Leo Koenigsberger: Hermann von Helmholtz

Hermann Helmholtz' Jugendjahre
1821 bis 1838.


Dem jungen, noch nicht dreissigjährigen Gymnasiallehrer Ferdinand Helmholtz wurde, nachdem er ein Jahr verheirathet gewesen, von seiner Frau ein Sohn geschenkt, der einst der Familie und dem Vaterlande zum Stolz und Ruhm gereichen, der gesammten gesitteten Welt eine Leuchte der Wissenschaft sein sollte.

Hermann Ludwig Ferdinand Helmholtz wurde am 31. August 1821 in Potsdam in dem Hause Nr. 8 der Hoditzstrasse geboren und am 7. October in der lutherischen Heiligen-Geistkirche daselbst getauft. Er war ein wenig schönes und sehr schwächliches Kind.

„Grade mein erstes Kind“, schreibt dreissig Jahre später die glückliche Mutter ihrem Sohne, „Du nämlich, mein Wunderkind, wie ich Dich von Deiner Geburt an nannte, wurde von allen unschön gefunden; mich beunruhigte aber das alles nicht, ich bewunderte mein Kind, es lächelte mich, wie es die Augen öffnete, an, ich sah nichts als Geist und Verstand.“

In seinen ersten sieben Jahren war er ein körperlich kränklicher Knabe, lange an das Zimmer, häufig an das Bett gefesselt, aber stets mit lebhaftem Trieb nach Unterhaltung und nach Thätigkeit; Bilderbücher und Spiel, hauptsächlich mit Bauhölzern, füllten seine Zeit aus, liebevolle (Seite 10) Belehrung von Seiten der Eltern förderte ihn geistig. Jede Kinderkrankheit, der er unterworfen war, erfüllte die Eltern und Verwandten, die mit zärtlicher Liebe einander zugethan waren, immer wieder von Neuem mit schwerer Sorge; „ich wusste“, schreibt eine Cousine des Vaters, die Frau des Geheimen Ober-Finanzrathes von Bernuth in Berlin, eine Tochter des Generalstabsarztes Mursinna, am 19. Februar 1828 seinem Vater, „dass Dein Sohn das Scharlachfieber hatte; bei seiner Kränklichkeit fürchtete ich Alles. Gott sei gedankt, dass er wieder wohl ist. Sei zufrieden, dass er bis jetzt noch nicht viel hat lernen können, ich sehe es als ein Glück für den Knaben an, wenn er erst mit dem achten Jahre anfängt zu lernen. Alexander von Humboldt war acht Jahre alt und wusste noch nichts. In diesen Tagen hat ihn der König zum Präsidenten der Akademie der Wissenschaften erhoben, mit dem Titel Excellenz und einem sehr grossen Gehalt jährlich, — dies sind meine grossen Ahndungen für Deinen Sohn.“

In seinem siebenten Lebensjahre besuchte er, noch immer häufig durch Kränklichkeit am regelmässigen Schulbesuch gehindert, die Volksschule des Potsdamer Schullehrerseminars und überraschte schon dort, als er zur wissenschaftlichen Lehre der Geometrie kam, seine Lehrer dadurch, dass ihm aus den Kinderspielen mit Bauhölzern alle Thatsachen, die er erst lernen sollte, wohlbekannt und geläufig waren. Allmählich befestigte sich nun seine Gesundheit durch häufige Turnübungen und tägliches Baden, und zugleich entwickelte sich auf den vielen mit seinem Vater regelmässig unternommenen Spaziergängen in den schönen Umgebungen seiner Vaterstadt seine grosse Liebe zur Natur. So kam es, dass, als er im Frühling 1830 in die Sexta des Gymnasiums zu Potsdam eintrat, er dem Unterricht recht gut folgen konnte und schon nach einem halben Jahre in die Quinta versetzt wurde, wo er sich, wie seine Zeugnisse beweisen, die Zufriedenheit seiner Lehrer (Seite 11) erwarb und bereits nach, einem Jahre die Reife für die Quarta erlangte; seine Handschrift wurde getadelt, seine häuslichen Rechenaufgaben nicht ganz genügend gefunden, aber Selbstthätigkeit und überall von Spannung, Eifer und eigenem Nachdenken zeugende Theilnahme am Unterricht lobend hervorgehoben. Zunächst trat ihm aber in den unteren Klassen der Mangel eines starken Gedächtnisses für unzusammenhängende Dinge hinderlich entgegen; „als erstes Zeichen davon“, sagte er 50 Jahre später, „betrachte ich die Schwierigkeit, deren ich mich noch deutlich entsinne, rechts und links zu unterscheiden; später, als ich in der Schule an die Sprachen kam, wurde es mir schwerer als Anderen, mir die Vocabeln, die unregelmässigen Formen der Grammatik, die eigenthümlichen Redewendungen einzuprägen. Der Geschichte vollends, wie sie uns damals gelehrt wurde, wusste ich kaum Herr zu werden. Stücke in Prosa auswendig zu lernen, war mir eine Marter. Dieser Mangel ist natürlich nur gewachsen und eine Plage meines Alters geworden. Gedichte von grossen Meistern behielt ich sehr leicht, etwas gekünstelte Verse von Meistern zweiten Ranges lange nicht so gut.“

Vor allem wirkte nun aber sein Vater mächtig auf seine geistige Entwickelung ein; während derselbe in seinem Hause bestrebt war, bei seinen Kindern, zu denen er stets ein herzliches, wenn auch nicht eigentlich zärtliches Verhältniss unterhalten, den Sinn zu wecken für das Ideale in Kunst, Poesie und Musik, und ihnen zugleich reges patriotisches Gefühl einzupflanzen sich bemühte, las er als anregender Lehrer des Griechischen mit seinen Schülern den Homer und befähigte als Leiter des deutschen Unterrichts durch prosaische Aufsätze und, metrische Uebungen dieselben, ihre Gedanken in den mannigfaltigsten Ausdrucksweisen zu gestalten.

Indem so durch Erziehung und Unterricht während der je ein und einhalb Jahre, die Helmholtz in Quarta und (Seite 12) Tertia zubrachte, mehr die sprachliche Richtung cultivirt und die ästhetische Seite seines Denkens und Fühlens ausgebildet wurde, traten in der Secunda die mathematischen und physikalischen Lehrgegenstände in den Kreis seiner Gymnasialstudien ein. Sehr gerühmt wird von den heute noch lebenden Schülern der Anstalt der Unterricht des Professor C. Meyer, des ersten mathematischen Lehrers von Helmholtz, und wiederholt wird derselbe in den Berichten der Directoren als ganz vorzüglich bezeichnet. Ueberdies zeigt die im Osterprogramm der Anstalt vom Jahre 1838 von ihm veröffentlichte Abhandlung „Ueber die Brennlinien, welche durch die Zurückwerfung des Lichtes von Curven der zweiten Ordnung entstehen“, dass Meyer mit seinen pädagogischen auch wissenschaftliche Interessen verband, und wir verdanken es vielleicht seiner Anregung, wenn Helmholtz öfter, während die Klasse Cicero oder Virgil las, welche beide ihn langweilten, unter dem Tisch den Gang der Strahlenbündel durch Teleskope berechnete und dabei schon einige optische Sätze fand, die ihm nachher bei der Construction des Augenspiegels nützlich werden sollten.

Es fesselten ihn die ersten Bruchstücke der Physik, die er auf dem Gymnasium kennen lernte, mehr, als die rein geometrischen und algebraischen Studien. Aber wenn er auch mit Interesse den physikalischen und chemischen Experimenten folgte, welche Professor Meyer im Laboratorium seinen Schülern vorführte, und auch öfter naturwissenschaftlichen Unterhaltungen seines Vaters mit dem befreundeten mathematischen Collegen beiwohnen durfte, in denen man unter anderem häufig die Frage erörterte, ob ein Perpetuum mobile möglich sei, und die vielen vergeblichen Versuche besprochen wurden, ein solches herzustellen, so trat doch immer stärker der Drang in ihm hervor, durch eigenes Nachdenken sich in diese Fragen zu vertiefen und durch selbstständig erdachte und durchgeführte Versuche seinen Ideenkreis zu erweitern, indem sich schon damals, wie er es (Seite 13) später öfter selbst gestand, dem jungen Schüler mit wunderbarer Klarheit die Einsicht immer fester gestaltete, dass die Kenntniss der Naturgesetze nicht bloss die geistige Bewältigung der Natur liefert, sondern uns auch materielle Macht über dieselbe verleiht, — und dieses Hinauswachsen über den engen Kreis seiner Umgebung und seiner Verhältnisse erstrebte schon damals mit Bewusstsein der jugendfrische Denker.

So betrieb er bei grösster Beschränkung der äusseren Mittel in Gemeinschaft mit einem Freunde den Bau von optischen Instrumenten mit Brillengläsern und einer kleinen botanischen Loupe seines Vaters, indem er die Pläne für die anzustellenden Versuche immer wieder von Neuem umgestaltete, bis er eine für seine Verhältnisse ausführbare Form gefunden, und verschaffte sich die dazu nöthigen Kenntnisse aus den wenigen im Besitze seines Vaters befindlichen altmodischen physikalischen und chemischen Lehrbüchern, „in welche die Entdeckungen von Lavoisier und H. Davy noch nicht eingedrungen waren, das Phlogiston noch eine Rolle spielte, und der Galvanismus mit der Voltaischen Säule abschloss“.

Dass aber der fünfzehnjährige Gymnasiast, den uns seine damaligen Mitschüler als zurückhaltend, gesetzt und gegen die schwächeren von ihnen als stets wohlwollend schildern, sich nicht einseitig den exacten Wissenschaften zuwandte, zeigt uns das erste in der Prima erhaltene Zeugniss, aus welchem ein ziemlich gleichmässiges Interesse für alle Lehrgegenstände ersichtlich ist, und in welchem die Fortschritte im Latein, Griechisch, Hebräisch, Religionslehre, Mathematik, Physik als gut, in Geschichte und Geographie als recht gut bezeichnet werden, und nicht weniger der im August 1837 gefasste Beschluss der Lehrerconferenz, dass in der Michaelis stattzufindenden Redeübung dem Abiturienten, der mit einer deutschen Abschiedsrede auftrat, der Primaner Helmholtz mit einer lateinischen (Seite 14) Ode entgegnen sollte, während schon das folgende Zeugniss aus dem zweiten Semester des Schuljahres 1837/38 neben recht günstigen Urtheilen in den übrigen Lehrgegenständen in der Mathematik und Physik die ausgezeichneten Fortschritte des 16½ jährigen Primaners hervorhebt.

Schon als Secundaner hatte er seinem Vater den Wunsch ausgesprochen, sich den Naturwissenschaften widmen zu dürfen, und als dieser treffliche Mann, der damals schon für die Erziehung von fünf Kindern zu sorgen hatte, ihm erklärte, dass er ihm nicht anders zum Studium der Physik zu helfen wisse, als wenn er das der Medicin mit in den Kauf nähme, so ging Helmholtz ohne Schwierigkeit darauf ein.

Noch im Jahre 1835 wandte sich der Vater mit der Bitte um Aufnahme seines Sohnes an das königl. med. chirurg. Friedrich-Wilhelms-Institut in Berlin, welches die Durchführung des Studiums jungen Medicinern sehr wesentlich erleichterte, indem gegen die Verpflichtung mehrjährigen Dienstes vollständige Studienfreiheit und Lebensunterhalt während der Studienzeit gewährt wurde. „Er hat“, schrieb er, „bis jetzt die schönsten Hoffnungen geweckt, dass er sich in jeder Beziehung gediegen und gründlich entwickeln werde, so dass ich hoffen darf, es sei nicht bloss väterliche Verblendung, wenn ich erwarte, er werde einst etwas Erfreuliches leisten können … Meine Umstände würden mir nicht gestatten, aus eigenen Mittern ihn für diese so kostbaren Studien gehörig auszustatten.“

Aber der Andrang zur Aufnahme in die Anstalt war zu gross, um schon zwei Jahre vor dem Abiturientenexamen dem Vater ein festes Versprechen geben zu können, und derselbe wurde aufgefordert, nach der Versetzung seines Sohnes in die Prima das Gesuch zu erneuern; dies geschah auch, nachdem Helmholtz zu Ostern desselben Jahres von dem Bischof Dr. Eylert confirmirt worden, im October 1836 unter Beilegung des Zeugnisses aus dem II. Semester des Schuljahres 1836/37 und unter wiederholter Berufung von Seiten des Vaters auf (Seite 15) seinen Onkel, den verstorbenen Generalchirurgus Mursinna, „der ihn als Kind erzogen und dem er unendlich viel verdanke“; daraufhin wurde Helmholtz aufgefordert, in den nächsten Osterferien 1837 sich in Berlin zur Prüfung einzufinden.

„Lieber Vater“, schreibt der 16jährige Primaner am 30. März 1837 aus Berlin, „vorgestern bin ich hier im tollsten Schneegestöber angekommen, übrigens sage nur Muttern, dass ich bis auf die Hände, die mir ganz erstarrt waren, gar nicht gefroren habe. Gestern Vormittag ging ich um halb 10 Uhr nach der Pepinière, um halb 11 Uhr wurde ich vorgelassen. Der Generalarzt Schulz war sehr freundlich, erkundigte sich nach Deinem Befinden, prüfte mich, ob ich auch nicht kurzsichtig sei, liess mich von drei anwesenden Pensionärärzten der Höhe nach schätzen, welche meinten, ich wäre etwa vier Zoll hoch, befragte mich wegen meiner Gesundheit, ermahnte mich, meinem quasi Ahnherrn Mursinna nachzueifern und mich seiner würdig zu zeigen, auch mich nicht vor dem Examen zu fürchten; wenn ich auch die vorgelegten Aufgaben und Fragen nicht erschöpfend beantworten könnte, so schade das nichts, es solle nur eine Sondirung meiner Talente sein. Er gab mir dann einen Zettel, an den Pensionärarzt Dr. Figulus abzugeben, der mich examiniren sollte. Diesen traf ich nicht zu Hause an, nach einer Stunde war er auch noch nicht da, erst nach dem Essen traf ich ihn. Er bestellte mich auf heute Morgen hin., Gestern Nachmittag bin ich weit herumgelaufen und ziemlich müde geworden. Heute Morgen um 8 Uhr hat mein Doktorexamen begonnen, ich habe mein Curriculum vitae deutsch und lateinisch machen müssen. Das lateinische habe ich aber noch nicht ins Keine geschrieben. Das Examen ist blos schriftlich. Wie lange es dauern wird, weiss ich noch nicht.“

Der am folgenden Tage verfasste amtliche Bericht des Dr. Figulus lautete: „er ist 5'.4" gross, für sein Alter von kräftiger Körperconstitution, … die Prüfungsarbeiten, die (Seite 16) in sehr kurzer Zeit nach den bestehenden Vorschriften angefertigt wurden, sind gelungene Beweise von den Kenntnissen eines Primaners, und das gesetzte und anständige Benehmen des jungen Helmholtz sprechen für eine gute Erziehung.“ Von den noch heute in den Acten befindlichen Arbeiten ist der über das Thema „welchen Einfluss hat das Studium der Geschichte auf die wissenschaftliche Bildung des Geistes“ in der Clausurprüfung angefertigte Aufsatz durch die Reife des Urtheils und die sittliche Anschauung des 16jährigen Jünglings von hervorragendem Interesse.

Die Nachricht von dem glücklich bestandenen Examen brachte er selbst den erfreuten Eltern nach Potsdam, und nun ging es wieder an die angestrengte und gleichinässige Arbeit für die verschiedenartigsten Lehrgegenstände, denen er sämmtlich mit Interesse und Liebe sich hingab, wenn er auch ein Jahr später nicht umhin kann, in seiner Abiturientenvita zu sagen; „quorum (veterum scriptorum) cognitio quantum valeat ad conformandum aniinum, nemo est, qui ignoret; deinde maxima atque plurima debeo Schmidtio professori, quum aliis in disciplinis, tum in historiis, quibus nihil est praestantius ad cognoscendam naturam hominum et populorum. Pater meus artis poeticae et oratoriae praecepta mihi dedit, quarum illa et jucundissima est et utilissima ad elocutionem elegantem et copiosam. Omnium disciplinarum autem maxime jam a pueritia me delectavit physice et mathematice, quibus eruditus sum a Meierio, viro harum rerum peritissimo.“

Nach einem arbeitsvollen Jahre, in dem der Primaner sich nicht nur auf das Abiturientenexamen vorbereitete, sondern auch schon in Hinsicht auf seinen spateren Beruf als Mediciner naturwissenschaftliche Studien trieb, die ihm früher ferner lagen, wie Zoologie und Botanik, und die Grundlehren der Anatomie aus Oken's Naturgeschichte für alle Stände, die der Physiologie aus Magendie's Lehrbuch sich aneignete, schickte ihn sein auf das körperliche und (Seite 17) geistige Wohl seines Sohnes stets bedachte Vater noch vor seinem Examen in den Harz, wo er in Gemeinschaft mit einigen jungen Primanern grössere, für seinen noch immer nicht ganz festen Körper äusserst zuträgliche Fusstouren unternahm und Natur und Kunst an den Orten, die er berührte, auf sich wirken liess.

Körperlich gekräftigt und geistig erfrischt von der Reise zurückgekehrt, ging nun Helmholtz nach sorgfältiger Vorbereitung in Gemeinschaft mit nur einem Mitschüler in die schriftliche Abiturientenprüfung, die vom 20. bis 25. August dauerte. Während die Uebersetzung von 60 Versen der Euripideischen Hecuba als den Anforderungen vollkommen genügend, die Uebertragung eines zwei Bogenspalten langen Stückes „die Katacomben“ ins Französische als sehr gut bezeichnet wird, spendet ihm der Lehrer des Hebräischen für seine lateinische Erklärung der Stelle Deuteron. IX, 1 bis 3 übergrosses Lob, zumal da der Abiturient als künftiger Mediciner nicht gehalten war, hierin eine Prüfung abzulegen. Wie zu erwarten, musste das Urtheil des Vaters über des Sohnes deutschen Aufsatz „die Idee und Kunst in Lessing's Nathan der Weise“ ein wenig streng ausfallen, aber wenn er auch „die Stellen, wo es auf ein scharfes Auffassen von Begriffen und auf ein Schliessen aus ihnen ankam, schwächer findet, als dies sonst in den deutschen Arbeiten des Examinanden der Fall zu sein pflegte“, so kann er doch nicht umhin, die Sprache natürlich und beweglich zu finden, und der gestrenge väterliche Richter muss die poetische Wirkung des Gedichtes und der Charaktere für das Gefühl im Einzelnen gut ausgesprochen finden in den begeisterten Darlegungen unseres Abiturienten, die in den Worten ausklingen:

„Es war sein Schwanenlied, sein laut durch alle Völker, alle Zeiten hintönendes Schwanenlied, in dem er seines forschungsreichen Lebens höchsten Gedanken aushauchte. Es ist kein Aeschyleisches Sturmgemälde, was uns Beben und (Seite 18) Erstaunen einjagt, es ist keine Darstellung eines Macbeth, den der gewaltige Geist, die ungedämmte Leidenschaft über die Schranken des Menschen hinwegreisst, nein! es ist ein ruhiger, stiller See, auf dessen sanfter Oberfläche wir hinwiegen, und über uns im unendlichen Himmel, unter uns in der feuchten Tiefe des ewigen Schöpfers Geheimnisse ahnen.“

Die vier zur mathematischen Prüfungsarbeit gestellten Aufgaben, von denen zwei geometrischer, zwei arithmetischer Natur waren, löste Helmholtz richtig, und die Behandlung derselben zeigte „grosse Klarheit und Festigkeit des Verfassers“ in den Elementen der Mathematik. Aber er forderte noch eine fünfte, freiwillige Aufgabe, und dieselbe lautete: „Die Gesetze des freien Falls der Körper sollen erörtert werden“. Es zeigt sich in der Behandlung der Aufgabe, wie sie uns jetzt vorliegt, eine ungewöhnliche Klarheit der Begriffe und Präcision des Ausdrucks, und man erkennt leicht, dass der 17jährige Abiturient wiederholt und eindringend über physikalische Fragen nachgedacht hat. Die correcte Umgrenzung des Problems, die in den einleitenden Worten liegt: „Die Schwerkraft wirkt ununterbrochen auf jeden Körper und zwar in umgekehrtem Maasse des Quadrats der Entfernung. Doch wenn wir für unsere Erde die Gesetze des Falls suchen, können wir sie als gleichmässig in jeder Höhe wirkend ansehen, da die Höhen, welche wir erreichen können, einen zu unmerkbaren Unterschied bewirken“, deutet schon in ihren Anfängen auf die spätere schöpferische Kraft bei der Vertheilung der Schwierigkeiten in den Untersuchungen der Mechanik und Physik; der der Infinitesimalrechnung noch unkundige Gymnasiast denkt sich, um die Lösung der Auf gabe anzugreifen, „der leichteren Betrachtung wegen die Schwerkraft nicht als continuirlich wirkend, sondern theilt die Zeit t, während welcher ein Körper fällt, in n gleiche Theile, deren jeden wir mit τ bezeichnen wollen, und sehen es dann so an, als wirke die Schwerkraft nur am Anfange jedes Zeittheilchens, so dass sie dem fallenden Körper die Geschwindigkeit (Seite 19) γ einflösst“ — und nun entwickelt er in strengen arithmetischen Schlüssen das Gesetz des freien Falls und des senkrechten Wurfs lediglich mit den elementarsten mathematischen Hülfsmitteln.

Das mündliche Examen fand am 12. September 1838 statt, und mit einem glänzenden Zeugniss verliess der junge Helmholtz das Gymnasium:

„Der Abiturient zeichnete sich stets durch ein höchst anständiges und bescheidenes Betragen aus. Sein äusserlich ruhiges und still gehaltenes Wesen ist mit grosser Beweglichkeit des Geistes verbunden. Hierin giebt sich eine treffliche Mischung von klarer und besonnener Verständigkeit und tiefer Gemüthlichkeit zu erkennen. Seine Sitten zeugen von einer treu bewahrten seltenen Reinheit und wahrhaft kindlicher Unverdorbenheit. Diese Eigenschaften machen bei der übrigen Reife und Kräftigkeit seiner geistigen Entwickelung einen ebenso wohlthuenden und herzgewinnenden Eindruck, als sie die begründete Hoffnung geben, dass ein solcher Grund und Boden des geistigen Lebens nur die besten und erfreulichsten Früchte tragen werde.

Sprachen: In der deutschen Sprache hat der Abiturient die Fähigkeit entwickelt, sich selbst tiefere fremde Gedanken so anzueignen, dass sie ihm productiv werden für eigene Ideen: er fasst das Ueberkommene scharf und in seinen wesentlichen Theilen auf und hat sich über die Sprache schon eine solche Herrschaft erworben, dass er den Ausdruck der Gedanken frei und unbeengt aus sich gestalten kann, und obgleich in der Regel zu gedrängt und schmucklos schreibend, doch, wenn er will, eines blühenden Styles Herr ist. …

Mathematik: Festigkeit in den Elementen, scharfe Auffassung und Gründlichkeit in eigenen Arbeiten haben es bei ihm möglich gemacht, dass er die Grenze des Gymnasialcursus überschreiten konnte. Seine gediegenen Kenntnisse in der Mathematik und namentlich die erworbene Kraft durch (Seite 20) Selbststudium, sicher vorwärts zu schreiten, verdienen mit Auszeichnung genannt zu werden.

Physik: In dieser Doctrin besitzt der Abiturient umfassende und gründliche Kenntnisse, welche durch eindringende Schärfe der Auffassung, durch innern Zusammenhang und durch Anwendung der ihm zu Gebote stehenden mathematischen Hülfe auch für die Folge gesichert bleiben werden.

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Die unterzeichnete Prüfungscommission entlässt ihn unter Bezeugung ihres vorzüglichen Beifalls mit den besten Glück- und Segenswünschen zur Fortsetzung seiner so glücklich begonnenen Studien.“

Das Lehrercollegium des Potsdamer Gymnasiums konnte später mit Recht stolz sein auf die Ausbildung, die es dem jungen Manne hatte zu Theil werden lassen. „Man bestrebte sich, uns viel lesen zu lassen, und schliesslich konnten wir die Schriftsteller, für die wir etwas eingeübt waren, mit Leichtigkeit lesen, und haben auch privatim, ausserhalb der Schulstunden, theils dies gethan, theils daneben noch fremde Sprachen getrieben. Ich habe Englisch und Italienisch auf der Schule privatim getrieben, auch Hebräisch mitgemacht, und sogar noch eine besonders gute Note im Hebräischen bekommen. Sogar Arabisch habe ich in Prima angefangen bei einem Lehrer, der Arabisch konnte, und das Alles ging ganz gut nebenbei.“ Er las noch später in seinen Mussestunden die Fabeln des Lokmân in der Ursprache.

Sogleich nach Empfang des Abiturientenzeugnisses wandte sich am 16. September sein Vater an den General-Stabsarzt v. Wiebel: „ich empfehle den guten Zögling, meinen grössten Schatz, auf dessen Erziehung ich meine besten Kräfte verwandt habe, der väterlichen Fürsorge eines wegen seiner Güte so gepriesenen Mannes. … Möge mein Sohn Ihnen diesen Dank dereinst im reichsten Maasse zahlen, dass Sie (Seite 21) mit freudigem Stolz auf ihn herabschauen.“ Der Vater musste sich bereit erklären, dem Sohne für die Zeit seiner Studien eine monatliche Zulage von sechs Thalern zukommen zu lassen und dieselbe in vierteljährlichen Raten pränumerando an die Kasse des Institutes auszuzahlen, während der Eleve verpflichtet wurde, nach der auf königl. Kosten bewirkten, fünf Jahre währenden Ausbildung als Compagnie- oder Escadron-Chirurgus zu dienen und zwar acht hinter einander folgende Jahre.

So trat nun Hermann Helmholtz, von Wissensdurst getrieben und von tiefer innerer Liebe zu den Naturwissenschaften beseelt, denen seine Zukunft geweiht sein sollte, in ein neues Leben ein, zu seinem eigenen Glücke und zum Segen der wissenschaftlichen Welt nicht einseitig ausgebildet, sondern vermöge seiner individuellen Naturanlage und Dank den rastlosen Bemühungen seiner Eltern, deren geistiges Niveau sich stets auf idealer Höhe gehalten, getragen von Begeisterung und Liebe für Musik und Poesie, für Kunst und Wissenschaft.


S. 9 - 21 aus:
Koenigsberger, Leo: Hermann von Helmholtz. - Braunschweig : Vieweg
Band 1. - 1902


Letzte Änderung: 24.05.2014     Gabriele Dörflinger   Kontakt

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