„Thorwood, Dobbes Ferry N. Y., 19. August 1893.
Wenn ich's nicht wüsste, dass wir es sind, die hier in einem idealen Gemache sitzend auf eine milde englische Parklandsehaft blickten hinab zum seebreiten Hudson, wo weisse Dampfer wie Schwäne hin und her ziehen, und herrliche Bäume, vor diesem schönen Hause einen nicht englischen, sondern gelben Lawn sloping downwards, Kolibris, positive Kolibris darüber hinhuschend und ebenso grosse Schmetterlinge, — dass ich wahre Wasserorgien hier gefeiert habe in kalten und warmen Bädern, dass wir gestern früh 5 Uhr auf dem Schiffe packten, frühstückten, ohne Lorbeerkränze (Seite 82) und weisse Jungfrauen oder sonstigen geziemenden Empfang ans Land gingen, zwei Stunden mit Koffern u. s. w. zu thun hatten — ich glaubte es nicht! Knapp kam mit Diener und Kutscher, und Clara Groß war da und Dr. Pringsheim mit Rosen und ein allgemeines bustle und Abschiednehmen, und dann fuhren wir in einer Art Tunneldampfer über einen Meerarm und durch halb New York vom Garstigen ins Schöne hinein — bis zur fünften Avenue u. s. w., schliesslich zu Knapp und in dessen schönes, furchtbar bequemes Haus, ganz still gelegen, als wäre man in Carlton Gardens und dicht neben allem zum Verkehr Notlügen. Wir kriegten Thee, dann kamen Villard's, und wir mussten versprechen, hier zu schlafen, ganz gegen unsere Absicht. Er sah schlecht aus, sie warm und reizend wie immer — dann Miss Knapp aus Longbranch ankommend mit jüngerer Schwester — dann wir ohne Sachen, denn die Koffer waren noch nicht da, mit Dr. Knapp zum Banquier, — zum Lloydhof auf einen 15 Etagen hohen Thurm des World hinauf, „ein Zeitungspalast, geleitet von einem der Chefs“, und ganz New York aus der Vogelperspective betrachtend per Eillift hinauf, die Druckereien sehend; dann in die Augenklinik, ein Privatpalais, 46th Street, wo wir herrlich lunchten unter der Leitung der Hausdame — dann nach Hause mit einigen elektrischen Bahnen…
Chicago, 22. August 1893.
So weit kam ich neulich in Dobbes Ferry, dann mussten wir weg, zwei Stunden spazieren fahren von Villa zu Villa; des alten Washington Irvings kleine Cottage war das Reizendste, zurück nach Hause, etwas Shopping, Taschepacken, aufs Schiff nach Newport fahren, auf dem Schiff schlafen, ich wieder seekrank.
Newport, ein Seebad mit herrlichster Villencolonie, halb Cannes, halb englisch, aber ein Cliffroad, zwischen diesen Schlössern, Lawns und dem Ocean, furchtbar elegant — (Seite 83) Coaches parade — Polospiel — 5 o' cl. tea — Oceanhotel, scheussliche schwarze Negerbedienung — Nachts fort, abermals auf Dampfer schlafend! Dann zu Knapp's, packen, Sonntag um 3 Uhr auf Expresszug steigend hierher. Im Car schlafen, minder schön. Papa aber sehr zufrieden, zugedecktes, appetitlich servirtes Essen, alles scheusslich gekocht. Ich lebe von Obst und schlechtem Thee.
Hier gestern, Montag 10 Uhr früh ankommend mit Knapp's von Dr. Meysenburg, Alexander und Carl Siemens empfangen — de force Knapp's und dem Hotel abspenstig gemacht, hierher geführt, in ein wunderschönes Haus, wo ich als einzige Dame regiere. Papa im Congress abgeliefert. Ich mit Meysenburg umhergefahren, endlose Stadt, tolle Contraste. Herrliche Villenviertel, scheussliche innere Stadt. Ausstellung von aussen gesehen — herrlich. Einen Wald von weissen Palästen auf leise gehenden elektrischen Booten von Lagune aus beobachtet. Sonnenuntergang venetianisch schön, dazu Wotan's Abschied von ferne her klingend, wunderbare Stimmung; wieder 1 1/2 Stunden lang durch Villenstrassen hierher zurückgefahren, Essen mit Alexander und Carl, sehr gemüthlich …
Denver, Colorado, 2. September 1893.
… 30 Stunden Steppenfahrt von Chicago bis hierher war eine grosse Leistung, von der wir uns heute durch einen ganzen Ruhetag erholen. Denver ist ein wunderbarer Ort, 5000 und etliche Fuss hoch über dem Meer, eine Stadt von Palästen, Villen und Bretterbuden, mit einem Kapitol selbstredend auf der Anhöhe für die weisen Lenker des Staates Colorado und seiner Silberminen. Ein Villenviertel voll Normannenschlösser, Coloniallandhäuser mit grossen Veranden, schönstem Rasen, Bäumen und auch etlichen wenigen Blumen, da wo gegossen wird; ferner mit elektrischem Licht, dito Strassenbahnen, Arena, Boulevards und einer herrlichen Bergkette im Hintergrund mit den 14000 (Seite 84) Fuss hohen Peaks, die aber langgestreckte Schneerücken sind, auf die man per Zahnradbahn fährt, was wir übermorgen thun wollen. Dazwischen ist Steppengras, Oede, Disteln und wilde Weine, Sonnenblumen mit einer unglücklichen Kuh, die dort weiden soll, dann wieder eine Avenue, ein grosser Stadtpark, viele Acres und Bäume, alle quasi von gestern gepflanzt. Seen und Böte darauf, die Wohlthat, diesen herrlichen Himmel, die Bergkette etwas Architektur, die in den Rahmen passt, Rasen und Bäume, however so jung zu sehen, nach dem Rennen von Chicago, nach dem Lärmen und Jagen und Tosen und den 100000 von Menschen, eine ganz stille Stadt zu sehen, vor sich liegen zu haben, ist unsagbar, ebenso dieses riesige, luftige, saubere Hotel mit einer gelben Onyxhalle vom Flur bis unters Dach, von acht Stockwerken umgeben. Im achten Stock sind die Speisesäle, wo es sauberes Essen giebt. Aussicht aufs Gebirge und herrliche Luft. Wir sind im fünften hocherhaben in zwei Stuben mit Badeetablissement dazwischen — still und einsam und mit Schneebergen vis-à-vis, die Elevators fahren auf und nieder, man saust dahin, dass einem der Athem vergeht — und lebt auf, flickt, näht, schreibt, schläft und ruht den müden Kopf …
Der liebe Gott hat sich Ferien gegönnt bei der Erschaffung von Amerikas Innerem. So etwas haarsträubend garstig Langweiliges und ganz unausgesetzt Langweiliges, wie die Strecke Chicago-Denver ist niemals dagewesen, flach wie der Tisch, das erste Stück endlose Strecken Maisfelder, Meilen und Meilen, immer gleichmässig, ab und zu eingezäunt, ab und zu wieder mit trockenen Stoppelmeilen abwechselnd, wo Weizen gestanden hat, hier und da ein Bretterhaus mit Veranda, etlichen Bäumchen, etlichen Hühnern, oder ein Bretterdorf, mit irgend einem Bretter-Lunchroom oder Saloon und Avenues und ein Hotel, aber mehr für Hühner wie für Menschen, dann eine Bretterstadt mit einem grossen Vieh- und Getreide-Building zum (Seite 85) Transport und dann wieder Mais, wieder Stoppeln, wieder mageres Vieh und schwarze Schweinerudel, bis wir am ersten Tage abends an die Stadt Burlington kamen. Dann legte man sich in den entsetzlichen Pullman Sleeping Car ins Bett. Ich liess mein Fenster auf, kriegte fingerdicken Staub, aber doch Luft in meine Kabuse herein und wachte an feuchtem Geruch in der Nacht auf, als wir an den Missouri kamen, einen grossen breiten,; im Mondschein glänzenden Strom. Der Mississippi war gelb, und garstig wie die Weichsel, aber der Abendhimmel versöhnte durch seine schöne Farbe mit der Tagesöde.
Der Muth des Menschen, sich in solchen Einöden — ob fruchtbar oder nicht bleibt sich gleich — anzusiedeln, ist mir geradezu ergreifend. Man sieht in der Nähe der sogenannten Orte hübsche Buggies fahren, damenartige Wesen kutschiren. Man sieht auch ein Kind ab und zu — aber selten — die Männer, so blass, so gebeugt, alle etwas kauend, alle unsagbar unangenehm aussehend, gar nicht bäuerisch nach unserer Art, nur vulgär und müde — so draussen, so im Waggon, so in der Ausstellung oder auf der Strasse.
Um sechs Uhr stand man auf, wusch sich nach und nach im Damenwaschzimmer, woselbst mich eine westliche Dame über meine Biographie ausfragte: „You are English arn't ye?“ begann sie — „no I am German. Are ye? D'ye want to stay here? Are Ye going to settle in Colorado.“ „Good gracious no“, sagte ich. — „Why it's a beautiful country, I live eighteen miles out of Denver“ u. s. w. Dann frühstückte man mit 100000 Fliegen im Dining Car, bedient von den Negerkellnern, die in den Zwischenpausen ihrer Thätigkeit sich selbst und den Gästen mit Fächern die Fliegen abwehrten, mir war's sehr übel, kannst Dir denken. Ich lief davon in unseren Waggon zurück, der „Heloise“ hiess (die Pullman Cars haben alle sinnvolle Namen!) und kaufte mir vier harte Pfirsiche von einem plötzlich auftauchenden Obstknaben, mit denen ich mein Leben gestern (Seite 86) fristete, und dann begann die Steppe, die richtige öde Steppe, auf der aber doch ab und zu ein Ort lag, wo die Lokomotive Wasser schöpfte; dann stieg Alles aus und lief in den scharfen Steinen herum und athmete auf. Hier und da weideten Viehheerden auf dem harten Gras, ein Cowboy zu Pferde trieb sie vor sich her — oder Pferde liefen herum, kräftige magere Thiere — was sie trinken, blieb mir ein Räthsel, denn wir haben vom Missouri ab kein Wasser mehr gesehen bis vor Denver. Dann hörten auch diese Erscheinungen auf, und es war 5 bis 6 Stunden lang im schönen Staate Nebraska überhaupt nichts mehr da als der Himmel, die graugelbe Ebene und einmal die Silhouette einer Kirche am Horizont, einmal ein Pferd, und dann kamen die Löcher der Prairiehunde oder Hasen, und die Sonne brannte sehr, und man schlief, wenn man nicht mehr lesen konnte, oder las, wenn man nicht mehr schlafen konnte. Endlich kam Denver, die alte Stadt der Goldgräber und Abenteurer, fing auch ebenso unwahrscheinlich an, wie alles Andere, mit Bretterbuden, dann kam ein Bahnhof, zwei Augenärzte, die Knapp abholten und uns auch mitnahmen, die Zimmer bestellt hatten u. s. w., und dieses wirkliche Brown Palace Hotel mit der Onyxhalle, wo aber die Onyxsäulen bronzirte Gusseisenkapitäle tragen und wo die künstlerische Barbarei neben dem herrlichen Material einhergeht.
Wir sind zwei Stunden gefahren in einem sechssitzigen Break mit den Augenärzten, haben eine sehr schöne Rundfahrt gemacht und jetzt geniessen wir den verlorenen Tag… … Papa hält unberufen merkwürdig gut aus, Chicago hat ihn sehr angeregt, die Eisenbahn hat er ausgehalten, und er findet bereits Nachts fahren besser als Tagesreisen. …
Glenwood Springs, Colorado, 6. September 1893.
Die Rocky Mountains oder Rockies, wie sie genannt werden, als Ziel, war ein Unsinn; wir hätten, wie andere vernünftige Menschen, statt nach Newport zu hetzen, nach (Seite 87) dem Niagara und von da nach Chicago fahren sollen und uns von dort über Yellowstone Park in den Osten zurückbegeben, oder aber gleich von Chicago durch nach San Francisco und über die Rocky Mountains zurückfahren sollen. So ist's ein langes, langes Eisenbahnfahren in Nebenzügen ohne gute Waggons, wobei man Land und Leute sehr sieht, aber schlecht und schmutzig mit unglaublichen Menschen fahren muss. In Summa, dafür, dass Alles in einer Classe fährt, benehmen sich die meisten musterhaft, dass sie nicht sympathisch sind und hässliche Sprache und Gesten haben, dafür können sie nichts, dass sie ihre Kinder umgehend auf den Nebenmenschen loslassen und ihnen nie wehren, ist minder reizvoll, zumal bei der grossen Unternehmungslust und den kreischenden Stimmen dieser Lieblinge, aber man hört und sieht eigentlich mehr menschlich Angenehmes, als im Palace Car, und im Ganzen sind die langen Fahrten viel weniger ermüdend als bei uns. Woher das kommt, weiss ich nicht, vielleicht weil man immer etwas Anderes im Wagen sieht — die Rocky Mountains sind eine unabsehbare Welt von kahlen apenninartigen Bergen mit tief eingeschnittenen Thälern, merkwürdigen Sand- und Granitsteingebilden, keinen Wäldern, und die wenigen, die noch da sind, alle angesengt und ungebrannt. Ganze Gegenden erfüllt mit verbrannten Stämmen, die gen Himmel starren, darunter junges Gestrüpp. Nirgends ein Baum erhalten, sondern nur Herunterbrennen scheint die Losung hier zu sein. Das Herz thut einem weh, und es werden Jahrhunderte nicht ersetzen können, was die paar dummen rohen Ansiedler verdorben haben; die Eisenbahn scheint auch die einzige Fahrstrasse zu sein, man sieht nur Steppen ohne Wege oder ganz schauderhafte Bergpfade, keine ordentliche Fahrstrasse. Wir waren von Manitou, das scheusslich ist, obgleich in allen amerikanischen Zeitungen als das Juwel des Ostens gepriesen, hinaufgefahren auf den 14000 Fuss hohen Pikes Peak in einer Art Rigibahn 8000 Fuss in die (Seite 88) Höhe ohne einen Moment Schwindel unterwegs, denn die Bahn geht immer auf breiter Bergschulter hinauf. Es ist ein ergreifendes, erhabenes Bild, das sich allmählich entrollt. Ueber diese blaue Welt ohne eine Wolke, ohne einen Dunst erheben sich die weissen Schneerücken, die Schneegrenze ist aber erst bei 14000 Fuss, weiter unten liegt keine Handbreit Schnee. Oben war die Luft so dünn, dass Athmen und Bewegen uns Allen sehr schwer war; man bekam Kopfweh, Ohrenzwang und Uebelkeiten und setzte sich auf das Gerölle, aus dem der hohe Berg besteht, und sah hinab. Es war dieser Moment wohl eine Reise werth, aber das Gefühl der Höhe, des Erklommenen hat man nicht, weil dies ganze ungeheure Land so sanft ansteigt, dass man am Fusse des Gebirges in der Ebene schon 6000 Fuss hoch ist. Die Schwierigkeiten, die man am Mont Blanc hat, mit dem Observatorium, existiren hier nicht, da ist ein Schutzhaus mit englischem Restaurant und eine meteorologische Station, die das ganze Jahr functionirt. Im December soll es schneien und der Schnee 6 bis 7 Wochen liegen bleiben. Die Luft ist ja so trocken, woher soll der Schnee kommen? Es fehlen die Bäume, die Bäche, die Gletscherströme der Alpen, aber es ist doch ein so eigenartig grosses Bild, dass wir es nie vergessen werden. Die ganze Expedition dauerte 6 Stunden von 8 bis 2 Uhr und ist fast zu mühelos. Wir fuhren nachmittags, theils zu Wagen zu einem Badeort, Colorado Springs, wo zwar keine Springs sind, aber ein gutes Hotel, und von dort in 12 Stunden Eisenbahn durch trockenes Land, wo es nie regnet, wo aber doch Weiden sind, hierher ins Gebirge an unseren westlichsten Punkt. Die Route heisst Rio Grande-Denver, ist von einem englischen Ingenieur Palmer gebaut, der in einem weltverlorenen Thal sich und seiner Familie einen englischen Cottage erbaut hat, grosse grüne Rasenflächen und Blumenbosquets, Büsche und Creepers aus der Wildniss hervorzauberte und mit Beibehaltung des Charakters dieser (Seite 89) Landschaft ein Stück Old England schuf, das Entzücken und Staunen in uns wachrief. Keine Cyklopenbauten im Gemüsegarten, keine Normannenschlösser mit einem Vorgärtchen an der Strasse, sondern einen artesischen Brunnen, drinnen grub er, bewässerte sein Land und hat nun Rasen und dabei die ganze dunkelblaue Gebirgswelt über sich, und die Steppe gerade genug accentuirt, um sich und dem Ganzen ein Gesicht zu geben. Ich musste immer an Antibes und das Haus der kranken englischen Dame denken. Hier in Glenwood ist ein heisser Salzwassersee, ein Riesenhotel in der halben Wildniss, es sieht aus wie ein spanisches Kloster, hat herrliche Hallen und Galerien unten, sehr hübsche Appartements mit idealen Badeeinrichtungen. Wir haben drei Stuben, Papa und ich, die nicht zu trennen sind, weil sie das Bad als gemeinsamen Mittelpunkt haben. …
Hentschel wird sich wohl bald von uns trennen, weiter gen Westen fahren, und wir wollen auch nur bis St. Louis mit Knapp bleiben, dann selbständig nach dem Niagara und Boston reisen und von da nach New York zurück — dort werden wir wohl im Hotel Waldorf wohnen, 5th Avenue; etliche Tage zu Villard's, etliche zu Mr. Phelps fahren, uns die Städte Washington, Philadelphia und Baltimore besehen, mit ihren Anstalten und Universitäten und dann heimreisen, wovor mir theils graut, theils aber auch macht es mich glücklich, aus dem Lande herauszukommen. Man wird ein fanatischer Europäer hier im Westen … Papa wohl, vergnügt, etwas „mägerer“, was bei hiesigem „Frass“, denn anderes ist's nicht, kein Wunder…“
„Unsere Reise war im höchsten Grade interessant, mehr interessant, als schön und angenehm, das Schöne ist durch unendliche trostlose Einöden von einander getrennt und muss schwer erkauft werden durch unendliche Langeweile, (Seite 90) Hitze und Staub, trotz aller bemerkenswerthen Bequemlichkeiten der Pullman Cars. Ueberhaupt überrascht Amerika durch seine ungeheuren Dimensionen und die ungeheure Arbeit, die darin schon gethan ist. Aber diese ist erst der kleinste Theil von derjenigen, die noch zu leisten ist und auch ohne Zweifel noch geleistet werden wird in dem nächsten Jahrhundert. Bisher ist aber Alles noch höchst unfertig und erscheint zum Theil höchst unvernünftig und paradox …
Fortsetzung aus Niagara.
was auch nicht zu verwundern ist, bei einer Cultur, de mit dem elektrischen Licht und den Dampfmaschinen anfängt, während die Elemente der Kochkunst und andere einfachste Künste der Haushaltung und die Organisation aller gegenseitigen Hülfsleistungen der Menschen äusserst stümperhaft sind, und die Zeitungen täglich neue Berichte über die frechsten Banditenstreiche bringen. Wir fuhren heute von St. Louis die Nacht durch nach Niagara Falls. Die Nacht vorher ist der Nachtzug derselben Linie zwischen Chicago und St. Louis von einer Bande von 20 Räubern ausgeplündert worden, da man wusste, dass er grosse Geldsummen mit sich führte. Ausser diesen Mordgeschichten findet man die Zeitungen nur gefüllt mit den heftigsten Schmähreden über die Gold- oder Silberwährungsfrage, über die sie sich ganz toll gebärden, und über die auch ich in St. Louis durch einen nächtlich erscheinenden Reporter interpellirt worden bin, trotzdem ich dem Mann versicherte, dass ich mich nie mit nationalökonomischen Fragen beschäftigt habe. Während ich mich zum Zubettgehen vorbereitete, hat dann die Mama noch zwei andere ähnliche Herren abgewiesen. Es war durch einen Brief von Dr. Knapp an einen dortigen Augenarzt bekannt geworden, dass wir kommen würden. Der Niagarafall ist das erste Ding in Amerika, was wirklich einen gleichzeitig mächtig grossen, schönen und erfrischenden Eindruck macht. (Seite 91)
Sonst müssen wir anerkennen, dass wir privatim, und auch öffentlich, wo man uns kannte, mit der grössten Zuvorkommenheit behandelt worden sind. …
Der merkwürdigste Punkt unserer Gebirgsreise war Pikes Peak, dessen Gipfel 14000 Fuss hoch angegeben wird, also so hoch, wie das Wetterhorn in der Schweiz, und auf den man mit einer Zahnradbahn bis oben hinauf fahren kann. Wir fühlten daselbst aber alle den Schwindel und die Athemnoth der Bergkrankheit. Auf diese Weise habe ich in diesem Sommer meine höchste Bergbesteigung gemacht. Die Aussicht war sehr weit reichend und zeigte eine grosse Menge sehr ferner Schneespitzen, etwa der von dem Berge bei Campiglio ähnlich.
Dann hatten wir noch eine sehr schöne Fahrt über den Marschallpass, der über die Wasserscheide der Rocky Mountains führt und wenigstens in seinen oberen Theilen grün und bewaldet ist. Geographisch und nationalökonomisch war die Reise wie gesagt höchlichst interessant. Die Mama hat, fürchte ich, mehr unter den Beschwerden gelitten. Ich selbst habe gut ausgehalten bis jetzt und hoffe nun das Anstrengendste überstanden zu haben. …“
„Wäre ich nicht so beispiellos müde von allem Eisenbahnfahren, von der tropischen feuchten schweren Hitze von St. Louis, die uns ganz erschöpfte in 24 Stunden, so würde ich Dir sagen, dass die „Rapids“ des Niagarastromes da unten rauschen, so gross und mächtig und kühl, dass es eine grossartige Welt des Wassers hier ist, viel poetischer und malerischer, als ich's dachte, viel wirklich schöner, als irgend etwas anderes bisher Gesehenes, und von stets wachsender Grosse. Die Fälle sind so breit, dass sie einem erst nicht hoch erscheinen, nach und nach wächst aber Alles, und die untergehende Sonne, die einen grossen Regenbogen auf dem Gischt hervorzauberte, verklärte das Ganze. (Seite 92) Aber es waren wieder 30 Stunden von den Rocky Mountains nach Cansas, wo wir 24 Stunden blieben, und 10 nach St. Louis und 20 bis hierher! …
Boston, Vendome Hotel, 17. September 1893.
Wir sind vorgestern gegen Mitternacht nach 28 Stunden Eisenbahn vom wunderbaren Niagara hierhergelangt, allein, und ohne jegliche Hinterlassung von Gepäck. So viel habe ich nun doch schon gelernt, dass man hier überall daneben stehen und sich auf keinerlei „Einrichtung“, am wenigsten auf die Herrlichkeit des Gepäckcheques verlassen kann. …
Also in St. Louis trennten wir uns von Knapp's, um uns gegenseitig etwas Luft zu geben. Sie gelangten mit Hindernissen nach New York, wir ebenso nach den „Niagara Falls“, oder vielmehr von da an den St. Laurencestrom, auf dem wir nach Montreal und dann hierher wollten. Als wir nach 12 Stunden Nachtfahrt an den Strom gelangten mit einer Stunde Verspätung, war der tägliche Dampfer fort, und wir hätten 24 Stunden in einem unsagbaren Nest, Clayton, warten müssen, kauften uns also andere Billets und fuhren zurück weitere 16 Stunden und direct hierher.
… Hier in Boston ist es wunderschön, sehr englisch correct und ehrwürdig: schöne saubere Strassen, schöne Häuser mit Epheu bewachsen, wunderbare Kirchen, ein grosser Strom, Charles River, und jenseits die Universitätsstadt Cambridge mit der Harvard University. …
Die Niagarafälle sind einfach wunderbar und werden es von Stunde zu Stunde mehr. Wir mussten im Cataract-Hause wohnen, aber es war doch schön, obwohl unsere Aussicht auf den Strom durch Waschküche und unglaubliches Gerümpel verbaut war, und die Front des Hauses mit mächtiger Säulenhalle auf die schmutzige Strasse hinausging.
Wir haben die „Falls“ von oben bis unten, von unten bis oben, auf beiden Seiten zu Fuss und auch in einer reizenden elektrischen Bahn besehen, sind auf Hängebrücken (Seite 93) und darüber auf Zahnradbahnen hinunter auf einem Dampferchen schier hineingefahren, und immer ging die durchsichtige graue Wassermasse still hinunter, nicht sehr stark dröhnend, aber so herrlich! Der Gischt und das Wallen und Weben desselben, Alles so unsagbar schön und poetisch, so dass der Eindruck nie aus unserer Seele schwinden kann. Die Gegend ist viel lieblicher, als wir erwarteten. Die Fälle sind so breit, dass sie erst niedrig scheinen, bis man das Ganze realisirt. — Wir hatten sehr gutes Wetter, während es vorher und nachher in Strömen goss. — Hier haben wir im Besitze von Betten und einer Badestube ausgiebig geschwelgt, uns gesegnet, aus dem garstigen Westen wieder heraus zu sein, und sind von früh bis spät von gelehrten Herren in Entreprise genommen, sehen Laboratorien, Gymnasiums — Dormitories, Speise- und Schlafgebäude, Alles wundervoll, Memorial Halls etc. an, und bald ist's wie Edinburg, bald wie London, bald ganz anders — und wenn man an einer Kirche das Datum 1657 liest, freut man sich. Es ist doch etwas Anderes um diese Stadt der geistigen Interessen, als um das entsetzliche Chicago. Wir bleiben ganze vier Tage hier, weil ein Physiologe, Professor Bowditch, noch von weither heranreist, um Papa zu sehen. Wir haben heute bei dessen sehr netter Tochter Nachmittags auf dem Lande eine Stunde verbracht.
Es war reizend da draussen auf dem grünen Hügel mit der schönen Welt zu unseren Füssen und erinnerte mich so an Vertbois, als es noch gepflegt und hübsch war . . .“
S. 81 - 93 aus:
Koenigsberger, Leo: Hermann von Helmholtz. - Braunschweig : Vieweg
Band 3. - 1903
Letzte Änderung: 24.05.2014 Gabriele Dörflinger Kontakt
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