Leo Koenigsberger: Hermann von Helmholtz

Helmholtz als Professor der Physiologie in Heidelberg
von Michaelis 1858 bis Ostern 1871.


Allgemeine Naturbegriffe: Aufzeichnungen Helmholtz' um 1845

„Naturwissenschaft hat zum Objecte denjenigen Inhalt unserer Vorstellungen, welcher von uns als nicht durch die Selbstthätigkeit unseres Vorstellungsvermögens erzeugt angeschaut wird, d. h. also das als wirklich wahrgenommene. Entweder giebt sie nur eine geordnete Uebersicht alles Empirischen (Naturbeschreibung und Experimentalphysik), (Seite 127) wo dann nur die Ordnung aus einem Zweck construirt, d. h. wissenschaftlich ist, oder sie sucht die Gründe der Facta zu erschliessen, d. h. sie sucht die Begriffe, aus welchen sich die einzelnen bestimmten empirischen Wahrnehmungen ableiten lassen; sie sucht also das Wirkliche zu verstehen (wissenschaftliche Physik).

Diese Naturbegriffe werden erschlossen, theils aus dem Factum allein, dass es überhaupt bestimmte Wahrnehmungen gebe, die nicht durch unsere Selbstthätigkeit hervorgebracht sind, theils aus einzelnen bestimmten empirischen Wahrnehmungen selbst. Das System der ersteren giebt die allgemeinen oder reinen Naturwissenschaften (Zeitlehre, Geometrie, reine Mechanik), das der letzteren die theoretische Physik. Das Gemeinsame der allgemeinen Naturbegriffe wird sein: dass sie und ihre Folgerungen aller Naturanschauung zum Grunde liegen, und ohne sie keine gedacht werden kann, dass sie also in dieser Hinsicht die allgemeine und nothwendige Form der Naturanschauung sind, daher auch die Gewissheit ihrer Sätze eine absolute ist, während sich die der besonderen Naturbegriffe immer nur so weit erstreckt, um auszusagen, dass alle bis jetzt bekannten Facta ihnen entsprechen. Die allgemeinen Begriffe, nur hergeleitet aus der Möglichkeit irgend einer Naturanschauung, dürfen ferner nicht die Möglichkeit irgend einer empirischen Combination von Wahrnehmungen beschränken, d. h. es darf aus ihnen durchaus kein empirisches Factum oder Gesetz ableitbar sein, sondern sie können uns nur eine Norm für unsere Erklärungen geben.

Hülfssätze. Die möglich denkbaren Verbindungen der hier betrachteten Vorstellungsobjecte fallen unter die allgemeinen Kategorien möglicher Denkverbindungen überhaupt. Sie sind folgende:

I. Beziehung eines Vorstellungsobjectes auf das Vorstellungsvermögen. (Modalität; Objecte wahrgenommen oder vorgestellt.) (Seite 128)

II. Beziehung eines Objectes auf ein anderes. Diese Beziehung wird gesetzt

  1. als eine von unserem Vorstellen unabhängige, äusserlich wirkliche (Causalität).
  2. als eine nur vorgestellte (Vergleichung)
    a) von gleichartigen Objecten (Quantität),
    b) von ungleichartigen (Qualität).

Gleich in einer Beziehung ist nämlich ein Object einem anderen, wenn es überall, wo das Resultat einer Combination nur in dieser Beziehung betrachtet wird, für das andere gesetzt werden kann.

Gleichartig in einer Beziehung, wenn beide in lauter, unter sich in dieser Beziehung gleiche Theile zerlegt werden können.

Ein Object, der Quantität nach betrachtet, heisst Grösse; als Grösse kann demnach jedes Object betrachtet werden, welches in gleiche oder gleichartige Theile zerlegt gedacht wrerden kann. Messen heisst, die Menge solcher Theile bestimmen; eine bestimmte Menge heisst Zahl, ein einzelner Theil die Maasseinheit.

Die Grössen sind denkbar entweder von der Art, dass fortgesetzte Theilung auf Theile führt, die nicht weiter in gleichartige zertheilt werden können (aggregirte Grössen), oder dass keine Grenze der Theilung existire (stetige Grössen). Ein logischer Widerspruch liegt in der unendlichen Theilbarkeit nicht, denn diese soll nur als möglich gedacht, nicht wirklich ausgeführt werden, wozu allerdings eine unendlich lange Zeit nöthig sein würde; ebenso wenig in dem Gedanken eines stetigen Wachsens durch unendlich viele unendlich nahe Stufen.

Die Wissenschaft von der Verbindung der Grössen der Quantität nach ist die Arithmetik; sie wird rein nach den Gesetzen der gemeinen Logik aus den hier aufgestellten Begriffen entwickelt. Sie führt auf die bekannten Zahlformen der positiven und negativen, ganzen und gebrochenen (Seite 129) (mit Einschluss der irrationalen, d. h. gebrochenen mit ∞ grossem Nenner), reellen und imaginären Zahlen, von denen nur die letzteren nicht auf bestimmte Zahlwerthe zurückzuführen sind.

Die allgemeinen Naturbegriffe.
Wahrnehmung ist Bewusstwerden einer bestimmten Empfindung, d. h. eines bestimmten Zustandes unserer Organe. Bestimmt kann eine Empfindung nur sein im Gegensatz gegen andere; es müssen also Vorstellungen von anderen entgegengesetzten Empfindungen vorhanden sein; und da es nicht denkbar ist, dass ein einziges und untheilbares Wahrnehmen entgegengesetzte Qualitäten in sich vereinige, so muss es verschiedene Theile (Acte) des Wahrnehmens geben, welche, abgesehen von dem qualitativ bestimmten Inhalt, wie nach einem Verhältniss der Verschiedenheit in der Art des Wahrnehmens selbst verschieden sind. Dieses Verhältniss nennen wir Zeit. Von diesen verschiedenen Acten der Wahrnehmung nennen wir den von der Empfindung begleiteten, welchem wir die anderen entgegensetzen, die gegenwärtige Wahrnehmung, und die anderen die vergangenen. Werden sie nun alle in eine Reihe so geordnet, dass einer jeden alle vor ihr vergangenen vorausgehen, so erhalten wir eine ganz bestimmte Reihe mit bestimmter Richtung des Fortschreitens, deren Glieder alle, abgesehen von ihren qualitativen Unterschieden, verschieden sind nach jenem nothwendigen Verhältniss der Verschiedenheit im Wahrnehmen der Zeit.

Da dieses Verhältniss umfassen soll alle möglicherweise dagewesenen und kommen könnenden Fälle von Wahrnehmungen und ihren Uebergängen, so muss sein Begriff so bestimmt werden, dass es passe auf alle denkbaren Fälle.

Die Zeit ist:

  1. ausgedehnt und theilbar in gleichartige Theile; ersteres insofern sie die ganze Reihe der Wahrnehmungen (Seite 130) umfassen soll; jede einzelne ist in einem Theil der Zeit enthalten, und da hier an diesen Theilen überhaupt nur das Umfassen einer Wahrnehmung in Betracht kommt, nicht der qualitative Unterschied der letzteren, so sind sie als gleichartig zu setzen;
  2. unbegrenzt ausgedehnt, weil die Zahl der zu umfassenden Wahrnehmungen keine nothwendige Grenze hat;
  3. unbegrenzt theilbar, weil stetige Aenderungen der Wahrnehmungen denkbar sind, und jede der unendlich vielen Stufen der Aenderung in der Zeit enthalten sein musste. Jeder Zeittheil enthält daher noch differente kleinere Theile in sich; soll eine Zeitbestimmung in sich nicht mehr different, also ganz bestimmt sein (Zeitpunkt), so muss sie als nicht ausgedehnt gedacht werden; eine solche ist die Grenze zwischen den einzelnen Zeittheilen.
  4. Die Richtung des Fortschreitens in der Zeit ist eine bestimmte und nur eine, daher auch durch die eine Bestimmung, um wie viel Zeit etwas früher oder später sei als ein anderes bekanntes, der Zeitpunkt vollständig bestimmt ist.

Wird die Zeit als Grösse betrachtet, so ist sie zu denken als wachsend von 0 bis +∞ durch alle positiven ganzen und gebrochenen Zahlen; da aber jeder Zeitpunkt vom Anfangspunkte der Zeit als unendlich entfernt gedacht werden muss, so sind Zeitbestimmungen in bestimmten Zahlen nur möglich durch Angabe der positiven oder negativen Differenz der zu suchenden Zeit von einer als bekannt vorausgesetzten, dann ist die Zeit als wachsend zu denken stetig von -∞ bis +∞. Der Grösse nach gegeben durch eine Bestimmungsgleichung, d. h. abhängig von einer Variablen, oder von der ersten Dimension, wenn wir eine durch n Bestimmungen zu gebende Ausdehnungsgrösse als eine der nten Dimension bezeichnen. (Seite 131)

Als gleich werden Zeittheile zu setzen sein, in welchen dieselben Aenderungen unter gleichen Umständen vor sich gehen.

Die Wahrnehmungen sind ferner gesetzt als unabhängig von unserer Selbstthätigkeit entstanden, müssen also gesetzt werden als verursacht durch ein Anderes, uns Aeusseres, welches wir, insofern es bloss da ist, Materie nennen, insofern es auf uns wirkt, d. h. Grund von Veränderungen ist, Kraft.

Das Aeussere, insofern es bloss Materie ist, ist daher ohne qualitativen Unterschied, also auch ohne qualitative Aenderung, ewig dasselbe; der Quantität nach betrachtet, Masse. Da es aber doch verschieden auf uns wirken soll, müssen verschiedene Theile der Materie verschiedene Kräfte haben. Die Kräfte an sich können, da sie qualitative Unterschiede haben, der Zeit nach veränderlich gedacht werden, als Grund ihrer Veränderung muss wieder eine andere Kraft gedacht werden, und so muss immer weiter zurückgegangen werden, bis man auf der Zeit nach constante Kräfte bestimmter Theile der Materie kommt (chemische Elemente).

Das Aeussere, der Grund unserer Empfindungen, ist also zu setzen als zusammengesetzt aus Materien mit verschiedenen Kräften, es kann also nicht als ein eines und untheilbares Sein gesetzt werden. Es soll also Verschiedenes gleichzeitig sein; deshalb muss im Gleichzeitigsein noch ein Verhältniss vorkommen, nach welchem Objecte, abgesehen von ihrer qualitativen Verschiedenheit, verschieden sein können, weil ein einziges untheilbares Sein nicht mit verschiedenen Qualitäten begabt sein kann; dieses Verhältniss ist der Raum, in welchem die verschiedenen Objecte geordnet zu denken sind. Die Glieder dieser Ordnung sind, da ihr wesentliches Merkmal die Gleichzeitigkeit ist, nicht in bestimmter Richtung fortschreitend, daher braucht die Fortschreitung nicht wie bei der Zeit eine einfache zu sein, sondern ist möglicherweise mehrfach. (Seite 132)

Der Raum ist wie die Zeit zu setzen als ausgedehnt und theilbar in gleichartige Theile, und zwar als ∞ ausgedehnt und ∞ theilbar, weil weder die Zahl noch die Theilbarkeit der möglicherweise in ihm enthaltenen Gegenstände a priori begrenzt ist. Jeder noch ausgedehnte Raumtheil enthält daher noch andere differente in sich, eine Raumbestimmung ohne Ausdehnung heisst Punkt. Weil der Punkt keinen reellen Gegenstand enthalten kann, daher auch nicht aus Materie darstellbar ist, hat man ihn für eine nicht reelle Grösse erklären wollen, er ist aber nicht weniger reell als der Raum überhaupt, der auch kein wirkliches Ding ist.

Da die Richtung des Fortschreitens im Raum keine bestimmte ist, so ist ein Punkt durch die Angabe, wie viel Raum zwischen ihm und einem anderen sei, noch nicht gegeben, sondern es sind mehr Bestimmungen nöthig, d. h. nach obiger Erklärung des Begriffs Dimension: der Raum ist eine stetig bis ∞ wachsende Grösse von mehreren Dimensionen, wir wollen annehmen von n, d. h. jeder Punkt sei durch n Bestimmungsstücke zu geben. Existiren wieder Bedingungen zwischen diesen Bestimmungsstücken, so dass für gewisse Werthe mehrerer von ihnen nur gewisse der anderen möglich sind, so können einzelne Punkte auch durch weniger Bestimmungen gegeben sein, und umgekehrt könnten aus mehreren Bestimmungen identisch die anderen folgen, so dass der Punkt nur scheinbar durch n Bestimmungen gegeben wäre. Wird daher allgemein gesagt: ein Punkt ist durch n Bestimmungsgleichungen gegeben, so sind die etwaigen Gleichungen zwischen bestimmten Werthen der Variablen selbst mitzurechnen, und die Gleichungen fortzulassen, welche identisch aus den anderen herfliessen. Wie bei der Zeit kann die Messung des Raumes nicht angefangen werden von einem Anfangspunkte desselben, weil es einen solchen nicht giebt, sondern muss von bestimmten, als bekannt vorausgesetzten Punkten ausgehen. (Seite 133) Theile des Raumes, welche Raumgrössen genannt werden mögen, sofern sie noch wieder theilbar, d. h. keine Punkte sind, haben entweder ebenso viel Dimensionen oder weniger. Ein in einer Raumgrösse ater Dimension liegender Punkt soll durch a Bestimmungen gegeben sein, im Raume ist er es erst durch n, also müssen aus den Eigenschaften der gegebenen Raumgrösse noch n - a Bestimmungen herfliessen, d. h. eine Raumgrösse ater Dimension ist durch n - a Bestimmungsgleichungen gegeben. Die erster Dimension heisse Linie, die zweiter Fläche.

Soll eine Raumgrösse ater Dimension nicht in der ganzen Ausdehnung genommen werden, wie sie durch ihre n - a Bestimmungsgleichungen gegeben ist, sondern nur bis zu gewissen Punkten, soll also für jeden Werth von n - 1 Coordinaten die nte nicht über oder unter einen gewissen Werth gehen, was durch eine Gleichung gegeben ist, so werden jene Punkte, deren Inbegriff die Grenze genannt wird, bestimmt durch n - a + 1 Gleichungen, bilden also eine Raumgrösse von a - 1 Dimensionen.

Wir haben nun zunächst zu fragen, wie es möglich ist, einen Punkt gegen einen anderen zu bestimmen; die einzige durch zwei Punkte zu begrenzende Raumgrösse ist aber die Linie; es müsste also die Länge einer bestimmten Art von Linie angegeben werden. Die Länge der möglich ziehbaren Linien hat kein Maximum, denn sie können durch ∞ weit entfernte Punkte hindurchgehen, und kann nicht 0 werden, muss folglich ein positives Minimum haben. Die Länge der einen oder mehreren kürzesten Linien zwischen zwei Punkten oder Raumgrössen nennen wir Entfernung.

Ist der Punkt p1 von pn um a, von pm um b entfernt, so kann pn von pm nie weniger als a - b, nie mehr als a + b entfernt sein (weil es sonst einen kürzeren Weg von p1 nach pm oder von pn nach pm gäbe, als ihre Entfernung).

So weit reichen die Bestimmungen des Raumes, insofern (Seite 134) er alle möglicherweise vorhandenen materiellen Objecte umfassen soll, und zwar da ein endlich begrenzter Raum (eine endliche Raumgrösse nter Dimension) als ein solcher zu setzen ist, der eine endliche Zahl endlicher Massen enthält, so können endliche Massen nur in Raumgrössen höchster Dimension enthalten sein, und heissen als solche materielle Körper; die sie enthaltenden Raumgrössen aber mathematische Körper. In materiellen Körpern können wieder Punkte, Linien etc. unterschieden werden, die dann materielle Punkte etc. genannt werden können.

Ferner muss der Begriff des Raumes auch noch so bestimmt werden, dass er alle möglichen Aenderungen der Materie umfassen könne, die hier offenbar nur so weit in Betracht kommen, als sie Aenderungen der Raumverhältnisse, d. i. Bewegungen sind.

1. Wird ein materieller Körper bewegt, so ist er fortdauernd in einem Theil des Raumes vorhanden; dabei ist es denkbar, dass alle einzelnen Theile des Körpers ihre Lage zu einander unverändert beibehalten (fester Körper); dann werden auch die einzelnen Punkte, Linien etc. jedes neuen ihn enthaltenden mathematischen Körpers sich zu einander ganz so verhalten wie die des ersten, und insofern kann gesagt werden, der mathematische Körper selbst, seine Punkte, Linien etc. bewegen sich mit der Materie. In diesem Sinne sind unter einem festen System von Punkten solche bewegliche Punkte zu verstehen, die bei ihrer Bewegung stets ihre gegenseitigen Bestimmungen unverändert erhalten; Raumgrössen wären demnach als stetige feste Systeme zu betrachten.

Congruent sind feste Systeme, wenn das eine so in das andere bewegt werden kann, dass jeder Punkt des einen mit einem des anderen zusammenfällt. Paare von gleich entfernten Punkten sind congruent.

2. Bewegung soll der Materie zukommen, abgesehen von all ihren besonderen Kräften; dann ist aber das einzige (Seite 135) übrigbleibende Merkmal eines bestimmten Theils der Materie der besondere Raum, in dem sie enthalten ist; da ihr in der Bewegung aber auch dies Kennzeichen genommen wird, so kann ihre Identität nur dann noch ausgesagt werden, wenn wir den Uebergang aus dem einen Raume in den anderen anschauen, d. h. Bewegung muss stetig sein dem Raume nach.

Wird daher eine Raumgrösse ater Dimension bewegt gedacht, so erhalte ich für jede der stetig in einander übergehenden Lagen n - a Gleichungen mit stetig in einander übergehenden Werthen der n - a zu suchenden Coordinaten für gleiche Werthe der a anzunehmenden; von jenen stetig sich ändernden könnte ich noch für die eine einen beliebigen Werth wählen, und erhielte dann unmittelbar die zugehörigen Werthe der anderen; der Weg einer Raumgrösse ater Dimension ist daher im Allgemeinen eine Raumgrösse (a+1)ter.

Die Werthe der zu suchenden Unbekannten brauchten sich nicht nothwendig zu ändern, wenn nämlich jeder Punkt der bewegten Grösse nur immer wieder in Punkte übergeht, die schon vorher darin lagen; solche Bewegung nennen wir Verschiebung; jene erste aber Seitenbewegung.
Linie also = Weg des Punktes,
Fläche = Weg der Linie.

3. Da Raumbestimmung überhaupt nicht in Beziehung auf den absoluten Raum möglich ist, so kann auch Aenderung derselben, d. h. Bewegung, nur in Bezug auf bestimmte Punkte oder Systeme stattfinden, und es kann ein Punkt in Bezug auf verschiedene solche zugleich in Ruhe und in Bewegung sein. Ruhe und Bewegung sind also nicht an sich verschiedene Zustände der Materie, sondern nur relativ.

Da nun die Materie gesetzt wurde als verharrend in ihrem Zustande, so lange keine Kräfte auf sie einwirken, so muss auch gesetzt werden ihre Ruhe und ihre Bewegung als eine bleibende, bis sie durch Bewegungskräfte geändert wird. Es sind daher zu suchen die Bestimmungen einer (Seite 136) Bewegung, welche vollständig abzuleiten ist aus dem sich immer gleichbleibenden Zustande der Bewegung selbst, in welchem sich der bewegte Körper befindet, die ich stabile Bewegung nennen will.

Der Begriff der Richtung ist offenbar die Bestimmung einer Bewegung, durch welche die Punkte festgesetzt werden, nach denen sich die Bewegung hin erstreckt, wenn die Bewegung ungestört vor sich geht; sie wird daher bei der stabilen Bewegung als eine stets gleichbleibende zu bezeichnen sein.

Eine Bewegung ist aber vollständig bestimmt, wenn die Punkte bestimmt sind, in welchen sich zu jeder gegebenen Zeit die Punkte des bewegten Körpers befinden; betrachte ich nur die Bewegung eines einzigen Punktes, so ist dessen Lage zu bestimmen, wenn 1. die Bahn selbst bekannt ist, und 2. wie viel er davon in jedem Zeittheil zurücklegt, d. h. wenn bekannt ist das Verhältniss zwischen dem zurückgelegten Raum zu der dazu gebrauchten Zeit. Ist es constant, so kann ich zu seiner Bestimmung einen beliebig grossen Raum nehmen, c = s/t, daher s = ct. Ist es veränderlich, so muss ich einen unendlich kleinen Raum nehmen, in dessen Ausdehnung das Verhältniss als gleichbleibend zu betrachten ist, d. h. den Differentialquotienten δs / δt oder δts.

Da bei der stabilen Bewegung alle Bestimmungen dieselben bleiben sollen, muss c constant sein.

Was nun die Form der Bahn betrifft, so ist zunächst klar, dass sie stets gleich bleiben muss, d. h., dass jedes Stück derselben jedem gleich langen anderen congruent sein muss. Ferner soll nach unserer obigen Forderung dieselbe vollständig abzuleiten sein aus dem Zustande der Bewegung, in dem der Körper sich befindet, den wir uns als den Grund des Weitergehens zu denken haben. Dieser ist wirksam nur in Richtung der Bahn, kann aber offenbar in (Seite 137) Seitenrichtungen durchaus keine Verschiedenheiten bewirken; es dürfen deshalb keine Verschiedenheiten in dem Verhalten des Weges nach Seitenrichtungen vorhanden sein, d. h. da durch Seitenbewegung einer Linie eine Fläche entsteht, und in dieser ein Punkt durch Bestimmung gegen zwei der Linie vollständig zu geben ist und in allen stetig in einander übergehenden Seitenrichtungen ebenso bestimmte Punkte möglich sind, so müssen gegen alle Punkte, die durch eine solche Bestimmung gegeben sind, sich alle Punkte der Linie gleich verhalten, d. h. also: durch Bestimmungen von n Punkten einer geraden Linie aus ist kein ausserhalb gelegener Punkt vollständig zu bestimmen, sondern n - 2 Bestimmungen geben immer nur wieder dieselben Punkte, welche die beiden anderen schon allein geben, oder wenn ein Punkt ausserhalb einer solchen Linie gegen zwei Punkte derselben bestimmt ist, ist er es gegen alle. Daher denn auch, wenn zwei Punkte einer solchen Linie gegen äussere Coordinaten-Punkte bestimmt sind, es auch alle anderen sind, d. h. eine solche Linie ist durch zwei Punkte vollständig gegeben; wir nennen sie gerade.

Aus dieser Definition folgt sogleich, dass zwischen zwei Punkten nur eine gerade Linie möglich ist, dass gleich lange gerade Linien congruent sind, daher die gerade Linie unmittelbar durch Auftragen eines ihrer als Maasseinheit angenommenen Theile gemessen werden kann, und auch zur Bestimmung der Lage eines Punktes gegen einen anderen zu benutzen ist. Die Länge der geraden Linie zwischen zwei Punkten wollen wir den geraden Abstand derselben nennen.

Gerade Raumgrössen ater Dimension sind solche, in denen durch je a beliebige Punkte eine gerade Raumgrösse (a-1)ter Dimension zu legen ist, die ganz in der ersteren liegt. (Ebene, oder gerade Fläche, ist eine solche, deren jede zwei Punkte durch gerade Linien verbunden werden können, welche ganz in derselben liegen.) (Seite 138)

Winkel ist das Lagenverhältniss zweier gerader Linien zu einander, die durch Linien zu begrenzende Raumgrösse muss eine Fläche, und zwar eine bestimmte sein, daher der Winkel gemessen wird durch das Stück einer Ebene, welches zwischen diesen Schenkeln liegt; als gleich sind congruente Winkel zu setzen …“


S. 126 - 138 aus:
Koenigsberger, Leo: Hermann von Helmholtz. - Braunschweig : Vieweg
Band 2. - 1903


Letzte Änderung: 24.05.2014     Gabriele Dörflinger   Kontakt

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