Leo Koenigsberger: Hermann von Helmholtz

Helmholtz als Professor der Physiologie in Heidelberg
von Michaelis 1858 bis Ostern 1871.
(Fortsetzung)


Anfang des Kapitels (Band 2)

Lehrtätigkeit und Prorektor in Heidelberg

Zu all' den grossen wissenschaftlichen Arbeiten und Plänen traten nun auch die nicht geringen amtlichen Verpflichtungen hinzu — aber ihm waren in Heidelberg seine Vorlesungen über Physiologie und die allgemeinen Resultate der Naturwissenschaften sowie die Leitung der Arbeiten im Laboratorium durchaus nicht Pflichtarbeiten, denen er etwa mit Unlust nachging. Die Vorlesungen an der Universität waren ihm nicht nur eine Obliegenheit gegen den Staat, „der ihm Unterhalt, wissenschaftliche Hülfsmittel und ein gut Theil freier Zeit gewährte“, und somit auch ein Recht hatte, zu verlangen, dass er in geeigneter Form Alles, was er mit seiner Unterstützung gefunden, frei und vollständig seinen Studirenden sowie seinen Mitbürgern überhaupt mittheile; er war sich vielmehr dessen stets wohl bewusst, dass die Vorlesungen ihn zwingen, jeden einzelnen Satz scharf zu prüfen, jeden Schluss correct zu formuliren und dadurch, dass er nur ein bestimmtes Maass von Vorkenntnissen bei seinen Zuhörern voraussetzen durfte, ihm den für die Durchleuchtung und Klarstellung wissenschaftlicher Materien fruchtbringenden Zwang auferlegen, die Beweise für die von ihm vertretenen Wahrheiten mit so elementaren Hülfsmitteln als möglich durchzuführen. Die Zuhörer vertraten die Stelle seiner Freunde, welche er sich bei seinen wissenschaftlichen Veröffentlichungen immer gegenwärtig dachte, „Als mein Gewissen gleichsam standen dabei vor meiner Vorstellung die sachverständigsten meiner Freunde; ob sie es billigen würden, fragte ich mich. Sie schwebten vor mir als die Verkörperung des wissenschaftlichen Geistes einer idealen Menschheit und gaben mir den Maassstab.“

„Als Student in Heidelberg“, erzählt Engelmann, „folgte ich seinen Vorlesungen über Physiologie und den Vorträgen über die allgemeinen Resultate der Naturwissenschaften, (Seite 16) die er damals jeden Winter zu halten pflegte. Es giebt im geistigen und gemüthlichen Leben zweierlei Formen von Energie, deren Summe erst den Werth des Ganzen bestimmt. Bei Helmholtz war nur ein geringer Theil des ungeheueren Energievorraths, den er in Geist und Gemüth barg, im gegebenen Augenblicke in actueller Form vorhanden. Die Umwandlung der potentiellen in lebendige Kraft erfolgte langsam, anders wie bei jenen Naturen, die man sonst mit Vorliebe geniale zu nennen pflegt. Da er die Form des Vortrages nie im Einzelnen ausgearbeitet hatte, sondern immer frei producirte, sprach er langsam, abgemessen, gelegentlich ein wenig stockend. Seine Augen waren dabei über die Zuhörer hinweg gerichtet, wie in unendlicher Ferne die Lösung eines Problems suchend. Er machte in seinem Colleg über Physiologie nie mehr Voraussetzungen in Bezug auf Kenntnisse und Fassungskraft seiner medicinischen Studenten als andere Lehrer desselben Fachs. Forschernamen nannte er selten, am wenigsten den eigenen.“

Im Laboratorium war er ein eifriger Lehrer, und jeder strebsame Schüler war ihm ein wissenschaftlicher Freund; frei von jeder Eifersucht, was er an Magnus stets so rühmend anerkannte, lieferte er oft genug für die ausgezeichneten Arbeiten, welche aus seinem Heidelberger Laboratorium hervorgingen, die Grundgedanken und gab eine Fülle von Vorschlägen für die Ueberwindung neuer experimenteller Schwierigkeiten, bei denen mehr oder weniger Erfindung in Betracht kam.

„Wer das Glück gehabt hat“, sagt Bernstein, sein langjähriger Assistent am physiologischen Institut, „Helmholtz experimentiren zu sehen, wird den Eindruck nicht vergessen, welchen das zielbewusste Handeln eines überlegenen Geistes bei der Ueberwindung mannigfacher Schwierigkeiten hervorruft. Mit den einfachsten Hülfsmitteln, aus Kork, Glasstäben, Holzbrettern, Pappschachteln u. dergl. entstanden Modelle sinnreicher Vorrichtungen, bevor sie den (Seite 17) Händen des Mechanikers anvertraut wurden. Kein Missgeschick war im Stande, die bewundernswerthe Ruhe und Gelassenheit, welche dem Temperament von Helmholtz eigen war, zu erschüttern; auch das Ungeschick eines Andern konnte sie nie aus ihrem Gleichgewicht bringen. Diejenigen, welche Jahre lang unter seiner Leitung thätig waren, haben ihn bei solchen Anlässen niemals in Erregung gesehen.“

Auszeichnungen und wissenschaftliche Ehrungen wurden ihm in dieser Zeit vielfach zu Theil; der Ernennung zum Grossherzoglichen Hofrath im December 1861 folgte die zum Geheimrath III. Klasse am 28. October 1865, die philosophische Facultät der Berliner Universität hatte ihn schon am 16. October 1860 zum Ehrendoctor ernannt, das Ritterkreuz des Grossherzoglich Badischen Ordens vom Zähringer Löwen hatte er 1861, den Orden vom Niederländischen Löwen schon am Ende des Jahres 1858 erhalten, dem im 1865 der Kaiserlich Russische Stanislaus-Orden folgte.

Von der Regierung, von seinen Collegen, zu denen die bedeutendsten Forscher zählten, von den Studirenden aller Facultäten wurde ihm bewundernde Verehrung entgegengetragen, und es war nur ein kleines Zeichen der Anerkennung, dass ihm schon im Jahre 1862 die Würde des Prorectors der Heidelberger Universität übertragen wurde.

Die am 22. November 1862 von ihm gehaltene Prorectoratsrede „Ueber das Verhältniss der Naturwissenschaften zur Gesammtheit der Wissenschaften“ liefert in stylistisch vollkommener Form eine Fülle von Gedanken und Gesichtspunkten, die er später bei verschiedenen Gelegenheiten noch ergänzt und bereichert hat, und die vielfach von Anderen zur Grundlage organisatorischer Bestrebungen gemacht wurden. Es ist vom höchsten Interesse, dem Gedankengange des grossen Forschers zu folgen und der späteren Entwickelung seiner Ideen nachzugehen.

Fern von der so häufigen Einseitigkeit des Gelehrten (Seite 18) sieht er das Wissen allein nicht als Zweck des Menschen auf der Erde an; wenn die Wissenschaften auch die feinsten Kräfte des Menschen entwickeln und ausbilden, so giebt doch nur das Handeln dem Manne ein würdiges Dasein; entweder die praktische Anwendung des Gewussten oder die Vermehrung der Wissenschaft selbst, welche auch ein Handeln für den Fortschritt der Menschheit ist, muss sein Zweck sein. Um aber an dem Vorwärtsschreiten der Wissenschaft mitzuarbeiten, genügt es nicht, Thatsachen zu kennen; Wissenschaft entsteht erst, wenn sich ihr Gesetz und ihre Ursachen enthüllen. Haben nun die Wissenschaften den Zweck, den Geist herrschend zu machen über die Welt, so ist es auch die Pflicht der Gebildeten, ihre Gleichwerthigkeit anzuerkennen und sie nur ihrem Inhalte nach zu unterscheiden; besitzen die Naturwissenschaften die grössere Vollendung in der wissenschaftlichen Form, so behandeln die Geisteswissenschaften, indem sie den menschlichen Geist selbst in seinen verschiedenen Trieben und Thätigkeiten zergliedern, einen reicheren, dem Interesse des Menschen und seinem Gefühle näher liegenden Stoff. Aber diese Erkenntniss bricht sich leider nur äusserst langsam Bahn; noch kurz vor seinem Tode klagt Helmholtz in der von ihm verfassten Glückwunschadresse der Berliner Akademie zum fünfzigjährigen Doctorjubiläum seines Freundes du Bois darüber, dass leider noch eine grosse Kluft besteht, welche den Gesichtskreis der philosophisch-historisch gebildeten Kreise unserer Nation wie des ganzen civilisirten Europa von dem der naturwissenschaftlich und mathematisch Gebildeten trennt; beide Kreise verstehen sich kaum in Bezug auf die Interessen ihres Denkens und Strebens — ein grosses Hinderniss für ein gedeihliches Zusammenwirken und für eine harmonische Fortentwickelung der Menschheit. Deshalb findet er für den Ausgleich der verschiedenen wissenschaftlichen Anschauungen — wie er in seiner zu der Uebersetzung von Tyndall's „Fragments of Science“ im Jahre 1874 erschienenen Vorrede „Ueber (Seite 19) das Streben nach Popularisirung der Wissenschaft“ hervorhebt — die im besten Sinne populären Darstellungen naturwissenschaftlicher Forschungen so erwünscht, weil nicht sowohl Kenntniss der Ergebnisse dieser Forschungen dasjenige ist, was die verständigsten und gebildetsten unter den Laien suchen, als vielmehr „eine Anschauung von der geistigen Thätigkeit des Naturforschers, von der Eigentümlichkeit seines wissenschaftlichen Verfahrens, von den Zielen, denen er zustrebt, von den neuen Aussichten, welche seine Arbeit für die grossen Räthselfragen der menschlichen Existenz bietet“.

Nur flüchtig streift Helmholtz in seiner Rede die Fragen Unterrichts, welche später von so grossem actuellen Interesse geworden sind; er giebt den classischen Sprachen ihrer ausserordentlich feinen künstlerischen und logischen Ausbildung für die Erziehung der Jugend den modernen Sprachen gegenüber den Vorzug, und bei der Erörterung der Frage, ob den mathematischen Studien als „den Repräsentanten der selbstbewussten logischen Geistesthätigkeit“ ein grösserer Einfluss in der Schulbildung eingeräumt werden müsse, spricht er zu Gunsten dieser die Ueberzeugung aus, dass sich auch mit der Zeit die Individuen genöthigt sehen werden, strengere Schulen des Denkens durchzumachen, als die Grammatik sie zu gewähren im Stande ist.

Eingehender sucht er zunächst den charakteristischen Unterschied zwischen den Naturwissenschaften und den Geisteswissenschaften dadurch zu charakterisiren, dass die Naturwissenschaften meist im Stande sind, ihre Inductionen bis zu scharf ausgesprochenen allgemeinen Regeln und Gesetzen durchzuführen, während die Geisteswissenschaften es überwiegend mit Urtheilen nach psychologischem Tactgefühl zu thun haben. In klaren und schönen Worten hebt er in der oben bezeichneten Vorrede zu dem Tyndall'schen Werke die Wichtigkeit hervor, welche der Inhalt der classischen Schriften für die Ausbildung des sittlichen und ästhetischen (Seite 20) Gefühls, für die Entwickelung einer anschaulichen Kenntniss menschlicher Empfindungen, Vorstellungskreise und Culturzustände hat; aber er spricht dem ausschliesslich literarisch-logischen Bildungswege das wichtigste Moment der methodischen Schulung derjenigen Thätigkeit ab, „durch welche wir das ungeordnete, vom wilden Zufall scheinbar mehr als von Vernunft beherrschte Material, das in der wirklichen Welt uns entgegentritt, dem ordnenden Begriffe unterwerfen und dadurch auch zum sprachlichen Ausdruck fähig machen“. Er findet in den einfacheren Verhältnissen der unorganischen Natur ein Mittel zur systematischen Entfaltung von Begriffsbildungen, mit der „kein anderes menschliches Gedankengebäude in Bezug auf Folgerichtigkeit, Sicherheit, Genauigkeit und Fruchtbarkeit zugleich“ verglichen werden kann.

So kommt er in seiner akademischen Rede zur Anerkennung der nicht fortzuleugnenden Thatsache, dass, wenn auch durch Hegel und Schelling der Gegensatz zwischen Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften in übertriebener Schärfe zum Ausdruck gekommen war, ein solcher doch in der Natur der Dinge begründet sei und sich geltend mache. Bei der Vergleichung der verschiedenen Naturwissenschaften unter einander hebt er den grossen Vortheil hervor, den die experimentirenden Wissenschaften bei der Aufsuchung der allgemeinen Naturgesetze vor den beobachtenden dadurch voraus haben, dass sie willkürlich die Bedingungen verändern können, unter denen der Erfolg eintritt, und sich deshalb auf eine nur kleine Zahl charakteristischer Fälle der Beobachtung beschränken dürfen, um die Gültigkeit des Gesetzes festzustellen; er verlangt von der experimentellen und mathematischen Naturwissenschaft, fortzuarbeiten bis zur Ermittelung ausnahmsloser Gesetze: „erst in dieser Form erhalten unsere Kenntnisse die siegende Kraft über Raum und Zeit und Naturgewalt“. So sieht er in dem Gravitationsgesetz die gewaltigste Leistung, deren die logische Kraft des menschlichen Geistes jemals fähig gewesen ist, aber nur (Seite 21) in der Mathematik sieht er absolute Sicherheit des Schliessens; dort herrscht keine Autorität als die des eigenen Verstandes, und nur aus wenigen Axiomen baut sich die ganze Wissenschaft auf.

„Hier sehen wir die bewusste logische Thätigkeit unseres Geistes in ihrer reinsten und vollendetsten Form; wir können hier die ganze Mühe derselben kennen lernen, die grosse Vorsicht, mit der sie vorschreiten muss, die Genauigkeit, welche nöthig ist, um den Umfang der gewonnenen allgemeinen Sätze genau zu bestimmen, die Schwierigkeit, abstracte Begriffe zu bilden und zu verstehen, aber ebenso auch Vertrauen fassen lernen in die Sicherheit, Tragweite und Fruchtbarkeit solcher Gedankenarbeit.“

Seine wissenschaftlichen Arbeiten hatten jetzt, während die „Lehre von den Tonempfindungen“ im Drucke war, fast ausschliesslich äusserst schwierige physiologisch-optische Fragen zum Gegenstande, und noch wenige Tage vor seiner akademischen Festrede hielt er am 24. October 1862 in dem naturhistorisch-medicinischen Verein zu Heidelberg einen Vortrag „Ueber die Form des Horopters, mathematisch bestimmt“, der im Wesentlichen die Resultate seiner tiefgehenden Untersuchungen brachte, welche im Jahre 1864 unter dem Titel „Ueber den Horopter“ in Graefe's Archiv für Ophthalmologie erschienen; nur insofern enthielt die letztere Arbeit eine Erweiterung jener in dem Vortrage niedergelegten Theoreme, als er die Veränderungen berücksichtigte, welche die inzwischen von Recklinghausen nachgewiesene Asymmetrie in der Vertheilung der identischen Netzhautstellen in beiden Augen bedingte, während er der ersten Bearbeitung die damals noch allgemeine Annahme zu Grunde legte, dass identische Netzhautstellen in der Primärstellung beider Augen solche sind, auf denen das Bild desselben unendlich weit entfernten Punktes entworfen würde, Veränderungen, die er schon im December 1862 dem genannten Verein in Heidelberg mittheilte.

  Fortsetzung des Kapitels


S. 15 - 21 aus:
Koenigsberger, Leo: Hermann von Helmholtz. - Braunschweig : Vieweg
Band 2. - 1903


Letzte Änderung: 24. Mai 2014     Gabriele Dörflinger   Kontakt

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