Leo Koenigsberger: Hermann von Helmholtz

Helmholtz als Präsident der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt
von Ostern 1888 bis zum 8. September 1894


Anfang des Kapitels

Berlin 1890/1891

Am 9. März 1890 richtet Helmholtz an den Staatsminister Bötticher nachfolgendes Schreiben:
(Seite 27) „Ew. Excellenz erlaube ich mir das gehorsamste Gesuch vorzutragen, mir vom 20. März bis 23. April Urlaub zu einer Reise an die Riviera ertheilen zu wollen. Ich befolge bei dieser Reise allerdings auch private Zwecke, nämlich die Zurückbegleitung meiner Frau, Tochter und Enkel, die dort den Winter zugebracht haben. Aber die fünfwöchentliche Dauer des erbetenen Urlaubs ist dadurch bedingt, dass ich die Gelegenheit benutzen möchte zur Anstellung einiger wissenschaftlichen Beobachtungen über das Verhalten der Meereswogen, die mir zur Prüfung der Richtigkeit einiger neuer theoretisch gefundener Sätze über die Wechselwirkung zwischen Wind und Wogen wünschenswerth erscheinen. Ich habe einen Theil derselben, welche bemerkenswerthe Folgerungen für die Meteorologie ergeben, schon unter dem 25. Juli v. J. der Akademie der Wissenschaften zu Berlin mitgetheilt. Dass dieselben auch für die Theorie der Nautik nützliche Ergebnisse haben werden, erscheint wahrscheinlich. Ich bedarf aber nun einiger orientirender Beobachtungen, um meine theoretischen Sätze an den thatsächlichen Verhältnissen zu prüfen oder wenigstens zu ermitteln, welche Beobachtungen darüber an Küstenstationen augestellt werden könnten, um die betreffenden Fragen zu entscheiden. Ich glaube die genannten Beobachtungen am besten an einer steilen Küste machen zu können, die einen weiten Ueberblick über die Wogenzüge eines tieferen Meeres erlaubt. Da ich hierbei von der Gunst der Witterung abhänge, durfte ich die Zeit nicht zu knapp bemessen. …“

Nach bereitwilligst ertheiltem Urlaub ging er im April an das Cap d'Antibes und legte die Resultate seiner theoretischen Ueberlegungen und Vergleichungen mit den Beobachtungen der Berliner Akademie am 17. Juli 1890 unter dem Titel „Die Energie der Wogen und des Windes“ als eine Fortsetzung und Ergänzung seiner beiden früheren Arbeiten über atmosphärische Bewegungen vor.

(Seite 28) Helmholtz hatte in seinen früheren Untersuchungen gezeigt, dass eine ebene Wasserfläche, über die ein gleichmässiger Wind hinfährt, sich in einem Zustande labilen Gleichgewichts befindet, und dass die Entstehung der Wasserwogen wesentlich diesem Umstande zuzuschreiben ist; dass ferner der gleiche Vorgang sich auch an der Grenze verschieden schwerer und an einander entlang gleitender Luftschichten wiederholen muss, hier aber viel grössere Dimensionen annimmt und bei den unregelmässig eintretenden meteorologischen Erscheinungen eine wesentlich ursächliche Bedeutung hat. Dies bestimmt ihn nun, in der Arbeit über die Energie der Wogen und des Windes die Verhältnisse der Energie und ihre Vertheilung zwischen Luft und Wasser noch genauer zu untersuchen, jedoch mit Beibehaltung der Beschränkung auf stationäre Wellen, bei denen die Bewegungen der Wassertheilchen nur parallel einer senkrechten Ebene vor sich gehen. Er führte die Gesetze der stationären geradlinigen Wellen auf ein Minimalproblem zurück, in welchem die potentielle und actuelle Energie der bewegten Flüssigkeiten die zu variirenden Grössen bilden, und konnte Folgerungen über das Abnehmen und Zunehmen der Energie und die Unterschiede stabilen und labilen Gleichgewichts der Wasserfläche herleiten. Es handelt sich hierbei um den Unterschied dieses Gleichgewichtszustandes nicht mehr von ruhenden, sondern von dauernd, aber stationär bewegten Massen.

Ein allgemeines Princip, wie es für ruhende Körper in der Forderung gegeben ist, dass das stabile Gleichgewicht ein Minimum der potentiellen Energie verlangt, war für bewegte Systeme bis dahin nicht aufgestellt worden. Helmholtz findet für stationäre Wellen bei constant bleibenden Strömungsmengen den Minimalsatz in der Form, dass die Variation der Differenz der potentiellen Energie und der lebendigen Kraft verschwindet, so dass stabiles Gleichgewicht einer stationären Wellenform bei allen möglichen Variationen (Seite 29) einer solchen Form einem Minimum jener Differenz entspricht. Wenn dagegen dieselbe Grösse bei einer anderen Curvengestalt zu einem Maximum oder Sattelwerthe wird, so ist die Bedingung der Gleichheit des Druckes beiderseits der Grenzfläche allerdings augenblicklich erfüllt, aber alle kleinsten Störungen der Gleichgewichtsgestalt werden anwachsen müssen, und das Gleichgewicht wird labil werden, was sich bei wirklichen Wasserwellen im Schäumen und Branden der Wellenkämme zu erkennen giebt. Bei Vergrösserung der Windstärke und der Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Wellen gegen das Wasser wird schliesslich das absolute Minimum zu existiren aufhören, und das Gleichgewicht labil werden, so dass bei steigenden Strömungen stationäre Wellen gegebener Wellenlänge unmöglich werden. Es sind somit stationäre Wellen von vorgeschriebener Wellenlänge nur für Strömungsgeschwindigkeiten möglich, die unterhalb gewisser Grenzen liegen, aber das Gebiet der Werthe ist auch in der Richtung der kleineren Werthe hin beschränkt. Die eine Strömungsgeschwindigkeit bestimmt die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Wellen gegen das Wasser, die andere die Geschwindigkeit des Windes relativ zu den Wellen. Durch Anwendung der gefundenen analytischen Ausdrücke ergiebt sich mit der Erfahrung übereinstimmend, dass gleichbleibend starker Wind, der eine ruhige Wasserfläche trifft, schneller laufende, d. h. längere oder höhere Wellen erzeugen kann, wenn er längere Zeit auf die erst entstandenen Wellen gewirkt und diese auf einem längeren Wege über die Wasserfläche begleitet hat; die Wellen können unter gleichbleibendem Winde nur wachsen, wenn der Wind schneller in derselben Richtung vorwärts geht, als sie selbst. Durch Beobachtungen, die er auf dem Cap d'Antibes im April mittelst eines kleinen tragbaren Anemometers zur Messung der Windstärke anstellte, fand er im Allgemeinen eine Bestätigung des aus der Theorie hergeleiteten Satzes, dass, (Seite 30) so lange der Wind den Wellen noch voreilt, er den Energievorrath und das Bewegungsmoment der Wellen weiter steigert; so lange noch die für ruhende Wellen berechnete Energie abnehmen und ein noch tieferes Minimum bilden kann, wird auch die Neigung mitwirken, unter der Einwirkung aller der kleinen Störungen, welche die mitlaufenden anderen Wellen in den Fällen der Wirklichkeit erzeugen, der Form geringster Energie zuzustreben. Diese wird endlich an den Sattelwerth und zum Zerschäumen der Oberkante führen, falls dies bei der gegebenen Windgeschwindigkeit erreicht werden kann.

600jähriges Stiftungsfest der Universität von Montpellier

Am 7. Mai 1890 wählte der Senat der Universität Berlin Helmholtz einstimmig zu seinem Vertreter bei der Feier des 600jährigen Stiftungsfestes der Universität von Montpellier, obgleich dieser darauf aufmerksam machte, dass er keine unbedingte Annahme dieses Mandats aussprechen könne, da er dazu noch die Genehmigung des Staatsminister von Bötticher brauche; sein Vorschlag auf Wahl eines Anderen oder gleichzeitige Bezeichnung eines eventuellen Stellvertreters wurde vom Senat abgelehnt. Nachdem er den nachgesuchten Urlaub erhalten, reiste er in der Mitte des Mai nach Montpellier und erstattet später dem Minister auf dessen Aufforderung eingehenden Bericht über die gewonnenen Eindrücke. Ueber die Worte, mit denen er auf den bei dem Festmahl auf ihn ausgebrachten Toast erwiderte, berichtet er selbst:
„Indem ich in meiner Antwort zunächst dafür dankte, dass man meiner doch schon 20 Jahre zurückliegenden physiologischen Arbeiten noch so anerkennend gedenke, sei mir diese Anerkennung hier in Montpellier um so ehrenvoller, als ursprünglich die hiesige Schule der letzte und stärkste Halt der conservativen Partei in der Medicin gewesen sei und sie die junge physiologische Schule J. Müller's in Berlin, der ich selbst angehörte, für die radicalste Linke habe ansehen müssen. Das heutige Fest zeige mir, wie (Seite 31) sehr die theoretischen Gegensätze auf beiden Seiten unter dem Einfluss der richtigen naturwissenschaftlichen Methode verschwunden seien. Diese einigende Kraft der Wissenschaft aber habe viel allgemeinere und umfassendere Bedeutung. Keiner von uns könne wissenschaftlich arbeiten und irgend ein werthvolles Ergebniss erreichen, ohne dass der Vortheil davon nicht bloss seiner Nation, sondern bald auch der ganzen civilisirten Menschheit zufliesse. Die sämmtlichen Nationen, die an der Arbeit der Wissenschaft Theil nehmen, hätten ein gemeinsames Arbeitsfeld und unterstützten sich nothwendig gegenseitig. Diese Erkenntniss werde am Ende doch durchdringen und ein befreundetes Verhältniss darstellen müssen.“ Riesiger Beifallssturm. „Ich hatte den Eindruck, dass ich die innersten Empfindungen der Zuhörer besser getroffen hatte, als ich selbst geahnt. … Ich schloss dann mit dem Hinweis, dass die Medicin es namentlich sei, die diesen friedenstiftenden Beruf der Wissenschaft schon längst ausübe und vor die Augen der Welt bringe, selbst in den Augenblicken hocherregter Leidenschaft im Kriege, und schloss mit einem Hoch auf die einigende Kraft der Wissenschaft.“

Denkschrift der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt

Die Arbeiten an der Reichsanstalt nehmen nun Helmholtz in hohem Grade in Anspruch; am 13. December 1890 gab er eine „Denkschrift über die bisherige Thätigkeit der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt“ heraus, die, zur Kenntnissnahme durch den Reichstag bestimmt, Zeugniss davon ablegt, mit welchem Eifer und welcher Thatkraft er auch in dieser Stellung allen Anforderungen zu genügen vermochte. Die physikalische Abtheilung der Denkschrift umfasst thermometrische Fundamentalarbeiten, Capillarabweichungen, barometrische Untersuchungen, Ausdehnungsbestimmungen und grundlegende elektrische Arbeiten; die technische Abtheilung beschäftigte sich mit der Prüfung ärztlicher Thermometer, deren nahezu 25000 in den drei Jahren des Bestehens der Reichsanstalt von dieser untersucht (Seite 32) und gestempelt worden waren, Thermometer für wissenschaftliche Arbeiten, auf Herstellung einer unveränderlichen Einheit gerichteten photometrischen Arbeiten, Erzeugung von Normal-Stimmgabeln und einer endlosen Reihe anderer technischer Aufgaben.

„Bedarf es mehr“, sagt du Bois, „um das Irrthümliche der Meinung ins Licht zu stellen, dass er durch die ruhige und gleichmässige Natur seiner Berufsarbeiten in seiner productiven Thätigkeit begünstigt gewesen sei?“

Zu gleicher Zeit betheiligte er sich als Mitglied der von dem preussischen Unterrichtsminister einberufenen Commission an den Verhandlungen über Fragen des höheren Unterrichts, und im folgenden Jahre wurden seine „Bemerkungen über die Vorbildung zum akademischen Studium“ veröffentlicht. Als ich ihn schon im October 1888 auf Wunsch eines Collegen anfragte, ob er die damals in Gelehrtenkreisen circulirende Erklärung zu Gunsten der Gymnasien unterschreiben wolle, antwortete er mir:

„Ich beabsichtige die Erklärung nicht zu unterschreiben. Erstens liebe ich überhaupt nicht solche öffentliche Erklärungen von Privatleuten, die, soweit ich gesehen, immer vollkommen fruchtlos verlaufen, zweitens glaube ich allerdings, dass unsere Gymnasien sich in eine falsche Richtung verlaufen haben, wenn ich auch das Griechische in unseren Schulen ersten Ranges nicht gestrichen zu sehen wünsche. Aber ich finde mich nicht veranlasst, durch eine freiwillig und spontan abgegebene Erklärung, ohne berufsmässige Veranlassung für die jetzige Richtung der Gymnasial-Philologie in die Schranken zu treten, ohne dabei gleichzeitig zu sagen, was ich gegen sie auf dem Herzen habe.“

[Vgl. auch Leo Koenigsberger: Mein Leben, 1919, S. 190-191.]

Er kennzeichnet seinen Standpunkt in diesen Fragen, übereinstimmend mit den in seiner Heidelberger Rectoratsrede vertretenen Anschauungen, mit den schönen, für den grossen Forscher charakteristischen Worten:

Bemerkungen über die Vorbildung zuzm akademischen Studium

„Der bisherige Bildungsgang der civilisirten Nationen (Seite 33) hat seinen Mittelpunkt im Studium der Sprache gehabt. Die Sprache ist das grosse Werkzeug, durch dessen Besitz sich der Mensch von den Thieren am Wesentlichsten unterscheidet, durch dessen Gebrauch es ihm möglich wird, die Erfahrungen und Kenntnisse der gleichzeitig lebenden Individuen, wie die der vergangenen Generationen, jedem Einzelnen zur Verfügung zu stellen, ohne welches ein Jeder, wie das Thier, auf seinen Instinct und seine eigene einzelne Erfahrung beschränkt bleiben würde. Dass Ausbildung der Sprache einst die erste und notwendigste Arbeit der heranwachsenden Volksstämme war, so wie noch jetzt die möglichst verfeinerte Ausbildung ihres Verständnisses und ihres Gebrauchs die Hauptaufgabe der Erziehung jedes einzelnen Individuums ist und immer bleiben wird, versteht sich von selbst. Ganz besonders eng knüpft sich die Cultur der modernen europäischen Nationen geschichtlich an das Studium der classischen Überlieferungen, und dadurch unmittelbar an das Sprachstudium an. Mit dem Sprachstudium hing zusammen das Studium der Denkformen, die sich in der Sprache ausprägen. Logik und Grammatik, das heisst nach der ursprünglichen Bedeutung dieser Worte, die Kunst zu sprechen und die Kunst zu schreiben, beide im höchsten Sinne genommen, waren daher die natürlichen Angelpunkte der bisherigen geistigen Bildung.

Wenn nun auch die Sprache das Mittel ist, die einmal erkannte Wahrheit zu überliefern und zu bewahren, so dürfen wir doch nicht vergessen, dass ihr Studium Nichts davon lehrt, wie neue Wahrheit zu finden sei. Dem entsprechend zeigt die Logik wohl, wie aus dem allgemeinen Satze, der den Major eines Schlusses bildet, Folgerungen zu ziehen seien; wo aber ein solcher Satz herkomme, darüber weiss sie nichts zu berichten. Wer sich von seiner Wahrheit selbständig überzeugen will, der muss umgekehrt mit der Kenntniss der Einzelfälle beginnen, die unter das Gesetz gehören, und die später, wenn dieses festgestellt ist, freilich (Seite 34) auch als Folgerungen aus dem Gesetze aufgefasst werden können. Nur wenn die Kenntniss des Gesetzes eine überlieferte ist, geht sie wirklich der der Kenntniss der Folgerungen voraus, und in solchem Falle gewinnen dann die Vorschriften der alten formalen Logik ihre unverkennbare praktische Bedeutung.

Alle diese Studien führen uns also nicht selbst an die eigentliche Quelle des Wissens, stellen uns nicht der Wirklichkeit gegenüber, von der wir zu wissen verlangen. Es liegt sogar eine unverkennbare Gefahr darin, dass dem Einzelnen vorzugsweise solches Wissen überliefert wird, von dessen Ursprung er keine eigene Anschauung hat. Die vergleichende Mythologie und die Kritik der metaphysischen Systeme wissen viel davon zu erzählen, wie bildlicher Wortausdruck später in eigentlicher Bedeutung genommen und als uranfängliche geheimnissvolle Weisheit gepriesen worden ist.

Also bei aller Anerkennung der hohen Bedeutung, welche die fein durchgearbeitete Kunst, das erworbene Wissen Anderen zu überliefern, und wiederum von Anderen solche Ueberlieferung zu empfangen, für die geistige Entwickelung des Menschengeschlechts hat, und bei aller Anerkennung der Wichtigkeit, welche der Inhalt der classischen Schriften für die Ausbildung des sittlichen und ästhetischen Gefühls, für die Entwickelung einer anschaulichen Kenntniss menschlicher Empfindungen, Vorstellungskreise, Culturzustände hat, müssen wir doch hervorheben, dass ein wichtiges Moment dem ausschliesslich literarisch-logischen Bildungswege abgeht. Dies ist die methodische Schulung derjenigen Thätigkeit„ durch welche wir das ungeordnete, vom wilden Zufall scheinbar mehr als von Vernunft beherrschte Material, das in der wirklichen Welt uns entgegentritt, dem ordnenden Begriffe unterwerfen und dadurch auch zum sprachlichen Ausdrucke fähig machen. Eine solche Kunst der Beobachtung und des Versuchs finden wir bis jetzt fast nur in den (Seite 35) Naturwissenschaften methodisch entwickelt; die Hoffnung, dass auch die Psychologie der Individuen und der Völker, nehst den auf sie zu basirenden praktischen Wissenschaften der Erziehung, der gesellschaftlichen und staatlichen Ordnung zum gleichen Ziele gelangen werde, scheint sich vorläufig nur auf eine ferne Zukunft richten zu dürfen.

Diese neue Aufgabe, von der naturwissenschaftlichen Forschung auf neuen Wegen verfolgt, hat schnell genug neue, in ihrer Art unerhörte Erfolge gehabt, ein Beweis dafür, welcher Leistungen das menschliche Denken fähig ist, wo dasselbe den ganzen Weg von den Thatsachen bis zur vollendeten Kenntniss des Gesetzes unter günstigen Bedingungen, seiner selbst bewusst und selbst alles prüfend zurücklegen kann. Die einfacheren Verhältnisse, namentlich der unorganischen Natur, erlauben eine so eindringende und genaue Kenntniss ihrer Gesetze zu erlangen, eine so weit reichende Deduction der aus diesen fliessenden Folgerungen auszuführen, und diese wiederum durch so genaue Vergleichung mit der Wirklichkeit zu prüfen und zu bewahrheiten, dass mit der systematischen Entfaltung solcher Begriffsbildungen (z. B. mit der Herleitung der astronomischen Erscheinungen aus dem Gesetze der Gravitation) kaum ein anderes menschliches Gedankengebäude in Bezug auf Folgerichtigkeit, Sicherheit, Genauigkeit und Fruchtbarkeit zugleich möchte verglichen werden können.

Ich erinnere an diese Verhältnisse hier nur, um hervorzuheben, in welchem Sinne die Naturwissenschaften ein neues und wesentliches Element der menschlichen Bildung von unzerstörbarer Bedeutung auch für alle weitere Entwickelung derselben in der Zukunft sind, und dass eine volle Bildung des einzelnen Menschen, wie der Nationen, nicht mehr ohne eine Vereinigung der bisherigen literarisch-logischen und der neuen naturwissenschaftlichen Richtung möglich sein wird.

Nun ist die Mehrzahl der Gebildeten bisher nur auf (Seite 36) dem alten Wege unterrichtet worden und ist fast gar nicht in Berührung mit der naturwissenschaftlichen Gedankenarbeit gekommen, höchstens ein wenig mit der Mathematik. Männer von diesem Bildungsgange sind es vorzugsweise, die unsere Staaten lenken, unsere Kinder erziehen, Ehrfurcht vor der sittlichen Ordnung aufrecht halten, und die Schätze des Wissens und der Weisheit unserer Vorfahren aufbewahren. Dieselben sind es nun auch, welche die Aenderungen im Gange der Bildung der neu aufwachsenden Generationen organisiren müssen, wo solche Aenderungen nöthig sind. Sie müssen dazu ermuthigt oder gedrängt werden durch die öffentliche Meinung der urtheilsfähigen Classen des ganzen Volkes, der Männer wie der Frauen.“

Trotz all der ihm obliegenden Beschäftigungen arbeitete er an seinen schwierigen mathematisch-mechanischen Problemen weiter, veröffentlichte jedoch in dem folgenden Jahre nur einige Ergänzungen zu seinen früheren optischen Untersuchungen.

Physiologische OPtik

Die Herausgabe der neuen Auflage seiner physiologischen Optik hatte ihn zu einigen höchst interessanten Arbeiten geführt, von denen die erste unter dem Titel „Versuch einer erweiterten Anwendung des Fechner'schen Gesetzes im Farbensystem“ im Jahre 1891 in der Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane erschien. Er geht von der Ueberlegung aus, dass die Gesammtheit der von unserem Auge empfundenen Farben eine dreifache Mannigfaltigkeit sei gerade so wie der Ort im Raume, und dass darauf das Newton'sche Mischungsgesetz der Farben beruht, indem wir die der Anschauung weniger zugänglichen Verhältnisse der Farben auf Zusammenfügung von geometrischen Strecken und Schwerpunktsconstructionen übertragen. Wie man nun im Raume zur Bestimmung eines Ortes die verschiedenartigsten messbaren Raumgrössen benutzen kann, so kann man auch sehr verschiedenartige Grössen benutzen, um eine Farbe zu definiren. Zum Zwecke (Seite 37) einer directen Ausmessung des Gebietes der Empfindungen hat Fechner sich auf die Aenderung der Lichtstärken bei ungeänderter Mischung des Lichtes beschränkt, während noch Untersuchungen hinzutreten müssen über die Grösse der unterscheidbaren Abstufungen in den Farbentönen und in der Sättigung der Farben ohne oder auch mit gleichzeitiger Aenderung der Helligkeit, sowie über die Abhängigkeit dieser Abstufungen von den physikalisch definirbaren Veränderungen des erregenden Lichtes. Helmholtz bezeichnet seine Mittheilungen selbst als Hypothesen, die erst genauer geprüft werden müssen, glaubt jedoch, dass ein solcher Versuch gemacht werden muss, um die erste Orientirung in einem neuen Gebiete zu gewinnen.

Wenn man zwei etwas verschieden gefärbte Lichter ihrer Helligkeit nach mit einander vergleicht, so gelangt man bei allmählicher Veränderung der Lichtstärke des einen von ihnen zu einer Einstellung , bei welcher der wahrnehmbare Farbenunterschied ein Minimum der Deutlichkeit erreicht; das Verhältniss der Lichtstärken, welches dieser Einstellung entspricht, wird dann als das Verhältniss gleicher Helligkeit betrachtet. Helmholtz stellt sich nun .die Aufgabe, diese Einstellung auf das Minimum der Erkennbarkeit des Unterschiedes bei einer Reihe von Mischfarben, die aus denselben Farbenelementen durch Mischung auf der Farbenscheibe erhalten werden, durchzuführen. Er fand zunächst, dass die Wirkung eines Zusatzes einer Farbe auf die Helligkeit; wesentlich durch den schon vorhandenen Vorrath dieser selben Farbe in der Mischung geschwächt wird; es folgt aus den Versuchen, dass, wenn wir von einer sehr gesättigten Farbe ausgehend, eine Reihe gleich heller gemischter Farben suchen, indem wir immer nur zwei sehr nahe Glieder der Reihe mit einander vergleichen, das gesammte Quantum des gemischten Lichtes in der Reihe solcher Farben nicht unverändert bleiben kann; von möglichst gesättigtem Roth anfangend, (Seite 38) werden wir also durch Wegnahme eines kleinen Quantums Roth die Helligkeit viel weniger schwächen, als wir durch den Zusatz eines gleichen Quantums Blau sie verstärken. Die so vollzogene Vergleichung zweier nahehin gleicher, sehr gesättigter Farben unterscheidet sich wesentlich von dem Falle, wo die Helligkeit zweier sehr verschieden gefärbter Felder verglichen wird. Eine grosse Reihe von Versuchen führte zunächst zu dem Ergebniss, dass durch das gleichzeitige Vorhandensein einer zweiten stark abweichenden Farbe im Felde die Erkennbarkeit kleiner Abstufungen der Intensität farbigen Lichtes viel weniger beeinträchtigt wird, als durch das Vorhandensein eines gleich hellen Quantums derselben Farbe. Die weitere durch scharfsinnige mathematische Ueberlegungen unterstützte Untersuchung beschäftigt sich mit der Frage, ob man das Fechner'sche Gesetz den Erscheinungen gegenüber überall in dem Sinne durchführen könne, dass man die Grösse der Empfindungsstufe für jede Grundfarbe nur von der Menge der vorhandenen gleichartigen Farbe abhängig annimmt, sie dagegen als unabhängig betrachtet von den Mengen der gleichzeitig das Feld deckenden anderen Grundfarben.

Die Philosophie ist kein mathematischer Lehrsatz, sagte Fechner, der entweder wahr oder falsch sein müsse; von diesem Standpunkte aus muss man auch sein psychophysisches Gesetz betrachten, wenn er es den Uebergang von der äusseren in die innere Psychophysik vermitteln lässt; aber das Gesetz, auf die Erscheinungen der Optik angewandt, ist ein leitendes Princip in diesem Zweige der Physik geworden und auch von Helmholtz in seiner scharfen Umgrenzung stets angenommen worden.

„In der einfachen arithmetischen Reihe l, 2, 3, … “, sagt Wundt in seiner ausgezeichneten Rede zum Gedächtniss von Fechner, „sah dieser zunächst ein anschauliches Bild für die intensiven, dem einfachen Fortschritt der (Seite 39) mathematischen Reihe parallel gehenden Aenderungen des Psychischen, und für die extensive, den grösseren Stufen der geometrischen entsprechende Mannigfaltigkeit des Physischen.“ Plötzlich eines Morgens am 20. October 1850 — in dem Jahre, in welchem Helmholtz seine Forschungen über die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Nervenreizung veröffentlichte — erwachte in ihm die Idee, es möge wohl einem gleichen verhältnissmässigen Zuwachs an lebendiger Kraft körperlicher Bewegung ein gleicher absoluter Zuwachs geistiger Intensität entsprechen. So entstand die erste Aufstellung des sogenannten psychophysischen Grundgesetzes in der Form der logarithmischen Function, wie sie im Anschluss an jene Reihenbetrachtungen der zweite Band des Zendavesta als „Kurze Darlegung eines neuen Princips mathematischer Psychologie“ enthält. Fechner erörtert das Verhältniss der physischen Reizbewegung zu denjenigen Bewegungsvorgängen im Innern des Nervensystems, die der Empfindung unmittelbar parallel gehen, und für die er den Ausdruck psychophysische Bewegungen einführt. Er betrachtet es als erwiesen, dass das E. H. Weber'sche Gesetz, welches zuerst eine Gesetzmässigkeit zwischen Reiz und Empfindung festzustellen suchte, nicht der Ausdruck einer Beziehung zwischen der äusseren physischen Bewegung und der psychophysischen Bewegung, sondern vielmehr der Beziehung zwischen psychophysischer Bewegung und Empfindung ist. Und auf diesen Standpunkt hatte sich auch Helmholtz gestellt.

Die Erweiterung der Form des psychophysischen Gesetzes auf Mannigfaltigkeiten von mehr als einer Dimension hatten ihn, während das Fechner'sche Gesetz nur Aenderung in der Lichtstärke bei ungeänderter Mischung des Lichtes in Frage zog, auf die messende Bestimmung der Art einer Farbenempfindung bei dichromatischen Augen durch zwei unabhängige Variable, bei trichromatischen Augen durch drei Variable geführt. Helmholtz geht in (Seite 40) den beiden Arbeiten, von denen die eine unter dem Titel: „Versuch, das psychophysische Gesetz auf die Farbenunterschiede trichromatischer Augen anzuwenden“, in der Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane veröffentlicht, die andere: „Kürzeste Linien im Farbensystem“ am 17. December 1891 der Akademie vorgelegt wurde, auf seine und Riemann's Ergebnisse wieder zurück, nach welchen sich alle Eigenschaften der besonderen Art unseres Raumes daraus ableiten lassen, dass man den Werth der Entfernung zweier benachbarter Punkte durch die zugehörigen Incremente der Coordinaten ausdrücken kann, und somit von der Entfernung zweier Punkte eines festen Körpers verlangt, dass sie durch die Lage ihrer Endpunkte vollkommen gegeben sei und gleich bleibe bei allen möglichen Verschiebungen und Wendungen des festen Körpers. Indem er davon ausgeht, dass jede besondere Farbe sich herstellen lässt durch die Vereinigung der entsprechend abgemessenen Quanta dreier passend gewählter Grundfarben, welche die Stelle der Coordinaten vertreten, findet er in der Deutlichkeit der Unterscheidung zwischen zwei nahe stehenden Farben eine der Entfernung für Punkte des Raumes analoge Grösse und stellt einen analytisch sehr einfach zusammengesetzten Ausdruck auf, von dem er hofft, dass er für den Bereich der Farbenempfindungen dieselbe Rolle spielen wird, wie die Formel für die Länge des Linienelements in der Geometrie. Dieser Ausdruck lässt den Grad der Deutlichkeit im Unterschiede zweier Farben erkennen, die sich gleichzeitig in den Grundfarben, welche in ihre Zusammensetzung eingehen, von einander unterscheiden und also in Helligkeit und Qualität verschieden sind. Analog der kürzesten Linie zwischen zwei Punkten im Raume definirt er als kürzeste Farbenreihen diejenigen Reihen von Uebergangsfarben zwischen zwei gegebenen Endfarben von verschiedener Qualität und Quantität, für welche die Summe der wahrnehmbaren Unterschiede ein Minimum ist.

(Seite 41) Und nun benutzt er diese Ergebnisse, um die Lösung einer wichtigen, aber äusserst schwierigen Frage anzubahnen. Das Newton'sche Farbenmischungsgesetz erlaubte zwar, die ganze Mannigfaltigkeit der möglichen Farbenempfindungen auf drei neben einander bestehende Erregungsweisen des Sehnervenapparates zurückzuführen, liess es aber unbestimmt, welche Farbenempfindungen diesen drei elementaren Erregungen entsprechen; Helmholtz greift nun wieder die Frage der Feststellung der wirklichen drei physiologisch einfachen Farbenempfindungen an. Die Untersuchung ergab mit einiger Wahrscheinlichkeit für die drei Grundfarben das folgende Resultat: Das spectrale Roth würde eine weissliche, ein wenig gelbliche Modifikation der einen Grundfarbe, diese also etwa ein höchst gesättigtes Carminroth darstellen; das spectrale Violett würde eine weissröthliche Abänderung der dritten Grundfarbe, diese also etwa mit dem Ultramarinblau im Farbenton zu vergleichen sein, während die zweite Grundfarbe etwa dem Grün der Vegetation entspricht. Mit diesen Ergebnissen würde die auch von Helmholtz früher gemachte Annahme in Widerspruch treten, wonach bei den Dichromaten einfach eine der Grunderregungen des trichromatischen Auges nicht zu Stande kommt. Helmholtz lässt nunmehr, wie er schon früher Lord Rayleigh mitgetheilt hatte, diese Annahme fallen und geht von der Voraussetzung aus, dass farbige Lichter, die den normalen Trichromaten gleich aussehen, es auch für die Dichromaten thun. Wenn nun Newton's Mischungsgesetz auch für die Farben des dichromatischen Systems anwendbar ist, so ergiebt sich, wenn man jede Ebene, deren rechtwinkelige Coordinaten die Werthe der Grundfarben des trichromatischen Systems darstellen, als Farbentafel gelten lässt, dass alle in einem dichromatischen Farbensystem gleichfarbigen Ebenen durch eine gemeinsame Schnittlinie gehen; ferner folgt, dass in der nach Newton construirten Farbentafel sich alle gleichfarbigen Linien eines (Seite 42) dichromatischen Systems in einem Punkte ausserhalb oder an der Grenze des trichromatischen Farbendreiecks schneiden. Er schliesst die Untersuchung mit einer Vergleichung der Empfindlichkeit für Helligkeitsunterschiede und der für Farbenunterschiede.

  Fortsetzung des Kapitels


S. 26 - 42 aus:
Koenigsberger, Leo: Hermann von Helmholtz. - Braunschweig : Vieweg
Band 3. - 1903


Letzte Änderung: 24.05.2014     Gabriele Dörflinger   Kontakt

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