Breitenwinkel erscheinen. Er nennt den geometrischen Ort der Punkte, welche in beiden Augen unter gleichem Höhenwinkel erscheinen, Horizontalhoropter, entsprechend für gleiche Breitenwinkel Verticalhoropter, indem sich in jenem gerade Linien ziehen lassen, welche als correspondirende horizontale Linien in beiden Sehfeldern projicirt werden, also als Linien einfach erscheinen, während ihre einzelnen Punkte nicht in correspondirenden Orten abgebildet werden und daher in Doppelbildern sich darstellen; das Analoge gilt für verticale Linien bei der zweiten Art des Horopters. Der Horopter im engeren Sinne oder Punkthoropter für gleichen Höhen- und Breitenwinkel ist somit die Schnittlinie des Horizontal- und Verticalhoropters.

Im Allgemeinen ergiebt sich durch sehr einfache mathematische Betrachtungen für die Form der beiden Horopter ein Hyperboloid mit einer Mantelfläche, die jedoch für gewisse Lagen des Fixationspnnktes in einen Kegel oder in zwei sich schneidende Ebenen übergehen kann; der Punkthoropter wird im Allgemeinen die Curve doppelter Krümmung sein, in welcher sich die beiden Hyperboloide schneiden, kann sich jedoch in Ausnahmefällen auf gerade Linien oder (Seite 23) Kegelschnitte reduciren. Für den Fall, dass der Fixationspunkt in endlicher Entfernung in der Mittelebene der Symmetrie- oder der Medianebene des Kopfes liegt, besteht der Punkthoropter aus einer geraden Linie und einem Kegelschnitt, der in den Müller'schen Horopterkreis übergeht, wenn die Visirebene, welche gleichzeitig Meridianebene beider Augen ist, sich in ihrer Primärlage befindet, in der die Augen ihre Primärstellung einnehmen. Liegt aber der Fixationspunkt in der Medianebene unendlich entfernt, so gehört der ganze unendliche Raum dem Horizontalhoropter an, und es erscheint also jeder Punkt des Raumes beiden Augen unter gleichen Höhenwinkeln, während der Kegel des Verticalhoropters, da Müller's Horopterkreis unendlich gross wird, sich auf zwei Ebenen reducirt. Es ist somit die horizontale Bodenfläche, auf der der Beobachter steht, Horopterfläche, wenn dieser in horizontaler Richtung und parallel mit der Medianebene seines Kopfes in unendliche Ferne hinausschaut, und die Bodenfläche ist dann offenbar auch Punkthoropter. Befindet sich endlich der Fixationspunkt in der Primärlage der Visirebene, aber ausserhalb der Medianebene, so besteht der Horizontalhoropter aus zwei sich schneidenden Ebenen, der Verticalhoropter ist ein Hyperboloid, und den Punkthoropter bildet der Müller'sche Horopterkreis und eine gerade Linie.

Für die Feststellung der Bedeutung des Horopters beim Sehen ist die Bemerkung von Helmholtz sehr interessant, dass er lange Zeit die Aufsuchung der Form des Horopters mehr für eine theoretische Spielerei gehalten habe, da alle Aufmerksamkeit der Beobachtung nicht ausreicht, um die kleinen Differenzen zweier zu einer stereoskopischen Raumanschauung verschmolzener Gesichtsbilder zu erkennen und Objecte doppelt zu sehen, die ziemlich merklich von dem mathematischen Horopter entfernt sind. Aber er gewann doch durch weitere Beobachtungen die Ueberzeugung, dass die Gesichtswahrnehmung derjenigen Objectpunkte, die im Horopter liegen, gewisse Vortheile habe, die der Lage des (Seite 24) Horopters eine praktische Bedeutung geben, indem die Raumanschauung durch das binoculare Sehen ihre grösste Genauigkeit erreicht für diejenigen Objecte, die im Horopter liegen, und desto ungenauer wird, je weiter sich die Objecte vom Horopter entfernen. Indem er diese Ansicht durch scharfsinnig erdachte Experimente als richtig zu erweisen sucht, gelangt er zu sehr interessanten Resultaten für die grosse Bedeutung des Gebrauchs beider Augen beim Gehen. Wenn wir uns im Freien bewegen, blicken wir meist nach etwas entfernteren Gegenständen in horizontaler Richtung, und da dann der Fussboden unsere Horopterfläche ist, so erkennen wir seine Gestalt verhältnissmässig genau auch im indirecten Sehen und können dadurch beim Gehen unsere Augen frei gebrauchen. Die binoculare Raumprojection rückt dabei sehr weit in die Ferne hinaus, indem man bei richtiger Lage der Fussbodenebene im Horopter noch die räumliche Trennung von sehr weit entfernten Baumgruppen vom Horizonte dadurch bemerkt, dass ein hinter ihnen sich ausbreitendes Feld noch eben hingestreckt erscheint; bei veränderter Richtung der Visirebene können auch Flächen von nicht horizontaler Richtung in den Horopter kommen und so deutlich modellirt erscheinen, wie es im Horopter geschieht.

Die im Jahre 1864 in Poggendorff's Annalen veröffentlichten „Bemerkungen über die Form des Horopters“ wenden sich gegen einige von Hering gegen seine Theorie erhobenen Einwände, welche die Frage erörtern, ob die ganze Ausdehnung der mathematisch gefundenen Curve auch wirklich dem Horopter angehört; indem er diese Einwände zu widerlegen sucht, hebt er hier, wie überall später in seiner physiologischen Optik die grossen Verdienste Hering's um die Physiologie der Sinne hervor, dessen ausgezeichnete Arbeiten über Farbentheorie er stets rühmend anerkennt.

Lehre von den Tonempfindungen

Inzwischen war am Ende des Jahres 1862 der Druck der „Lehre von den Tonempfindungen“ beendet, und Helmholtz schrieb am 14. December an Thomson: (Seite 25)
„Ihre beiden angekündigten Arbeiten über die Abkühlung der Erde und die Formveränderungen elastischer Kugelschalen, welche sich auch wohl auf die Erde beziehen wird, interessiren mich sehr, weil ich jetzt angefangen habe, eine Vorlesung vor Studirenden aller Facultäten zu halten über die allgemeinen Resultate der Naturforschung, worin ich namentlich das Gesetz von der Erhaltung der Kraft und seine Consequenzen in populärer Weise zu erklären suche und es als Leitfaden benutze, um die verschiedenen Zweige der Naturwissenschaften mit einander zu verbinden. Da habe ich nun bisher die Geschichte des Planetensystems der Sonne und der Erde besprochen und mich überzeugt, dass dabei noch manche Probleme von den Astronomen und Geologen liegen gelassen sind, die bei dem jetzigen Zustande der Wissenschaft wohl behandelt werden könnten, freilich nur von Jemand, der ein ganz gründlicher Physiker und Mathematiker ist. Auch Ihr Unternehmen, ein Lehrbuch über Natural Philosophy zu schreiben, ist sehr dankenswerth, freilich aber auch sehr mühsam. Doch hoffe ich wird es Ihnen auch eine Menge Stoff zu wichtigen Arbeiten zuführen. Wenn man ein solches Buch zu schreiben sucht, bemerkt man am besten die Lücken, welche sich in der Wissenschaft noch finden.

Mein Buch über Akustik ist eben erschienen unter dem Titel „Die Lehre von den Tonempfindungen, als physiologische Grundlage für die Theorie der Musik“. Der Buchhändler hat mir schon gemeldet, dass eines der Exemplare, welches ich für Sie bestimmt hatte, an Ihre Adresse nach Glasgow abgegangen ist. Der Druck des Buches und die Geschäfte des Prorectorats, welche mir in diesem Jahre oblagen, haben meine Zeit sehr in Anspruch genommen, so dass ich noch nichts anderes daneben habe arbeiten können. Jetzt habe ich mich wieder an die Vollendung meiner physiologischen Optik gemacht, von welcher noch eine Abtheilung fehlt.“

In der nur aus wenigen Zeilen bestehenden Vorrede zu (Seite 26) jenem grossen von Physikern, Physiologen, Musikern und Aesthetikern sehnlichst erwarteten akustischen Werke bezeichnet Helmholtz dasselbe als die Frucht achtjähriger Arbeit und spricht seinen Dank aus dem König Maximilian von Bayern, „welchem die deutsche Wissenschaft schon in so vielen ihrer Felder die bereitwilligste Theilnahme und Förderung verdankt“, und der ihm die Mittel bewilligt hat für die Construction des Apparates zur künstlichen Zusammensetzung der Vocalklänge.

Helmholtz stellt sich in diesem Werke die Aufgabe, die Grenzgebiete der physikalischen und physiologischen Akustik mit denen der Musikwissenschaft und Aesthetik zu verbinden, und sieht daher zunächst von der rein physikalischen Akustik ab, welche ihrem Wesen nach nichts anderes ist als ein Theil der Lehre der elastischen Körper. Dem von ihm auch für die Optik auf gestellten Eintheilungsprincipe gemäss theilt er die physiologische Akustik in drei Theile, deren erster sich mit der Untersuchung zu beschäftigen hat, auf welche Weise der Schall im Ohre bis zu den empfindenden Nerven hingeleitet wird, und welcher den physikalischen Theil der entsprechenden physiologischen Untersuchung der Empfindungen liefert; deren zweiter vorzugsweise physiologischer Theil die Erregungen der Nerven selbst behandelt, welche verschiedenen Empfindungen entsprechen; und deren dritter wesentlich psychologischer Theil die Gesetze festzustellen sucht, nach welchen aus solchen Empfindungen Vorstellungen bestimmter äusserer Objecte, also Wahrnehmungen zu Stande kommen. Die physikalische und mathematische Grundlage der Gehörsempfindungen bildet den Gegenstand erst später von ihm veröffentlichter höchst interessanter, aber nur dem Mathematiker völlig verständlicher Arbeiten, während die physiologischen Theile der Gehörsempfindungen nebst den psychologisch-ästhetischen Untersuchungen in dem Werke selbst einer staunenswerthen und zum grossen Theile leicht verständlichen Analyse unterzogen werden. (Seite 27)

Die erste Abtheilung, welche die Zusammensetzung der Schwingungen, die Theorie der Obertöne und der Klangfarbe behandelt, sowie die zweite, welche sich mit den Störungen des Zusammenklanges, den Combinationstönen und Schwebungen, der Consonanz und Dissonanz beschäftigt, liefern eine ausführliche, im besten Sinne und in mustergültiger Weise populäre Darstellung, eine eingehendere Analyse und durch eine Fülle neuer Versuche erweiterte Darlegung all' der oben besprochenen, von Helmholtz in seinen Einzelarbeiten veröffentlichten Resultate, geben eine genaue Darstellung des Baues und der Theorie seines Harmoniums in natürlicher reiner Stimmung und zeigen, wie sich die schon von Dove vervollkommnete Sirene Cagniard-Latour's zu seiner mehrstimmigen Sirene entwickelt hat — die beiden ersten Theile dieses in seiner Art einzig dastehenden Werkes unterwerfen also solche Naturerscheinungen der Untersuchung, bei denen der Construction des Ohres gemäss mechanische Notwendigkeit herrscht, also jede Willkür ausgeschlossen ist, und deshalb auch feste Gesetze für die Erscheinungen ermittelt werden können. Wesentlich neu, grossartig in ihrer Anlage, bewundernswerth in der Durchführung behandelt die dritte Abtheilung die Verwandtschaft der Klänge, die Tonleitern und Tonalität, und betritt zur Begründung der elementaren Regeln der musikalischen Composition das Gebiet der Aesthetik.

„Die Beziehungen zwischen der Physiologie des Gehörsinns und der Theorie der Musik“, sagt Helmholtz später bei anderer Gelegenheit, „sind besonders auffällig und deutlich, weil die elementaren Formen der musikalischen Gestaltung viel reiner von dem Wesen und den Eigenthümlichkeiten unserer Empfindungen abhängen, als dies bei den übrigen Künsten der Fall ist, bei denen die Art des zu verwendenden Materials und der darzustellenden Gegenstände sich viel einflussreicher geltend macht.“

Von der durch seine historischen Untersuchungen über (Seite 28) die Entwickelung der Musik gewonnenen Ueberzeugung ausgehend, dass das System der Tonleitern, der Tonarten und deren Harmoniegewebe nicht bloss auf unveränderlichen Naturgesetzen beruht, sondern dass es zum Theil auch die Consequenz ästhetischer Principien ist, die mit fortschreitender Entwickelung der Menschheit einem Wechsel unterworfen sind, zeigt er, wie die Musik, analog der Baukunst, auch wesentlich von einander verschiedene Richtungen eingeschlagen hat. Er unterscheidet drei Hauptperioden der musikalischen Kunst, die homophone (einstimmige) Musik des Alterthums, an welche sich auch die jetzt bestehende Musik der orientalischen und asiatischen Völker anschliesst, die polyphone Musik des Mittelalters, vielstimmig, aber noch ohne Rücksicht auf die selbständige musikalische Bedeutung der Zusammenklänge, vom 10. bis in das 17. Jahrhundert reichend, und endlich die harmonische oder moderne Musik, charakterisirt durch die selbständige Bedeutung, welche die Harmonie als solche gewinnt, und deren Ursprünge in das 16. Jahrhundert fallen. Die Begründung und Durchführung dieser Eintheilung durch die Geschichte der Musik aller Völker hin wird nicht nur stets einen der grössten Ruhmestitel Helmholtz'scher Production, sondern für alle Zeiten ein bewundernswerthes Beispiel für die Verknüpfung historischer und naturwissenschaftlicher Forschung bilden.

Schon in seinen früheren Arbeiten hatte er nachgewiesen, dass die Obertöne in den musikalischen Bildungen eine wesentliche Rolle für die Harmonie spielen, dass aber das Gesetz, welches den Wohlklang der harmonischen Tonverbindungen bedingt, ein unbewusstes ist, indem die Obertöne zwar von den Nerven empfunden werden, jedoch nicht in das Gebiet des bewussten Vorstellens eintreten, deren Verträglichkeit oder Unverträglichkeit aber trotzdem gefühlt wird. Für die höhere geistige Schönheit der Musik sind Harmonie und Disharmonie nur Mittel, während die Melodie eine Bewegung ausdrückt, deren Charakter sich der unmittelbaren (Seite 29) Wahrnehmung des Hörers leicht, deutlich und sicher zu erkennen giebt. Da die Schritte der Bewegung ihrer Schnelligkeit und Grösse nach für die unmittelbar sinnliche Wahrnehmung genau abmessbar sein müssen, so ist für Helmholtz die melodische Bewegung nichts anderes als Veränderung der Tonhöhe in der Zeit, und da zwar das Auge eine continuirliche Bewegung zu verfolgen vermag, aber nicht das Ohr, welchem die Fähigkeit abgeht, den zurückgelegten Weg nochmals rück- und vorwärts zu verfolgen und sich ganz einzuprägen, so muss die melodische Bewegung in festen Stufen geschehen, deren Auffassung leicht ist. In der Musik aller Völker erfolgt die Veränderung der Tonhöhe in den Melodien stufenweise, nicht in continuirlichem Uebergange; sowohl bei melodischer als bei harmonischer Musik werden Klänge mit harmonischen Obertönen bevorzugt, und für eine gute musikalische Wirkung eine gewisse mässige Stärke der fünf bis sechs untersten Partialtöne, sowie eine geringe Stärke der höheren Partialtöne verlangt, was die Bedeutung der Obertöne auch für die Melodie feststellt. Er fasst seine Resultate dahin zusammen, dass in der Musik die mehr oder weniger harmonische Wirkung der Intervalle in Melodie und Harmonie mit besonderen sinnlich wahrnehmbaren Phänomenen, den Obertönen, zusammenhängt, welche die harmonischen Intervalle um so deutlicher und genauer abgrenzen, je einfacher und reiner diese sind.

Zur Behandlung der schwierigen Frage von den Tonleitern, für die er die wesentlichen Principien schon früher veröffentlicht hatte, erläutert er das Princip der Klangverwandtschaft. Indem er Klänge im ersten Grade verwandt nennt, welche zwei gleiche Partialtöne haben, und im zweiten Grade verwandt, wenn sie mit demselben dritten Klange im ersten Grade verwandt sind, wobei die Stärke der Verwandtschaft von der Stärke der gleichen Obertöne abhängt, entwickelt er auf Grund der natürlichen Verwandtschaft der Klänge zu einander die Tonleiter, betrachtet jedoch, da das (Seite 30) Princip der Klangverwandtschaft nicht zu allen Zeiten die Bildung der Tonleiter ausschliesslich bestimmt hat, dasselbe als ein bis zu einem gewissen Grade frei gewähltes Stilprincip. Durch seine Theorie der Tonleiter, der Harmonie und Melodie erläutert Helmholtz einige der dunkelsten und schwierigsten Punkte der allgemeinen Aesthetik und zeigt, dass diese Betrachtungen mit der Lehre von den Sinneswahrnehmungen, also mit der Physiologie in engem Zusammenhange stehen, während die ästhetische Zergliederung vollendeter musikalischer Kunstwerke und das Verständniss der Gründe ihrer Schönheit ihm noch auf scheinbar unüberwindliche Hindernisse zu stossen scheint. Wiederholt hebt er später bei verschiedenen Gelegenheiten, so auch in seiner Goethe-Rede in Weimar hervor, dass es ein Missverständniss sei, durch irgend welche ästhetische Untersuchungen Vorschriften geben zu wollen, nach denen die Künstler handeln sollen.

„Die eigentliche Schwierigkeit wird in der Verwickelung der psychischen Motive liegen, die sich hier geltend machen. Freilich beginnt auch hier erst der interessantere Theil der musikalischen Aesthetik — handelt es sich doch darum, schliesslich die Wunder der grossen Kunstwerke zu erklären, die Aeusserungen und Bewegungen der verschiedenen Seelenstimmungen kennen zu lernen. So lockend aber auch das Ziel sein möge, ziehe ich es doch vor, diese Untersuchungen, in denen ich mich zu sehr als Dilettant fühlen würde, Anderen zu überlassen und selbst auf dem Boden der Naturforschung, an den ich gewöhnt bin, stehen zu bleiben.“

Das in Inhalt und Form herrliche Werk, welches für die Belehrung grosser Kreise der gebildeten Welt bestimmt war, wurde viel gelesen, aber nur von Auserwählten ganz verstanden, da zur wirklichen Würdigung desselben nicht geringe physikalische und selbst mathematische Kenntnisse nothwendig waren. Noch am 27. Februar 1864 schrieb (Seite 31) Helmholtz an Ludwig, welcher diesem seine unbegrenzte Bewunderung der grossartigen Schöpfung ausspricht:

„Dass Du mit meinen Tonempfindungen zufrieden bist, ist mir sehr lieb, da Du einer der wenigen musikalischen Naturforscher bist, von denen ich hoffen durfte, dass sie sich vollständig in das Verständniss des Ganzen hineinarbeiten werden. Bisher hat das Buch, wie mir scheint, im Ganzen mehr succès d'estime gehabt, als es die Menschen überzeugt hat. Ich habe mir übrigens darüber, dass es so sein würde, niemals Illusionen gemacht. Wenigstens sehe ich, dass es Eindruck gemacht hat, und darf hoffen, dass es sich allmählich freie Bahn brechen wird.“

Am meisten geschätzt und bewundert, weil am leichtesten in diesen schwierigen akustischen Untersuchungen der gebildeten Welt zugänglich und verständlich, wurde aber seine Fähigkeit, sich in die historische Entwickelung grosser und umfassender naturwissenschaftlicher Disciplinen zu vertiefen, wie er sie in seiner physiologischen Optik, sowie später in seinen Untersuchungen über Elektrodynamik und in der berühmten Akademierede über die Geschichte des Princips der kleinsten Wirkung bekundet. Dem grossen Naturforscher war die Geschichte der Wissenschaft ein Leitfaden für den continuirlichen Fortschritt der Forschung; er kennzeichnet seine Auffassung von der Bedeutung historischer Untersuchungen, selbst in den abstractesten naturwissenschaftlichen Disciplinen, in einer interessanten Aufzeichnung, von der mir Eduard Zeller nach Kenntnissnahme derselben in einer gütigen Mittheilung vom 26. April 1902 schreibt, sie zeige dieselbe Beherrschung des Stoffes und klare Hervorhebung des Wesentlichen, welche alle geschichtlichen Darstellungen ihres Verfassers auszeichnet. Sie lautet:

  Zur Bedeutung der Entwicklungsgeschichte in den Naturwissenschaften

Augenbewegungen

Während des Druckes seiner Lehre von den Tonempfindungen hatte sich Helmholtz fast ausschliesslich mit physiologisch-optischen Problemen beschäftigt, und er bearbeitete zunächst in Verbindung mit seinen Horopteruntersuchungen durch Ausführung geistvoller Versuche und eine tief eindringende mathematische Analyse das überaus schwierige Gebiet der Augenbewegungen und ihrer Beziehungen zum binocularen Sehen, worin er all die früher von Anderen und ihm selbst entwickelten Gesetze auf ein einziges Princip, das der leichtesten Orientirung im Raume, zurückführte. Jetzt tritt er aber ganz rückhaltlos auf die Seite des Empirismus und sucht den Gebrauch der Sinnesorgane und alle Feinheiten desselben als anerzogen und durch Züchtung vervollkommnet nachzuweisen. Auch die Augenbewegung ist dem Willen unterworfen, sobald sie nöthig ist, „um der einzig möglichen Willenintention zu dienen, welche für die Augenbewegung gebildet werden muss, nämlich die, einfach und deutlich zu sehen“.

Helmholtz legte einen kurzen Abriss seiner Untersuchungen über die Augenbewegungen am 8. Mai 1863 dem naturwissenschaftlich-medicinischen Verein zu Heidelberg unter dem Titel „Ueber die Bewegungen des menschlichen Auges“ vor und gab eine ausführliche Darlegung derselben noch in demselben Jahre unter dem Titel: „Ueber die normalen Bewegungen des menschlichen Auges“ in Gräfe's Archiv für Ophthalmologie. Graefe schreibt ihm am 4 Juli 1863:

„Außerordentlich haben Sie mich durch die Zusendung Ihres gewichtigen Manuscriptes erfreut Dass unser Archiv auf die Mitarbeitung desjenigen stolz ist, welcher es dem Geiste nach ohne Zweifel begründet hat, das bedarf keiner Versicherung.“

(Seite 42) Um verschiedene Punkte unseres Gesichtsfeldes zu fixiren, also das optische Bild derselben mit dem Centrum der Netzhautgrube, als der Stelle des deutlichsten Sehens, zusammenfallen zu lassen, genügt es, die Gesichtslinie um bestimmte Winkel zu wenden, wobei sich aber der Augapfel um die Gesichtslinie als Axe noch beliebig drehen kann. Das Problem der Augenbewegung besteht nun darin, den Grad dieser Raddrehung der Augapfel zu bestimmen, wenn der Gesichtslinie eine bestimmte Stellung im Gesichtsfelde gegeben wird, da durch Versuche festgestellt ist, dass zu jeder Stellung der Gesichtslinie ein bestimmter Grad der Raddrehung gehört, dieser also nur abhängt von der Richtung dieser Linie, relativ zur Lage des Kopfes genommen, und nicht von dem Wege, auf welchem die Gesichtslinie in die betreffende Lage gebracht ist Bei gegebener und constant bleibender Haltung des Kopfes werden also die vertical über oder unter dem fixirten Punkte liegenden anderen Punkte des Gesichtsfeldes stets auf demselben Netzhautmeridiane abgebildet, wie auch das Auge in die betreffende Stellung gekommen sein mag; im entgegengesetzten Falle jedoch müsste, um die Richtung der Verticallinien zu bestimmen, die Empfindung des Grades der Raddrehung gegeben sein, und es würde somit die Aufgabe der Orientirung im Gesichtsfelde weit complicirter sein als beim Bestehen jenes Gesetzes. Helmholtz hat daher dieses Gesetz das Princip der leichtesten Orientirung für die Ruhestellungen des Auges genannt.

Nachdem nun schon durch Versuche von Donders nachgewiesen war, dass die Interessen des binocularen Einfachsehens bei den Augenbewegungen gar nicht berücksichtigt sind, suchte Helmholtz nach einem optischen Princip für die Augenbewegung, von der Ueberzeugung ausgehend, dass bei dem seinem Gebrauch so zweckmässig angepassten Organe, wie es das Auge ist, ein optischer Zweck durch die vorhandene Einrichtung erfüllt sein müsse. Dieses optische Princip fand er in einer weiteren Entwickelung des Princips (Seite 43) der leichtesten Orientirung. An den Satz, dass jede bestimmte Stellung der Gesichtslinie mit einem bestimmten Grade der Raddrehung des Auges verbunden ist, knüpfte er die Frage an, wie sich dasselbe während der Bewegung verhalten wird, oder wie es möglich gemacht ist, dass das Auge in seiner Orientirung mögliehst sicher bleibe, wenn der Fixationspunkt im Gesichtsfelde sich verschiebt Um hierauf eine bestimmte Antwort ertheilen zu können, musste zunächst die in optischer und erkenntnisstheoretischer Beziehung interessante Frage erörtert werden, wie während der Bewegung des Auges, welche in jedem Punkte der Netzhaut die Lichteindrücke fortdauernd wechseln lässt, die Anerkenntniss erhalten bleiben kann, dass trotz dieses Wechsels aller Lichteindrücke nicht eine Verschiebung und Veränderung der Objecte, sondern nur eine Bewegung des Auges stattgefunden habe; offenbar genügte es, diese Anerkenntniss für unendlich kleine Verschiebungen des Auges zu gewinnen. Um aber die Ueberzeugung zu erhalten, dass alle Veränderungen des Bildes auf sämmtlichen Theilen der Netzhaut nur von der geänderten Stellung des Auges und nicht von einer Veränderung der Objecte im Gesichtsfelde herrühren, ist die Bedingung zu erfüllen, dass der Uebergang eines Punktes des Bildes von der Netzhautgrube nach einem bestimmten, unendlich wenig entfernten Netzhautpunkte stets nur durch Drehung um eine bestimmte, relativ zum Auge unveränderlich gelegene Axe erfolgt.

Aus dem Princip der leichtesten Orientirung und aus dem bekannten Satze der Mechanik, dass man die Axenrichtungen unendlich kleiner Drehungen nach der Regel des Parallelogramms der Kräfte zusammensetzt, folgt nun, dass die Bewegung des Fixationspunktes nach irgend einem zweiten unendlich wenig entfernten Punkte des Gesichtsfeldes geschehen muss durch Drehung um eine Axe, welche in einer bestimmten, zum Auge unveränderlich gelegenen Ebene befindlich ist Weil nun die Drehaxen für alle vorkommenden (Seite 44) Bewegungen in einer Ebene liegen sollen, so wird bei keiner unendlich kleinen Drehung des Auges eine Drehung desselben um die auf jener Ebene der Axen senkrecht stehende Linie, welche Helmholtz die atrope Linie des Auges nennt, vorkommen. Da sich aber Drehungen von endlicher Grösse bekanntlich nicht mehr nach jenem mechanischen Princip zusammensetzen lassen, so wird man bei den Bewegungen des Auges die für die Bewahrung der Orientirung im Gesichtsfelde aufgestellte Forderung nicht vollständig erfüllen können. Man wird somit nur ein Gesetz der Augenbewegungen suchen dürfen, bei welchem die Stimme aller Abweichungen von diesem Princip ein Minimum ist, oder wird fordern müssen, dass, wenn man jede Drehung um die atrope Linie als Fehler bezeichnet, mit Rücksicht auf die bekannten Grundsätze der Wahrscheinlichkeitsrechnung die Summe der Fehlerquadrate für die sämmtlich möglichen unendlich kleinen Bewegungen des Auges zusammengenommen ein Minimun werde.

Helmholtz entwickelt nun in geistvoller Weise nach den Principien der Variationsrechnung die Bedingungen für die Existenz des Minimums eines bestimmten Integrales, dessen Elemente aus dem Producte der Fehlerquadrate und dem Incremente des Winkels bestehen, welchen die durch das Bogenelement und die Gesichtslinie gelegte Ebene mit einer festen Ebene bildet. In völlig unerwarteter Weise gelangt er zu dem schon von Listing ohne jede Angabe von Gründen ausgesprochenen Gesetze. Nennt man die Stellung des Auges, von welcher aus alle unendlich kleinen Bewegungen desselben ohne Drehung um die Gesichtslinie geschehen, die Primärstellung, alle anderen die Secundärstellungen, so wird die Stellung des Auges in einer bestimmten Secundärstellung gefunden, wenn dasselbe aus der Primärstellung in die Secundärstellung übergeführt wird durch Drehung um eine Axe, welche auf der primären und secundären Richtung der Gesichtslinie senkrecht steht. Erst (Seite 45) durch die von Helmholtz gegebene Deutung des Listing'schen Gesetzes als der Lösung einer Minimumsaufgabe der angegebenen Form ist die grosse Wichtigkeit dieser Untersuchungen klar gestellt worden. Die von ihm durchgeführte experimentelle Prüfung dieses theoretisch gefundenen Gesetzes ergab die vollständige Bewahrheitung desselben, wobei die zur Bestimmung der Augenstellungen angewandten Methoden durch Benutzung der Nachbilder oder mittelst binocularer Doppelbilder die allerdifficilsten Versuche verlangten. Endlich stellte sich noch Helmholtz, um den Kreis der darauf bezüglichen Untersuchungen ganz zu schliessen, die Aufgabe, durch Versuche nachzuweisen, dass die Orientirung im Gesichtsfelde wirklich mangelhaft wird, wenn das Auge nicht solche Bewegungen ausführt, deren Drehungsaxe immer in ein und derselben, im Auge festen Ebene liegt. Es ergab sich aus der Minimumsuntersuchung, dass diese Bedingung erfüllt ist für alle Bewegungen des Auges, welche von der Mitte des Gesichtsfeldes fort nach seiner Peripherie zu gerichtet sind, aber nicht für solche Bewegungen, welche durch eine Reihe von peripherischen Stellungen des Auges hindurchgehen; diese müssen in diesem Falle dann auch falsche Raumprojectionen im Gesichtsfelde nachweisen, wofür auch in der That überzeugende Versuche angestellt wurden.

„So glaube ich auch“, schliesst er diese fundamentale Arbeit, „dass das in der vorliegenden Untersuchung gefundene Gesetz der Augenbewegung erworben ist durch den Gebrauch des Auges, bei dem sich fortdauernd das Bedürfniss möglichst sicherer Orientirung geltend machte, und dass deshalb die von mir gegebene Ableitung aus diesem Bedürfniss wirklich den letzten Grund des Gesetzes darlegt. Wir dürfen aber wohl erwarten, dass schliesslich das Wachsthum der Muskel bewirken wird, dass die durch das Bedürfniss der Orientirung verlangten Augenstellungen auch mit der geringsten Anstrengung hergestellt werden. Eine (Seite 46) Art zwingender Gewohnheit, hergeleitet aus dem Bedürfniss der Orientirung, beherrscht die Augenbewegungen, und ich halte es deshalb nicht für nöthig, nach anatomischen Einrichtungen zu suchen, die das Gesetz dieser Bewegungen bestimmen.“

Gegen das Princip der leichtesten Orientirung hat Hering Einwände erhoben auf Grund sehr schöner und sinnreicher Versuche, die er aus dem von ihm aufgestellten Gesetze der identischen Sehrichtungen erklären wollte, und Helmholtz selbst hat später in seiner physiologischen Optik in diese äusserst schwierige Materie Ordnung und Klarheit zu bringen sich bemüht.

Wissenschaftliche Ehren wurden ihm auch in diesem Jahre reichlich zu Theil; er wurde unter anderem mit Beginn desselben membre honoraire de l'Académie Royale de Médecine de Belgique, und erhielt von allen Seiten verehrungsvolle und bewundernde Anerkennung der naturwissenschaftlichen Welt. Du Bois schreibt ihm am 9. December 1863: „Soeben habe ich Deine Abhandlung über die Augenbewegungen erhalten. Während Du von Eroberungen zu Eroberungen fliegst, komme ich aus der thierischen Elektricität nicht heraus.“ Aber die Mühen seines Amtsjahres, die Vorlesungen, das Laboratorium und vor allem die ununterbrochene wissenschaftliche Arbeit hatten ihn so angegriffen, dass sein Arzt Friedreich ihn mit Beginn der Sommerferien zu bewegen suchte, möglichst bald eine Erholungsreise zu unternehmen.

Friedreich hat mir in diesem Jahre“, schreibt Helmholtz am 29. August 1863 aus Heiden (Appenzell) an Donders, „(die vorjährige Kur in Kissingen hat mir nicht viel Erleichterung gebracht) empfohlen, Molken zu trinken, was ich bisher hier in Heiden gethan habe, und nun will ich noch eine Wanderung durch die Berge machen, zusammen mit meinem Collegen Bunsen. Ich will mit ihm am 3. September in Amsteg zusammentreffen, und wir wollen dann (Seite 47) um den Gotthard herum nach Disentis, Airolo, den Tosafällen und dem Aeggischhorn gehen … Es ist ein trauriges Ding, wenn der Mensch erst gezwungen ist, hypochondrisch zu werden und so viel Aufmerksamkeit auf seine Gesundheit zu verwenden.“

Die wissenschaftlichen Arbeiten des folgenden Winters wendeten sich wieder ganz seiner physiologischen Optik zu, deren dritte Abtheilung noch eine grosse Zahl ausserordentlich schwieriger Probleme behandeln sollte; zugleich nahmen zahlreiche öffentliche Vorlesungen seine Zeit sehr in Anspruch.

„Ich habe in diesem Winter“, schreibt er am 27. Februar 1864 an Ludwig, „dem Publicum und dem Mammon dienen müssen und die Erhaltung der Kraft als nährende Milchkuh behandelt Ich habe in Karlsruhe acht Vorlesungen darüber gehalten und mich fertig gemacht, während der Osterferien in London das Gleiche englisch zu thun. Eine Reise nach England betrachte ich immer als eine Art geistiger Badekur, durch welche man aus der trägen Bequemlichkeit des lieben Deutschland einmal wieder zu etwas activerem Verhalten aufgerüttelt wird, und solche Vorlesungen, wie ich sie schon einmal gehalten habe, geben ein gutes Verbindungsmittel ab zu einer engeren thätigen Berührung mit den englischen Naturforschern.“

  Fortsetzung des Kapitels


S. 21 - 47 aus:
Koenigsberger, Leo: Hermann von Helmholtz. - Braunschweig : Vieweg
Band 2. - 1903


Letzte Änderung: 24. Mai 2014     Gabriele Dörflinger   Kontakt

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