Leo Koenigsberger: Hermann von Helmholtz

Helmholtz als Professor der Anatomie und Physiologie in Bonn
von Michaelis 1855 bis Michaelis 1858


Anfang des Kapitels

Das Telestereoskop und philosophischer Briefwechsel mit seinem Vater

Das Telestereoskop

Da er sich bei Abfassung seiner physiologischen Optik die gewaltige Aufgabe gestellt hatte, alle wesentlichen Punkte, die auch von anderen Physiologen und Physikern bereits untersucht und festgestellt waren, durch eigene Beobachtungen und Versuche nachzuprüfen und zu begründen, so folgt in der ganzen Reihe der Jahre, in denen er an jenem (Seite 280) grossen Werke fortarbeitete, eine Fülle der weittragendsten Einzelentdeckungen, welche die Wissenschaft nach allen Richtungen hin erweiterten. Im Juni 1857 legte er der Niederrheinischen Gesellschaft sein „Telestereoskop“ vor, dessen ausführliche Beschreibung noch in demselben Jahre in Poggendorff's Annalen erschien.

Am 14. Juli 1857 schreibt er an du Bois:

„Ich sitze und warte auf die Mechaniker und schmiede inzwischen physiologische Optik zusammen. Eine optische Spielerei, die ich unter dem Namen Telestereoskop (Stereoskop für die fernen Theile der Landschaft) in der Niederrheinischen Gesellschaft beschrieben habe, macht, wie ich höre, die Runde durch die politischen Zeitungen, nach dem Sitzungsberichte in der Kölner Zeitung abgedruckt; ich werde deshalb nächstens eine kurze Notiz darüber an Poggendorff schicken.“

Es war bekannt, dass die Netzhautbilder der beiden menschlichen Augen, welche selbst perspectivische Projectionen der im Gesichtsfelde befindlichen Gegenstände darstellen, desto mehr von einander verschieden sind, je näher der Gegenstand den Augen steht; dass jedoch bei sehr entfernten Gegenständen, gegen deren Entfernung die Distanz der Augen verschwindend klein ist, auch der Unterschied der Bilder verschwindet, somit für uns das Hülfsmittel verloren geht, die Entfernung der Gegenstände zu schätzen und ihre körperliche Gestalt zu erkennen, worauf bekanntlich das Princip des Stereoskops beruht. Bei Stereoskopischen Landschaftsbildern wählt daher der Photograph zwei beliebig weit von einander entfernte Standorte, um sich zwei hinreichend von einander verschiedene perspectivische Projectionen der Gegend zu verschaffen, so dass der Beschauer im Stereoskop ein verkleinertes Modell der Landschaft sieht, dessen Dimensionen sich zu denen der Landschaft verhalten, wie die Augendistanz des Beobachters zur Distanz der beiden Standorte der photographirenden Camera obscura.

(Seite 281) Von diesen Erfahrungen ausgehend, stellte sich Helmholtz die Aufgabe, durch Construction eines Instrumentes, das er Telestereoskop nannte, auch bei der directen Beschauung einer Landschaft einen Theil der Vortheile zu verschaffen, welche die stereoskopischen Photographien gewähren, und zwar dadurch, dass es dem Beschauer zwei Bilder der Landschaft stereoskopisch vereinigt zeigt, welche zwei Standpunkten entsprechen, deren Distanz die der menschlichen Augen beträchtlich übertrifft. Die äusserst einfache Construction dieses Instrumentes besteht aus zwei grösseren und zwei kleineren Spiegeln, welche unter 45° gegen die Längskante des gemeinsamen hölzernen Kastens geneigt sind, so dass das von dem fernen Objecte kommende Licht zweimal unter rechten Winkeln reflectirt wird und dann parallel in die beiden Augen des Beobachters fällt; jedes Auge des Beobachters sieht somit in dem kleinen Spiegel seiner Seite den grossen Spiegel und in dem grossen die Landschaft gespiegelt, und zwar in einer solchen perspectivischen Projection, wie sie von den beiden grossen Spiegeln aus erscheint; es wird somit durch das Instrument die Augendistanz des Beobachters bis zur Grösse der Entfernung der beiden grossen Spiegel vergrössert und liefert daher eine viel grössere Verschiedenheit der beiden perspectivischen Ansichten, als die beiden Augen des Beobachters bei unmittelbarer Betrachtung der Landschaft gewähren. Durch Verbindung eines Doppelfernrohres mit einem Telestereoskop gewinnt er die Construction des stereoskopischen Doppelfernrohres, das er mit allen dahin gehörigen Berechnungen später in seinem Handbuch der physiologischen Optik veröffentlichte.

Inzwischen nahmen aber auch seine akustischen Untersuchungen eine immer grössere Ausdehnung an, und es folgten physiologisch-optische und -akustische Entdeckungen von grösster Bedeutung rasch auf einander.

Am 18. Mai 1857 schreibt er an du Bois:

„Ich habe allmählich ziemlichen Stoff zur Reform der (Seite 282) physiologischen Akustik angesammelt, und warte auf Instrumente, um es nach und nach fertig zu machen. Von den Resultaten will ich eines erwähnen, welches mir für die Nervenphysiologie von Interesse scheint, dass nämlich die Fasern des Acusticus, welche die höheren Töne empfinden, im Stande sein müssen, bis 150 Wechsel von Erregung und Ruhe (150 Schwebungen) in der Sekunde von einer continuirlichen Erregung zu unterscheiden, während in Sehnerv und Muskeln schon 10 bis 15 Wechsel in der Sekunde als continuirliche Erregung wirken. Es ist das in Uebereinstimmung mit dem schnellen Wechsel der elektrischen Anordnungen in den Nerven, und es scheint daraus zu folgen, dass die Trägheit jener Wirkungen in den Muskelfasern und den lichtempfindlichen Theilen der Retina liegt.“

Ueber Vocale

Schon am Ende des Jahres hatte er seine Theorie der Vocale, die ihn bereits seit Monaten beschäftigte, so weit geführt, dass er am 4. November 1857 Donders mittheilen konnte, dieselben unterschieden sich auch durch die höheren Nebentöne, welche den Grundton begleiten. Wenn man in das Clavier hineinsinge, bringe man leicht bei a, o, e die den höheren Nebentönen entsprechenden Saiten zum Nachklingen — es komme dabei nur darauf an, den betreffenden Ton genau zu treffen und festzuhalten; geübteren Sängern gelinge der Versuch deshalb am besten, „meiner Frau besser als mir selbst“. Nennt man den Grundton den ersten Ton und nennt man den höheren Ton, welcher zwei-, drei-, vier u. s. w. mal so viel Schwingungen macht, den zweiten, dritten, vierten u. s. w. Ton, so ist bei a neben dem ersten Ton der dritte und fünfte deutlich, der zweite, vierte und siebente schwächer vorhanden; bei o ist der dritte etwas schwächer als bei a, während der zweite und fünfte sehr schwach sind; bei u ist fast allein der Grundton vorhanden, der dritte schwach; bei e der zweite sehr kräftig, die höheren kaum hörbar, und bei i scheint der zweite und dritte Ton im Verhältniss zu dem schwachen Grundton den hellen (Seite 283) Charakter des Vocals zu bedingen, während der fünfte Ton schwach vorhanden ist.

Aber noch waren grosse Schwierigkeiten zur vollständigen Ergründung der Theorie der Vocale zu überwinden, welche ihn bis zum Anfang des Jahres 1859 beschäftigten. „Ich will übrigens jetzt daran gehen, diese Fragen über den Grund der Klangfarbe ordentlich vorzunehmen, weil darin auch die Lösung der zwischen Ohm und Seebeck discutirten Grundfrage der physiologischen Akustik: welche Arten von Schwingungen entsprechen einem einzigen hörbaren Tone? steckt. Ich glaube, dass Ohm Recht hat mit der Annahme, dass das Ohr die Luftbewegungen genau nach dem Satze von Fourier zerlegt und hört“, schreibt er Donders in dem oben erwähnten Briefe.

Philosophischer Briefwechsel mit seinem Vater

Eine lange Reihe von Jahren war der Gegensatz in den philosophischen Anschauungen von Vater und Sohn nicht offen zu Tage getreten; da schreibt Helmholtz am 17. December seinem Vater:
„Uns geht es hier recht gut, wir sind alle gesund gewesen. In meiner amtlichen Stellung ist eine wesentliche Verbesserung dadurch eingetreten, dass Prof. Budge nach Greifswald gegangen ist, ich bin dadurch hier der einzige offizielle Vertreter der Physiologie geworden, und das Ministerium kann deshalb an mich jetzt keine Anforderungen mehr machen betreffs der vergleichenden und mikroskopischen Anatomie, für die ich sonst am Ende hätte einstehen müssen. Denn wenn ich im Winter menschliche Anatomie und im Sommer Physiologie als Hauptcolleg vortrage, ist meine Zeit besetzt, und man kann billiger Weise nicht mehr von mir fordern. … Was meine Arbeiten betrifft, so lege ich einen Abdruck einer akustischen Arbeit bei, eine andere ist schon zur Hälfte wieder fertig, aber ich habe sie jetzt bei Seite gelegt, weil ich mich einstweilen darin festgeritten hatte, und die Sache erst vergessen und dann wieder frisch angreifen will. Einstweilen schreibe ich wieder an der (Seite 284) physiologischen Optik, und muss in den Weihnachtsferien auch wieder einen populären Vortrag fabriciren.“

Er ergänzt diese wenigen Zeilen, um nicht den Inhalt des letzten Briefes seines Vaters unberührt zu lassen, am 31. December durch ein ausführliches Schreiben, worin er unter anderem ausführt:

„… Was Du mir über Dein jetziges Leben geschrieben hast, hat mich sehr gefreut; ich denke, dass Dich Deine philosophischen Arbeiten desto mehr interessiren werden, je länger Du daran arbeitest. Auch scheint mir der Zeitpunkt günstig zu sein, dass sich Stimmen aus der alten Schule von Kant und Fichte dem Aelteren wieder öffentlich hören lassen, da der philosophische Rausch und zugehörige Katzenjammer der naturphilosophischen Systeme von Hegel und Schelling vorüber zu sein scheint, und die Leute wieder anfangen, sich für Philosophie zu interessiren. In die Anthropologie des jüngeren Fichte habe ich nur ein kurzes Stück hineingelesen; ich fand viel interessantes darin, aber im Ganzen machte mir das Buch doch nur den Eindruck einer Reihe von wahrscheinlichen, aber unbegründeten Hypothesen, so dass ich es liegen liess, da ich sah, dass man sich aus seinen anderen Schriften erst die Begründung würde suchen müssen. Auch scheint mir der jüngere Fichte nicht frei zu sein von dem Fehler, welcher an der seit Hegel und Schelling eingetretenen Missachtung der Philosophie Schuld ist, dass er nämlich eine Menge Sachen in den Kreis der Betrachtung zieht, über die er glaubt, absprechen zu müssen, welche gar nicht in die Philosophie gehören, welche entweder den Erfahrungswissenschaften anheimfallen, oder dem Gebiete des reinen religiösen Glaubens. Die Philosophie hat ihre grosse Bedeutung in dem Kreise der Wissenschaften als Lehre von den Wissensquellen und den Thätigkeiten des Wissens, in dem Sinne, wie Kant, und soweit ich ihn verstanden habe, der ältere Fichte sie genommen haben. Hegel wollte aber durch sie alle anderen Wissenschaften (Seite 285) ersetzen, nnd durch sie auch finden, was dem Menschen vielleicht zu wissen verwehrt ist, und hat dadurch die Philosophie offenbar von ihrem wahren Geschäfte abgewendet, und etwas unternommen, was sie nicht leisten konnte. Der grosse Haufen der studirten Leute glaubte ihm erst, und warf nachher die Philosophie ganz weg, als er sich endlich überzeugte, dass nichts dabei herauskomme. Offenbar ist der Erfolg, den Schopenhauer jetzt hat, darin gegründet, dass er auf den alten gesunden Standpunkt von Kant zurückgekehrt ist. Ich weiss nicht, ob ich Dir geschrieben habe, dass ein Schüler Schopenhauer's, Frauenstaedt, in einer Schrift gegen den Materialismus mich als Plagiator Schopenhauer's hinstellt. Dabei handelt es sich nur um Sätze, die im Wesentlichen schon Kant hatte. …“

Aber nun ergreift der alte Freund Fichte's für diesen Partei und schreibt am 8. Februar 1857 seinem Sohne:

„… Mir selbst scheint es immer besser zu gehen; der Druck im Kopf wird mässiger, nur das Zittern der Hand erschwert mir noch immer das Schreiben, und mit der Besserung der Augen geht es langsam, doch ist eben jetzt meine schlimmste Zeit, und ich hoffe, dass Frühling und Sommer mich rascher herstellen, und auch befähigen werden, das in meiner geistigen Ausbildung so lange Versäumte nachzuholen, und bei der Einkehr in mich selbst Manches wieder aufzufinden, was noch in den Tiefen der Seele vergessen liegt, so dass es, zur Einheit gesammelt, mir die Erkenntniss erzeugen wird, welche genügt, das Leben hienieden abzuschliessen und mich für den Tod vorzubereiten. Denn da sich mir die praktischen Kräfte versagen, so ist Selbsterkenntniss dermalen eine Hauptaufgabe. Ob dabei etwas Litterarisches herauskommen wird, warte ich ruhig ab, so sehr auch F. zu solchen Arbeiten mich antreibt.

Was nun aber das betrifft, was Du über Philosophie schreibst, so urtheilst Du doch wohl ohne gründliche Ueberlegung, und hast aus Vorurtheil, oder weil es Dich in Deinem (Seite 286) wissenschaftlichen Treiben stört, die Anthropologie Fichte's unterschätzt und verkannt. Schon Newton, noch mehr aber Kant, zeigt, dass es nicht bloss ein empirisches Erkennen der Natur gäbe, und wenn nicht alles andere dem Glauben zu überlassen sei, so bedarf es allerdings auch ein a priorisches objectives Erkennen. Alles Verständniss der Natur setzt zuerst eine Wechselwirkung des a priorisch Ideellen mit dem Objectiven voraus, wie alles Bewusstwerden ein Erwachen der Idee von dem Objecte zu einem Verstehen des Objects, eine Qualifikation desselben aus der Idee ist. Denken und Beobachten müsste stets neben einander herlaufen und sich wechselweise durchdringen, wenn ein Wissen entstehen soll, und Erkenntniss der realen Wirklichkeit. So gut wie der einsichtige Arzt die Wechselwirkung von Geist und Körper zu berücksichtigen und daraus sowohl den körperlichen wie den geistigen Zustand des Individuums zu verstehen,hat, hat auch der Naturforscher die Erkenntniss der Philosophie und der Philosoph die Einsichten des Naturforschers zu berücksichtigen, wenn sie uns in ihrem einseitigen Gebiete zur gründlichen objectiven Einsicht bringen wollen. Der Fehler Schelling's und Hegel's und ihrer Schüler besteht nun eben darin, dass sie der Beobachtung entbehren und aus der einen schon die ganze Welt construiren zu können glaubten, wodurch sie höchstens als Resultat irgend eine mögliche denkbare Welt, nie aber die qualitative wirkliche Welt erhielten, die ausser den scheinbaren Formen ihrer Denkbarkeit noch einen unendlich reichen ursprünglichen und absoluten, keiner a priorischen Construction entsprechenden Inhalt enthält; so gewannen sie das Formelle der Vorstellbarkeit, aber nie den wesentlichen Inhalt, so wenig der Natur wie des Geistes, und selbst das individuelle Ich wurde ihnen zu einer reinen Formalität, ohne wesentlich realen individuellen Gehalt, dessen Unsterblichkeit ihnen ebenso gut wie den Materialisten verloren geht, die eben auch bei den allgemeinsten (Seite 287) chemischen und physischen Kräften stehen bleiben und aus ihnen den lebendigen Inhalt und Geist auf ihre Weise zu einer bloss formellen Erscheinungsform des chemischen Processes machen.

Dies klar gezeigt zu haben ist des jüngeren Fichte Verdienst, obgleich es schon aus dem richtigen Verständniss der Wissenschaftslehre hervorgeht. Schon dass beiden die Unsterblichkeit verloren geht, hätte sie erschrecken lassen müssen über das Resultat, und irre werden lassen an ihrer Untersuchungsart; denn der Glaube an diese ist die Basis alles Sittlichen, Schönen und Göttlichen, und darum den rohesten Völkern und Individuen eben so nothwendig wie den Gebildetsten, daher kein natürlich gesunder Mensch seiner entbehrt und er bei allen Völkern und zu allen Zeiten sich findet. Aber so wenig der Metaphysiker je einen individuellen Geist construiren kann, ebenso wenig wird Moleschott und Vogt je einen lebendigen Leib durch Chemismus darstellen, und wenn die Chemie auch noch so ungeheure Fortschritte machen sollte, Fichte hat es meiner Ueberzeugung nach mit grossem Glücke versucht, letzteren ihre Oberflächlichkeit auf ihrem eigenen Gebiete zu beweisen. Uebrigens ist er weit davon entfernt, sich in Eure Aufgaben mischen oder gar entscheiden zu wollen über die Resultate Eurer Forschungen; aber dass er sich mit diesen, wie es mir scheint, hinlänglich bekannt macht, so weit es nöthig ist, um den allgemein wissenschaftlichen Gewinn für tiefere Erkenntniss aus ihnen zu ziehen, und zu sehen, welche Früchte sich daneben für die Seelenerkenntniss aus ihnen ziehen lassen, das solltet Ihr ihnen nicht nur nicht verwehren, sondern das sollte Euch lieb sein, da es Euch ja die Prüfung durch Beobachtung durchaus nicht entzieht, sondern nur neue Aufgaben und Aussichten der Forschung eröffnet, damit sie dem geistigen und wissenschaftlichen Bedürfnisse der Zeit gründlich genüge, und neue Aussichten der Zukunft eröffne. Sein Sohn, mit dem er in innigstem (Seite 288) geistigen Verkehr lebt, ist ja ein geistreicher wissenschaftlicher Arzt, der dem Vater schon das Nöthigste und Wichtigste zugeführt haben wird. Auch giebt er selbst zu, dass manches Einzelne widerlegt und bei fortschreitender Naturforschung anders erscheinen könne, dass aber eben nur die Gesammtheit der Analogien entscheiden könne, und das Wesentliche: dass die Seele Princip des Körpers, nicht aber umgekehrt der Körper der Seele sei, dass die Seele nicht bloss Geist und Selbstbewusstsein sei, sondern auch materielle Kraft, dass sich überhaupt eine rein unkörperliche Existenz des Geistes nicht vorstellen lasse, sondern Geist und Materie nur gewissermassen die durch die Reflexion gesehenen Polaritäten des Realen in ihrer Einheit und Zusammensetzung bestehenden Lebens, die Seele aber vor allem Selbstbewusstsein gestaltend lebe, geistig wie körperlich, dass das Leben ja eben nur ein Selbstbewusstwerden derselben sei, obgleich sie in einem grossen Theile ihrer lebendigen Thätigkeit sich noch stets dem bewussten Willen entziehe, in ihren körperlichen Functionen, wie in ihren geistigen Instincten und Leidenschaften: das sind unumstössliche Thatsachen, die sich der etwas geschärften Beobachtung von selbst ergeben, und zugleich von der höchsten Wichtigkeit, indem sie allein die Wechselwirkung und Bestimmung zwischen Geist und Körper, die ohne sie so unerklärlich scheint, ganz von selbst ergeben. Wenn er sich nun in dem Drange, die unsterbliche Individualität der Person auch dem ungeübteren Verstande recht anschaulich zu machen, verführen lässt durch Analogie, die Vorstellung von dem jenseitigen Leben irgend wie zu veranschaulichen, und dabei die Erscheinung der Ekstase und nervösen Krankheiten, die noch so dunkel und unaufgeklärt sind, mit etwas zu grosser Gläubigkeit zu Grunde legt, so mag er unter den Schwaben eben mehr zum ängstlichen Glauben geneigt worden sein, als sich mit der Klarheit und Gesundheit seines sonstigen Wesens verträgt. Jedenfalls scheint er mir darin (Seite 289) Recht zu haben, dass diese sich häufenden Erscheinungen ernster von der Wissenschaft endlich geprüft werden sollten, doch hat ihn der Eifer zu weit geführt, wie er auch bescheiden in seiner Antwort, auf mein erstes, hierin ihm weitläuftig zu Leibe gehendes Schreiben einzugestehen scheint, wenigstens verspricht er bei einer zu erwartenden zweiten Auflage meine Ansichten zu berücksichtigen. Und doch hätte er sich darin auf einen unstreitig tiefsinnigen Philosophen (Chr. F. Krause, 1780 bis 1832) berufen können; auch ist es natürlich, dass die Philosophen die Erscheinungen der Natur vorzugsweise gern ergreifen, welche Aufklärung über das tiefere seelische Leben zu versprechen scheinen, Hypothesen giebt ja schon Baco als wesentliches Hilfsmittel der Naturforschung an; sie sollen eben das Experiment hervorrufen und peinlich geprüft werden. Hätte Kopernikus nicht die kühne Hypothese gemacht: die Sonne steht und die Erde geht, was wäre unsere Astronomie und unsere Vorstellung von der Natur? Sollten die Philosophen aber warten, bis die Naturforscher in allen ihren Resultaten einig, und das ganze natürliche Leben gründlich und vollständig von ihnen aufgeklärt sei — gesetzt, das wäre ohne Philosophie möglich — so möchten sie wohl in alle Ewigkeit warten müssen.

Aber Selbsterkenntniss ist das, wozu ein göttlicher Instinct den Menschen fortwährend treibt; sie ist nicht möglich ohne Erkenntniss der Natur, und so werden die Naturforscher denn schon zugeben müssen, dass sich die Philosophie ihrer Resultate, mögen sie zu einer bestimmten Zeit noch so dürftig sein, zu bemächtigen sucht, um sie für das höchste Bedürfniss der Seele, welches mit dem Glauben abzuspeisen nur ein Bild der Selbstverzweiflung ist, so gut es geht zu verbrauchen. Und dafür werden einzig die Naturforscher ihr nur dankbar sein können. Denn mag auch die isolirte Naturforschung manchen zufälligen, äusserlich nachzuweisenden Nutzen stiften können, einen wissenschaftlichen Fortschritt, ja selbst eine (Seite 290) sichere und tiefere Einwirkung auf das Leben wird sie nur in der Begleitung der Philosophie gewinnen, da eben die gestaltende Kraft schon der reine Gedanke ist, und das geistige, wie überhaupt jede neu durchbrechende Idee allemal neue Sphären und Aufgaben, bei Beobachtung unter einem neuen Lichte des Gedankens, eröffnet; welche ganz anderen Fragen hat heutzutage der Gelehrte an die Sprachen, die Geschichte, die alten Schriftsteller zu stellen als der frühere, seitdem man die Idee der Sprache, des Alterthums, der Geschichte, der Kunst, der Religion an die Stoffsphären derselben gestellt hat, und wie so untergeordnet erscheint dagegen, was früherer Fleiss geleistet hat, und Ihr wollt Euch mit Eurer materiellen Untersuchung feindlich den Forderungen der Ideen gegenüberstellen und Euch durch sie, wie Ihr meint, in Eurer reinen Objectivität nicht stören lassen ? Das wäre ein Unglück für die Wissenschaft und für das Leben, wenn Ihr in dieser Eurer dicken Sinnlichkeit Euch verhärtetet, wegen zeitweisen Missbrauchs und einiger Verirrung, die das Wesen nicht angehen. So hättest Du immer, wenn auch nicht den historischen, doch den philosophisch-psychologischen Theil durchlesen sollen, und Du würdest manche wichtige und anregende Anfrage an Deine Forschung darin gefunden haben. Wenn aber ein Philosoph wie Schopenhauer, der zu Resultaten kommt wie — „Liebe ist ein erweiterter und vertiefter Egoismus, sie will ihr Ich noch einmal“, „dem Boshaften ist die Bosheit angeboren, wie der Schlange ihr Gift und so wenig, wie sie, kann er es ändern“, „eine Besserung des Characters durch Moral ist nicht möglich, noch giebt es einen stetigen Fortschritt zum Guten“, „das Gewissen besteht in der immer vollständigeren Kenntniss von uns selbst, aus dieser erwächst Zufriedenheit oder Unzufriedenheit mit dem, was wir sind, je nachdem Egoismus, Bosheit oder Mitleid in unseren Thaten vorgewaltet hat“, „Freiheit giebt es nicht, sondern nur Notwendigkeit der Selbstbestimmung. Ich kann thun, (Seite 291) was ich will, heisst nur, ich kann den innerlichen Impuls ausführen, der jenseits des Selbstbewusstseins liegt, wenn ich nicht von aussen daran gehindert werde“ u. s. w. — Euch für einen scharfen Beobachter gilt, der auf den gesunden Standpunkt von Kant zurückführe, so weiss ich nicht, was ich von Euch Rheinländern denken soll. Aufsehen will er endlich in seinem hohen Alter machen (er muss wenigstens nahe der 70 sein), und da er bei den Philosophen so schlechte Aufnahme findet, will er es wenigstens bei dem Zeitungspublicum und den für Sonderlinge so geneigten Engländern erregen. Dass Du des Plagiats von seinem Jünger beschuldigt wirst, darüber habe ich Dir selbst weitläuftig geschrieben.“

Helmholtz erwidert seinem Vater am 4. März pietätvoll und bescheiden:

„Der Gesichtspunkt, von welchem aus Du das Fichte'sche Buch über Anthropologie betrachtest, ist mir sehr interessant, ich habe diese Betrachtungsweise allerdings nicht an das Buch angelegt. Mit den Grundsätzen über das Philosophiren, die Du dabei aussprichst, stimme ich ganz überein, und wenn ich das Buch auch nur als einen etwas gelungenen Versuch betrachten darf, diese Grundsätze durchzuführen, so will ich es mir gelegentlich, wenn ich Zeit finde, wieder vornehmen, und mich nicht durch einzelne Willkürlichkeiten in der Ausführung wieder abschrecken lassen. Wir mathematischen Naturforscher sind zu einer sehr ängstlichen Genauigkeit in der Prüfung der Thatsachen und Schlussfolgen disciplinirt und zwingen uns gegenseitig, unsere Gedankensprünge in den Hypothesen, mit denen wir das noch unerforschte Terrain zu sondiren suchen, sehr kurz und knapp zu machen, so dass wir eine vielleicht zu grosse Furcht vor einer kühneren Benutzung der wissenschaftlichen Thatsachen haben, die bei anderen Gelegenheiten doch berechtigt sein kann.

Es scheint mir aus Deinem Briefe hervorzugehen, als (Seite 292) wenn Du einen gewissen Verdacht hättest, ich könnte ein Anhänger der trivialen Tiraden von Vogt und Moleschott sein. Nicht im Entferntesten. Ich muss auch entschieden dagegen protestiren, dass Du diese beiden Leute als Repräsentanten der Naturforschung betrachtest. Keiner von beiden hat bis jetzt durch wissenschaftliche Specialforschungen erwiesen, dass er die Achtung vor den Facten und die Besonnenheit in den Schlussfolgerungen sich zu eigen gemacht habe, welche durch die Schule der Naturforschung erlangt werden. Ein besonnener Naturforscher weiss sehr wohl, dass er dadurch, dass er etwas tiefer in das verwickelte Treiben der Naturprocesse Einblick gewonnen hat, noch nicht die Spur mehr berechtigt ist, über die Natur der Seele abzusprechen als jeder andere Mensch. Ich glaube deshalb auch nicht, dass Du Recht hast, wenn Du die grössere Zahl der besonnenen Naturforscher als Feinde der Philosophie bezeichnest. Indifferent ist allerdings der grössere Theil geworden, die Schuld davon sehe ich aber allein in den Ausschweifungen von Hegel's und Schelling's Philosophie, welche Leute ihnen allerdings als Repräsentanten aller Philosophie hingestellt wurden. Aber Lotze hat z. B. einen ziemlich ausgebreiteten Kreis von Freunden unter den Naturforschern. Ich selbst freilich kann an dem keinen Gefallen finden. Er ist mir nicht scharf und streng genug. Ich selbst fühle sehr lebhaft das Bedürfniss einer specielleren Durcharbeitung gewisser Fragen, an welche aber, so viel ich weiss, kein neuerer Philosoph sich gemacht hat, und die ganz auf dem von Kant in seinen Umrissen erforschten Felde der a priorischen Begriffe liegen, so z. B. die Ableitung der geometrischen und mechanischen Grundsätze, der Grund, warum wir das Reale in zwei Abstractionen, Materie und Kraft, logisch auflösen müssen u. s. w., dann wieder die Gesetze der unbewussten Analogieschlüsse, durch welche wir von den sinnlichen Empfindungen zu den sinnlichen Wahrnehmungen gelangen (Seite 293) und anderes. Ich sehe sehr wohl ein, dass dergleichen nur durch philosophische Untersuchungen gelöst werden kann, und wirklich durch solche lösbar ist, und fühle deshalb das Bedürfniss weitergehender philosophischer Erkenntniss. Schopenhauer gebe ich Dir ganz Preis; was ich selbst bisher von ihm gelesen habe, hat mir gründlich missfallen. Du hattest übrigens in Deinem letzten Briefe nichts über mein angebliches Plagiat an ihn erwähnt, sondern in einem früheren Briefe aus dem September, und da ich in mehreren Briefen an Andere und von Anderen die Sache selbst erwähnt und erwähnt gefunden hatte, so war ich nicht sicher, ob sie zwischen uns Beiden zur Sprache gekommen sei.“

  Fortsetzung des Kapitels


S. 279 - 293 aus:
Koenigsberger, Leo: Hermann von Helmholtz. - Braunschweig : Vieweg
Band 1. - 1902


Letzte Änderung: 24.05.2014     Gabriele Dörflinger   Kontakt

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