Leo Koenigsberger: Hermann von Helmholtz

Helmholtz als Professor der Anatomie und Physiologie in Bonn
von Michaelis 1855 bis Michaelis 1858


Anfang des Kapitels

Das letzte Jahr in Bonn

(Seite 307) Das letzte Jahr des Bonner Aufenthaltes hatte noch eine Reihe wichtiger Arbeiten gezeitigt; die schwierigen Probleme der Akustik hatten ihn schon seit zwei Jahren dazu geführt, sich immer mehr in die Anwendung der Green'schen Sätze auf hydrodynamische und aerodynamische Probleme zu vertiefen. So behandelte er im Jahre 1857 in einer genialen, den Mathematiker ersten Ranges erweisenden Arbeit, die betitelt war „Ueber Integrale der hydrodynamischen Gleichungen, welche den Wirbelbewegungen entsprechen“, und im folgenden Jahre im Journal für die reine und angewandte Mathematik erschien, die Lösung äusserst schwieriger hydrodynamischer Probleme, indem er die früher zur Behandlung derselben gemachten Voraussetzungen und Beschränkungen fallen liess und zu Analogien der Wasserbewegungen mit den elektromagnetischen Wirkungen elektrischer Ströme geführt wurde, welche für seine späteren Arbeiten in der Theorie der Elektricität und des Magnetismus von grosser Bedeutung werden sollten. Während bisher Integrale der hydrodynamischen Gleichungen fast nur unter der Voraussetzung gesucht wurden, dass die rechtwinkligen Componenten der Geschwindigkeit jedes Wassertheilchens sich aus einer bestimmten Function, welche Helmholtz das Geschwindigkeitspotential nannte, als Differentialquotienten nach den Coordinaten ergeben, — eine Voraussetzung, die stets erlaubt war, so oft die Bewegung der Wassermasse unter dem Einfluss von Kräften vor sich ging, welche selbst ein Potential haben — hob Helmholtz diese Beschränkung auf, berücksichtigte auch die Reibung der (Seite 308) Flüssigkeitstheilchen an einander und an festen Körpern, deren Einfluss auf Flüssigkeiten bisher noch nicht mathematisch definirt werden konnte, und suchte die Formen der Bewegung zu bestimmen, welche die Reibung in der Flüssigkeit hervorbringt. Indem er von den Bewegungsgleichungen für die inneren Punkte einer tropfbaren Flüssigkeit ausgeht, denkt er sich die Veränderung, welche irgend ein unendlich kleines Wasservolum in einem unendlich kleinen Zeittheilchen erleidet, zusammengesetzt aus drei verschiedenen Bewegungen: einer Fortführung des Wassertheilchens durch den Raum hin, einer Ausdehnung oder Zusammenziehung des Theilchens nach drei Hauptdilatationsrichtungen — wobei ein jedes aus Wasser gebildete rechtwinklige Parallelepipedon, dessen Seiten den Hauptdilatationsrichtungen parallel sind, rechtwinklig bleibt — und endlich einer Drehung um eine beliebig gerichtete temporäre Rotationsaxe. Er findet nun zunächst durch streng mathematische Deductionen, dass in den Fällen, in denen ein Geschwindigkeitspotential existirt, die kleinsten Wassertheilchen keine Rotationsbewegungen haben, wohl aber ist wenigstens ein Theil der Wassertheilchen in Rotation begriffen, wenn kein Geschwindigkeitspotential existirt. Nimmt man nun an, dass alle Kräfte, welche auf die Flüssigkeit wirken, ein Kräftepotential besitzen, so ergiebt sich leicht, dass diejenigen Wassertheilchen, welche nicht schon von Anfang an eine Rotationsbewegung haben, auch im Verlaufe der Zeit nicht in Rotation kommen können. Nennt man nun Wirbellinien solche Linien, welche durch die Flüssigkeit so gezogen sind, dass ihre Richtung überall mit der Richtung der augenblicklichen Rotationsaxe der in ihnen liegenden Wassertheilchen zusammentrifft, so folgt wiederum aus den hydrodynamischen Gleichungen, dass eine jede Wirbellinie fortdauernd aus denselben Wassertheilchen zusammengesetzt bleibt, während sie mit diesen Wassertheilchen in der Flüssigkeit selbst fortschwimmt. Da sich aber ferner leicht aus den Ausdrücken für die (Seite 309) Rotationsgeschwindigkeit ergiebt, dass die Grösse derselben in einem bestimmten Wassertheilchen in demselben Verhältnisse sich verändert, wie der Abstand dieses Wassertheilchens von seinen Nachbarn in der Rotationsaxe, so folgert Helmholtz — indem er einen aus der Flüssigkeit herausgetheilten Faden von unendlich kleinem Querschnitt einen Wirbelfaden nennt, wenn derselbe durch Wirbellinien gebildet wird, welche durch alle Punkte des Umfanges einer unendlich kleinen Fläche gelegt sind — dass das Product aus der Rotationsgeschwindigkeit und dem Querschnitte in einem aus denselben Wassertheilchen bestehenden Stücke eines Wirbelfadens bei der Fortbewegung desselben constant bleibt, dass aber dieses Product auch selbst in der ganzen Länge desselben Wirbelfadens seinen Werth nicht ändert. Die Wirbelfäden müssen daher innerhalb der Flüssigkeit in sich zurücklaufen oder können nur an deren Grenzen endigen. Hieraus folgt aber unmittelbar, dass, wenn man die Bewegung der in der Flüssigkeit vorhandenen Wirbelfäden bestimmen kann, die Rotationsgeschwindigkeit sich daraus herleiten lässt, und dass die Geschwindigkeiten der Wassertheilchen für einen gewissen Zeitpunkt bestimmt sind, wenn für denselben die Rotationsgeschwindigkeiten gegeben sind bis auf eine unbestimmte, zur Erfüllung der Grenzbedingungen verwendbare Function. Diese Bestimmung der Geschwindigkeiten ist an den überaus wichtigen Satz gebunden, dass jedes rotirende Wassertheilchen in jedem anderen Theilchen derselben Wassermasse eine Geschwindigkeit bedingt, welche senkrecht gegen die durch die Rotationsaxe des ersten Theilchens und das zweite Theilchen gelegte Ebene steht; die Grösse dieser Geschwindigkeit ist direct proportional dem Volumen des ersten Theilchens, seiner Rotationsgeschwindigkeit und dem Sinus des Winkels zwischen der Verbindungslinie der beiden Theilchen und der Rotationsaxe, umgekehrt proportional dem Quadrate der Entfernung beider Theilchen. Da aber genau dasselbe Gesetz (Seite 310) für die Kraft existirt, welche eine in dem ersten Theilchen befindliche elektrische, der Rotationsaxe parallele Strömung auf ein in dem zweiten Theilchen befindliches magnetisches Theilchen ausüben würde, so findet Helmholtz mit Zugrundelegung der Definition eines n-fach zusammenhängenden Raumes — nach welcher durch denselben n-1, aber nicht mehr Schnittflächen gelegt werden können; ohne den Raum in zwei vollständig getrennte Theile zu zerstückeln — das für den Ausbau der Elektricitätslehre so bedeutungsvoll gewordene Gesetz: wenn in einem einfach zusammenhängenden, mit bewegter Flüssigkeit gefüllten Raume ein Geschwindigkeitspotential existirt, so sind die Geschwindigkeiten der Wassertheilchen gleich und gleichgerichtet den Kräften, welche eine gewisse Vertheilung magnetischer Massen an der Oberfläche des Raumes auf ein magnetisches Theilchen im Innern ausüben würde; wenn dagegen in einem solchen Räume Wirbelfäden existiren, so sind die Geschwindigkeiten der Wassertheilchen gleich zu setzen den auf ein magnetisches Theilchen ausgeübten Kräften geschlossener elektrischer Ströme, welche theils durch die Wirbelfäden im Innern der Masse, theils in ihrer Oberfläche fliessen, und deren Intensität dem Product aus dem Querschnitt der Wirbelfäden und ihrer Rotationsgeschwindigkeit proportional ist. Indem der ersten Bewegung ein eindeutiges Geschwindigkeitspotential, der zweiten in den nicht rotirenden Wassertheilchen ein mehrdeutiges Geschwindigkeitspotential entspricht, genügt es also, bei den hydrodynamischen Integralen der ersten Art die Bewegung der Oberfläche zu kennen; bei denen der zweiten Art ist noch die Bewegung der innerhalb der Flüssigkeit befindlichen Wirbelfäden unter ihrem gegenseitigen Einfluss und mit Berücksichtigung der Grenzbedingungen zu bestimmen, was Helmholtz auch für gewisse einfache Fälle gelingt, wo Rotation der Wassertheilchen nur in gewissen Flächen oder Linien vorkommt, und die Gestalt dieser Flächen und Linien bei der (Seite 311) Fortbewegung unverändert bleibt, wie z. B. bei geradlinig parallelen oder kreisförmigen Wirbelfäden — Sätze und Resultate, die in ihrem rein mathematischen Inhalte Grundgesetze der modernen Functionentheorie bilden. Interessant sind die Resultate, die sich für ringförmige Wirbelfäden hieraus ergeben. Haben zwei solche von kleinem Querschnitt gleiche Axe und gleiche Rotationsrichtung, so schreiten sie beide in gleichem Sinne fort, und es wird der vorangehende sich erweitern, dann langsamer fortschreiten, der nachfolgende sich verengern und schneller fortschreiten, schliesslich, wenn die Fortpflanzungsgeschwindigkeiten nicht zu verschieden sind, den anderen einholen, durch ihn hindurch gehen, und nun wird sich dasselbe mit dem anderen Ringe wiederholen; ähnliche Eigenschaften gelten für entgegengesetzte Rotationsrichtungen.

Als zehn Jahre später Tait die Arbeit von Helmholtz über Wirbelbewegungen übersetzen wollte und ihm seinen Plan dazu darlegte, erwiderte dieser:

„Wenn Sie die Quaternions zu ihrer Darstellung nützlich finden, wäre sehr zu wünschen, dass Sie eine kurze Einleitung über diese selbst gäben, soweit als zum Verständniss der Anwendung auf die Wirbelbewegungen nöthig ist; denn bisher habe ich, wenigstens in Deutschland, noch keinen Mathematiker gefunden, der zu sagen gewusst hätte, was die Quaternions sind, und ich selbst bin, wie ich gestehen muss, immer noch zu träge gewesen, es mir aus den vielen kleinen Aufsätzen von Hamilton im Zusammenhange herauszusuchen.“

Gegen die von Helmholtz gemachte Annahme, dass die Bewegung eines unendlich kleinen Wasservolums zusammengesetzt gedacht werden kann aus einer Fortführung des Wassertheilchens durch den Raum hin, einer Ausziehung oder Zusammenziehung des Theilchens nach drei Hauptdilatationsrichtungen — wobei ein jedes aus Wasser gebildete rechtwinklige Parallelepipedon, dessen Seiten den (Seite 312) Hauptdilatationsrichtungen parallel sind, rechtwinklig bleibt, während seine Seiten zwar ihre Länge ändern, aber ihren früheren Richtungen parallel bleiben — und endlich aus einer Drehung um eine bestimmt gerichtete temporäre Rotationsaxe richteten sich die im Jahre 1868 von Bertrand erhobenen Einwürfe, welche die Allgemeinheit seiner Methode anzweifelten. Die Behauptung desselben, dass man in einer grossen Anzahl von Fällen auch schiefe Parallelepipede mit einer bestimmten Richtung ihrer Kanten construiren könne, welche sich in andere Parallelepipede transformiren, deren Kanten parallel denen des ersteren bleiben, erledigt Helmholtz in drei in den Comptes rendus von 1868 veröffentlichten Noten „Sur le mouvement le plus générale d'un fluide“, „Sur le mouvement des fluides“ und „Réponse à la Note de M. J. Bertrand du 19. octobre“, indem er zeigt, dass die von Bertrand definirte Bewegung aus der Combination einer Rotation und drei rechtwinkligen Dilatationen zusammengesetzt werden kann, und „dass er unter Dilatationen nicht Translationen verstanden habe“.

An das von Helmholtz aufgestellte Gesetz, dass ein in einer Flüssigkeit reibungslos existirender Wirbel eine für alle Zeiten unveränderliche Grösse darstellt, hat W. Thomson seine Vorstellung über die Constitution der Materie geknüpft. Er hält die Analogie des Satzes von der Erhaltung des Wirbels mit dem von der Erhaltung der Materie auch für eine innerliche, sieht die Atome als Aetherwirbel an und neigt sich der Ansicht zu, dass die chemische Verschiedenheit der Atome darin bestehe, dass wir es in ihnen mit verschiedentlich geknoteten Wirbelringen zu thun haben.

Nachdem er diese Arbeit beendet, die zunächst nur den mathematischen Physikern verständlich war, und die Kirchhoff stets mit der im folgenden Jahre veröffentlichten üher Luftschwingungen in Röhren zu seinen bedeutendsten mathematisch-physikalischen Leistungen gezählt hat, beschäftigten ihn in den letzten Monaten seiner Bonner Thätigkeit auch (Seite 313) noch seine optischen und akustischen Untersuchungen, und er legte am 3. Juli 1858 der Niederrheinischen Gesellschaft einige Betrachtungen „Ueber die subjectiven Nachbilder im Auge“ vor, die er später in seiner Physiologischen Optik weiter ausführte. Helmholtz war schon bei seinen früheren Arbeiten über die Mischung der Farben in dem Bestreben, die Young'sche Theorie von den roth-, grün- und violett-empfindenden Sehnervenfasern zu stützen, zu dem Schlusse gekommen, dass die Spectralfarben noch nicht die gesättigtsten Farben seien, welche in der Empfindung des Auges vorkommen können. Indem er diese letztere Thatsache wirklich erweisen wollte, prüfte er zunächst die von Fechner aufgestellte Theorie der subjectiven Nachbilder im Auge. Wenn man auf einen hellen Gegenstand geblickt hat, und dann die Augen auf vollkommenes Dunkel gewendet werden, zeigt sich im Anfange ein positives Nachbild, d. h. die hellen Stellen des Objectes erscheinen hell, die dunkeln dunkel; auf gleichmässig erleuchteten Flächen dagegen zeigt sich das Nachbild meistens negativ, d. h. die hellen Stellen des Objectes erscheinen dunkel, die dunkeln hell. Nach Fechner soll der Grund für diese Erscheinung darin bestehen, dass die positiven Nachbilder aus einer nachbleibenden Reizung der vom Licht getroffenen Netzhautstellen entstehen, die negativen aus ihrer Ermüdung, vermöge deren sie gegen neu einfallendes Licht weniger empfindlich geworden sind; die Stärke der Beleuchtung einer Fläche, welche nöthig ist, um das positive Nachbild, welches auf dunklem Grunde erscheint, in ein negatives zu verkehren, nimmt mit der Zeit ab.

Nachdem er diese Fechner'sche Erklärung durchaus bestätigt gefunden, erzeugte er Nachbilder von reinen prismatischen Farben in seinem Auge, betrachtete diese auf einem Felde, welches mit einer anderen prismatischen Farbe überzogen war, und fand, dass die Erscheinungen sich nicht von denen unterscheiden, welche durch Betrachtung der Farben von Naturkörpern und Farbstoffen entstehen. (Seite 314) Interessant war nun aber der Fall, wo er einen von einer Spectralfarbe hell beleuchteten runden Fleck ansah und dessen Nachbild auf einem von der Complementärfarbe überzogenen und von diffusem weissen Licht vollständig gereinigten Felde betrachtete; es erschien dann in dem Nachbilde die Complementärfarbe reiner und gesättigter als in der Umgebung des Nachbildes. Helmholtz folgerte daraus, dass, obgleich die prismatischen Farben die reinsten und gesättigtsten, d. h. von eingemischtem Weiss freiesten Farben sind, welche die Natur uns bietet, doch auf dem angegebenen Wege die Empfindung einer noch gesättigteren Farbe erregt werden könne, gegen welche die reinsten prismatischen Farben weisslich erscheinen.

Helmholtz brachte in den letzten Tagen des August seine Familie nach Heidelberg, wo ihm sogleich eine grosse Ehrung zu Theil wurde; die jung entstandene ophthalmologische Gesellschaft überreichte ihm einen Pokal mit der Inschrift: „Dem Schöpfer der neuen Wissenschaft, dem Wohlthäter der Menschheit in dankbarer Erinnerung an die Erfindung des Augenspiegels“(*). Im September besuchte er das Meeting der British Association in Aberdeen, und danach die Naturforscherversammlung in Karlsruhe, der Hauptstadt des Landes, dem er nunmehr 13 Jahre lang seine gewaltigen Kräfte weihen sollte. In einem Vortrag „Ueber Nachbilder“ theilte er dort die oben besprochenen Versuche und Resultate kurz mit, und gab in einem zweiten Vortrage „Ueber die physikalische Ursache der Harmonie und Disharmonie“ im Wesentlichen und sehr gedrängt den Anschauungen Ausdruck, welche er bereits ein Jahr früher in Bonn, der Vaterstadt Beethoven's, „des gewaltigsten unter den Heroen der Tonkunst“, in einem herrlichen Vortrage „Ueber die physiologischen Ursachen der musikalischen Harmonie“ einer grossen Versammlung begeisterter Zuhörer gegenüber ausgesprochen. Wie schon früher bei seinen optischen Untersuchungen betrat er auch hier wieder in der Akustik das ästhetische Gebiet. (Seite 315)

„Unter allen Feldern, in denen ich. gearbeitet habe“, sagte er 40 Jahre später, „habe ich mich in der Musik am meisten als Dilettant gefühlt. Kunst und Wissenschaft sind ja in allen äusseren Beziehungen und in der Methodik der Arbeit sehr verschiedene Gebiete; sonst muss ich doch sagen, dass ich von der tiefen inneren Verwandtschaft der Kunst und Wissenschaft überzeugt bin. Auch die Kunst sucht uns Wahrheiten zu verkünden, psychologische Wahrheiten, wenn auch in ganz anderer Form sinnlicher Erscheinungen und nicht in der Form des Begriffs. Aber schliesslich wird sich bei vollendeter Erscheinung ja auch die begriffliche Fassung finden müssen, und beide werden schliesslich vereint zusammen wirken.“

Dies war der Boden, auf dem er stand, als er die physikalische und physiologische Optik und Akustik in einer für die kommende Zeit maassgebenden Form mit der Aesthetik verknüpfte.

Ausgehend von der bekannten Erscheinung, dass, wir das Zittern der Luft bei starken Tönen auch mit der Haut fühlen, zeigt er in seinem Vortrage, wie die Lufterschütterung erst zum Schalle wird, wenn sie das hörende Ohr trifft, und entwickelt dann zunächst seine schon früher dargelegten Anschauungen über die Correspondenz der Klangfarbe und Wellenform; er bespricht eingehend seine Theorie des Grundtones und der Obertöne und hebt hervor, dass die Obertöne in die nicht näher zu bezeichnende Eigentümlichkeit des Tones aufgehen, die man Klangfarbe nennt; so rechtfertigt er, da die Existenz der Obertöne von der Wellenform abhängt, die Identificirung der Klangfarbe mit der Wellenform. Da nun die Schnecke des Ohres durch ausgespannte Membranen in drei Abtheilungen geschieden ist, in deren mittlerer unzählige mikroskopisch kleine Plättchen wie die Tasten eines Claviers regelmässig neben einander liegen, welche an ihrem einen Ende mit den Fasern des Hörnerven in Verbindung stehen, an ihrem anderen der (Seite 316) ausgespannten Membran anhängen, und da damals elastische Anhängsel der Nervenenden entdeckt worden, welche die Form steifer Härchen haben, so hielt es Helmholtz für wahrscheinlich, dass jedes derartige Anhängselchen ähnlich den Saiten des Claviers auf einen Ton abgestimmt ist, und dass jeder aussen erregte Ton nicht nur das seinem Grundton entsprechende Plättchen im Corti'schen Organe in Mitschwingung versetzt und die zugehörigen Nervenfasern erregt, sondern auch die den Obertönen entsprechenden Plättchen, wodurch die Obertöne ebenso gut empfunden werden müssen als der Grundton. Daraus folgert er, dass, streng genommen, für die Empfindung alle Töne der musikalischen Instrumente als Accorde mit vorwiegendem Grundton zu betrachten sind. Freilich ist immer eine Art der Aufmerksamkeit nöthig, um die Obertöne zu vernehmen, doch war es ihm gelungen, die Obertöne der menschlichen Stimme zu hören, und sogar andere Personen sie hören zu lassen.

Die schon von Pythagoras gemachte Entdeckung, dass Schwingungen von einfachem Zahlenverhältniss, wie Octave, Quint, Duodecime, grosse Terz, einen angenehmen Eindruck hervorbringen, während die Töne von mehr verwickeltem Verhältniss der Schwingungszahl dissonant sind, hatte in der Annahme, dass die Seele an dem einfachen Verhältniss der Schwingungen Vergnügen empfinde, offenbar keine genügende Erklärung gefunden.

„Mathematik und Musik, der schärfste Gegensatz geistiger Thätigkeit, den man auffinden kann, und doch verbunden, sich unterstützend, als wollten sie die geheime Consequenz nachweisen, die sich durch alle Thätigkeiten unseres Geistes hinzieht und die uns auch in den Offenbarungen des künstlerischen Genius unbewusste Aeusserungen geheimnissvoll wirkender Vernunftmässigkeit ahnen lässt.“

Schon die früheren akustischen Arbeiten von Helmholtz und Anderen ergaben, wenn zwei Töne nur annähernd gleiche Schwingungsdauer haben, und ihre Wellenberge (Seite 317) anfangs zusammenfallen, so dass sie sich verstärken, dass allmählich die Berge des einen denen des anderen voraneilen und abwechselnde Steigungen und Schwächungen des Tones erzeugen, die man Schwebungen nennt, und welche, wenn sie immer schneller werden, sich in eine continuirliche Tonempfindung zusammensetzen. Ist nun das Verhältniss der Grundtöne genau 2 zu 3, so sind auch die beiden Obertöne von sechs Schwingungen, deren Existenz sich früher ergab, genau gleich und stören die Harmonie der Grundtöne nicht; ist jenes Verhältniss jedoch nur angenähert wie 2 zu 3, so sind die beiden Obertöne nicht genau gleich, sondern machen mit einander Schwebungen, und der Ton wird rauh. Harmonie und Disharmonie scheiden sich dadurch, dass in der ersten die Töne neben einander so gleichmässig abfliessen, wie jeder einzelne Ton für sich, während in der Disharmonie Unverträglichkeit stattfindet, und die Töne sich gegenseitig in einzelne Stösse zertheilen, welche den Hörer quälen und ihn sich nach Harmonie sehnen lassen. Helmholtz schliesst mit einer Gegenüberstellung von Auge und Ohr, indem er hervorhebt, dass das Auge zusammengesetzte Lichtwellensysteme, d. h. zusammengesetzte Farben, nicht von einander scheiden könne, und es dem Auge gleichgültig sei, ob in der Mischfarbe Grundfarben von einfachen oder nicht einfachen Schwingungsverhältnissen vereinigt sind. Das Auge hat keine Harmonie in dem Sinne wie das Ohr, es hat keine Musik. „Die Erscheinungen des rein sinnlichen Wohlklanges sind freilich erst der niedrigste Grad des musikalisch Schönen. Für die höhere und geistige Schönheit der Musik sind Harmonie und Disharmonie nur Mittel, aber wesentliche und mächtige Mittel.“

Ende September 1858 betrat nun Helmholtz das schöne Heidelberg als neuen heimathlichen Boden und schuf dort im Verein mit Bunsen und Kirchhoff eine Zeit des Glanzes, „wie sie selten für eine Universität da war und nicht leicht wiederkehren wird“.


S. 307 - 317 aus:
Koenigsberger, Leo: Hermann von Helmholtz. - Braunschweig : Vieweg
Band 1. - 1902


Anmerkung (Gabriele Dörflinger):
(*)   Seine zweite Frau Anna von Mohl schreibt am 1. März 1861 an ihre Tante Mary Mohl in Paris:
… Ich befinde mich bereits im Besitze des gesamten Silbergerätes, welches in Wahrheit nicht sehr zahlreich ist; es gibt weder Kessel noch Teekanne, dafür aber einen riesengroßen Silberpokal, auf welchem eingraviert steht: „Dem Schöpfer einer neuen Wissenschaft, dem Wohltäter der Menschheit“ und alsdann eine Menge naturwissenschaftlicher Namen. Außerdem gibt es eine silberne Plakette, groß wie ein Servierbrett mit Namen und Dankesworten seiner jungen Zuhörer in Königsberg. …
Quelle: Helmholtz, Anna von: Anna von Helmholtz : ein Lebensbild in Briefen. - Berlin. - Band 1 (1929), S. 329


Letzte Änderung: 24.05.2014     Gabriele Dörflinger   Kontakt

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