Betty Johannes, geb. von Velten
Biographie von Olga und Hermann Helmholtz
circa 1902

(Seite 193) Olga von Velten, die jüngere Tochter des Oberstabsarztes v. Velten, war am 4. November 1826 zu Riesenburg in Westpreussen geboren. Frau v. Velten, sehr jung verwittwet, zog mit ihren beiden kleinen Töchtern von 4 und 6 Jahren zurück in ihre Heimath Potsdam, wo ihr ein Bruder lebte, ebenfalls Oberstabsarzt bei den Garde-Husaren, und wo sie in einen Kreis angesehener hochgebildeter Menschen zurückkehrte, der ihr einen gesellschaftlichen Halt und für ihre Kinder die Möglichkeit einer guten Erziehung bot. Sie war die Tochter des verstorbenen Hofrath Puhlmann, Direktor der durch Friedrich den Grossen gegründeten Gemäldegalerie, Hofmaler und Conservator, dem der Ruhm gebührt, den ersten Entwurf für das Grabmal des Grafen von der Mark in der Dorotheenstädtischen Kirche zu Berlin gemacht zu haben, den Schadow dann zu seinem berühmten Meisterwerk benutzte. Auch von der Seite unseres Vaters lag ein gewisser historischer Schimmer über unserem Elternhaus, der wohl von Einfluss war auf die (Seite 194) geistige Eigenart der heranwachsenden Kinder. Vater war der Sohn jenes Kornett Velten von den Ziethenhusaren, der in der Schlacht bei Kunersdorf, schon auf dem Rückzug in vollem Rosseslauf, den König bemerkte, der allein auf einer Erhöhung des Schlachtfeldes stehend, den Degen vor sich in der Erde gestossen, dem Tode oder der Gefangennahme entgegensah — in stumpfer Verzweiflung. Velten machte seinen Rittmeister v. Prittwitz aufmerksam ,,Herr Rittmeister, da steht der König'' — man schlug sich zu ihm durch und auf des Grossvaters Pferd entrann der König glücklich. Der Grossvater avancirte, wurde geadelt, war 11 Jahre lang Zietens Adjutant, bekam den Pour le mérite und wurde in der Rheincampagne auf einem Recognoscirungsritt erschossen. Die Tradition beider Grossväter wurde in unserem Hause hoch gehalten und die grundlegenden Ideen unserer Erziehung waren die, eines warmen und starken Patriotismus und einer sorgsam gepflegten Begeisterung für künstlerisches und ideale Lebensbedürfnisse. Aus dieser Kinderstube wuchs Olga v. Velten in ein, ihrer Erziehung und Begabung conformes, gesellschaftliches Milieu hinein. Wir hatten den denkbar besten Kreis in dem nicht mit Unrecht wegen seines Kastengeistes verrufenen Potsdam. Die sorgfältigste häusliche Ueberwachung unserer Entwicklung durch eine ausgezeichnete Mutter, geistige Anregung bei einfachster Lebensform, Ausbildung in allem wozu Talent und Neigung uns befähigten, Musik, Sprachen, Litteratur, gesellschaftliche Formen und endlich und nicht zuletzt, sittlicher Ernst bei unbefangener Empfänglichkeit für die Freude am Dasein — das waren die Elemente einer Erziehung, deren Segen uns durch alle Wandlungen des Lebens fühlbar geblieben sind.

In dies Haus nun trat Helmholtz ein, zu Anfang ein etwas fremdartiger Gast. Sehr ernst und innerlich, etwas ungewandt und beengt unter zum Theil lebhaft angeregten und weltkundigen jungen Männern, war es ganz charakteristisch, was man mir bei seiner Vorstellung sagte: ,,Ein sehr gescheiter Mensch, aber sie müssen ihn erst ausgraben.[''] Das wurde denn in der That eine Schatzgräberei. (Seite 195) Er, der es aussprach, dass ihm unser Haus zuerst nicht den Eindruck des gewöhnlichen Lebens, sondern den einen schönen Novelle gemacht hatte, war nicht nur bald organisch eingefügt in das Wesen dieses Hauses, sondern er war der unscheinbare Vermittler, der die meisten Fäden der geistigen Interessen desselben in seiner Hand zusammenhielt, dessen Unheil bestimmend wurde, dessen stiller Anregung das beste zu danken war.

Es wurde im Haus und ausser demselben, zu Wasser und zu Lande, viel und gute Musik gemacht — meine Schwester sang sehr schön — seine Theilnahme, sein Urtheil, wurde bald der Maasstab für uns alle. Er lehrte uns Shakespeare, Be[e]thoven gründlich verstehen und lieben, wir lasen zusammen, auch mit vertheilten Rollen. Er las ungewöhnlich gut und spielte fast künstlerisch Komödie. Wunderbarerweise waren es hier besonders die humoristischen Parthien die ihm zusagten und speciell die mit einem Stich ins Groteske. Er dichtete allerliebst, kleine Huldigungen für uns Mädchen und that all das so einfach und selbstverständlich wie die gewöhnlichste Lebensäusserung. So wuchs er untrennbar fest ein in unser Dasein und es zeitigte sich in ihm und meiner Schwester, was sie wohl beide vom ersten Erkennen wie eine zweifellose Schicksalsfügung angesehen hatten, die Erkenntniss, dass sie fürs Leben zusammen gehörten. Die innigste stärkste Liebe verband sie und ein Anpassen der gegenseitigen Naturen wozu allerdings der Stoff gegeben war, was sich aber durch uneingeschränkte Achtung vor einander mit Willen und Bewusstsein zu der vollkommensten Einheit entwickelte. Olga war nicht schön, aber fein und anmuthig — nicht lebhaft hervortretend, aber mit Verstand aufmerkend und scharf beobachtend. Ihr Geist schlagfertig, amüsant, witzig, bis zum Sarkasmus scharf. Vor allem aber und als unmittelbarer und bleibendster Eindruck, lag über ihr wie ein holdes Wunder, ein Hauch von Weiblichkeit und einfacher, schlichter Reinheit — etwas ganz Unwiderstehliches. Wie sehr Helmholtz sich ihr mit seinen edelsten Empfindungen gefangen gab, davon mag eine Aeusserung Zeugniss ablegen, die ich in einem alten Brieffragment von ihm finde. Er spricht darin von einem vergeblichen Erwarten seiner Braut in einem Symphonie-Concert der Singakademie zu Berlin und fährt fort: ,,Ihr kamt nicht — da war es denn auch mit meinem Hören schlecht bestellt. Es war mir als hätte bisher nur immer Deine Seele, mit ihrer tief musikalischen Innerlichkeit die Harmonien in mein Verständniss hinein geleitet. Meine Ohren hörten nur musikalische Figuren und meine Seele hörte gar nichts. Natürlich war es die Mozart'sche Symphonie, bei der es mir so ging, eine der schönsten von ihm, über die alle um mich her in Entzücken schwammen. Ich, wie ich da war, vereinsamt, verlassen von der schöneren Hälfte meiner Seele, hätte ebenso gut können Skalen auf dem Clavier spielen hören. Erst bei der Coriolan-Ouverture kam ich wieder zu mir — das ist ein Juwel, so kurz, bündig, so entschieden und stolz zwischen einer Menge von Unruhe und wirren Kämpfen und (Seite 196) stirbt zuletzt so traurig in ein Paar melancholisten Tönen — ein Meisterwerk wie es nicht grösser sein kann. Leb wohl mein süsses eigenstes Eigenthum.''

Nachdem Helmholtz die Professur in Königsberg erhalten hatte, heiratheten die Geschwister am 26. August 1849. Die Hochzeit wurde auf dem Lande gefeiert, auf der Königlichen Domäne Dahlem bei Berlin, die mein erster Mann, der Dr. Emil Puhlmann, in Pacht hatte. In der alten kleinen schönen Dorfkirche wurden sie getraut und Jung und Alt lief herbei ,,unser Fräulein und den Herrn Doktor'' trauen zu sehen. Sie war so geliebt und er hatte noch mit Todesverachtung am Tage vor der Hochzeit einen, in Choleraverdacht stehenden, armen Tagelöhner helfend besucht. Es war ein schöner Festzug, der unter den alten Bäumen hin, in Sonnnenschein und Blumen, geschmückt und ganz strahlend von Jugend und Lebensgefühl der Kirche zuschritt, ihre Freundinnen, seine Freunde und älteren Geschwister, alle erfüllt von der Sicherheit dieses Glückes.

Die Uebersiedlung und Abreise des jungen Paares nach Königsberg erfolgte sofort von Dahlem aus, wohin meine Mutter schon seit dem Herbst 48 ihren Wohnsitz verlegt hatte. Sie ging ihren Kindern zu willkommener Unterstützung bald nach und ich folgte 3 Jahre später, nach dem Tode meines Mannes, und wohnte bis zu meiner zweiten Verheirathung bei Mutter und Geschwistern. Inzwischen war im Jahre 50 ihr erstes Kind, ein Mädchen, geboren, 2 Jahre danach ein Knabe — Käthe und Richard. — Das Königsberger Klima hatte sich aber verhängnissvoll für Olga erwiesen. Sie hustete seit der Geburt der Kinder viel und bei ihrer unbesieglichen Pflichttreue und den materiell beschränkten Verhältnissen schonte sie sich nicht ausreichend und erstarkte nicht wieder zu vollkommenem Kraftgefühl. Gleichwohl änderte sich in den Lebensgewohnheiten des jungen Paares nichts. Dieselbe heitere Genügsamkeit, derselbe ernste Fleiss, dieselben idealen Bestrebungen, derselbe Antheil an jeder Form fröhlicher Gemeinschaft. Ihr Haus war ein überaus anziehendes und für Viele ein[e] Stätte geistiger Erfrischung. Sie hatten sich einen liebenswürdigen Freundeskreis gebildet, der die Interessen beider Gatten theilte. Die Professoren v. Wittich und Richelot, der Hausarzt Dr. Schieferdecker mit ihren Frauen, die Familie des sehr bedeutenden Tribunalraths Ulrich, die Familie des jetzigen Prof. Friedländer (Sittengeschichte Roms), Prof. Werther, frisch von Berlin importirt und Helmholtz' täglicher Begleiter auf seinen Spaziergängen, und a. mehr. Im weiteren Umfang: das Haus des Russischen Generalconsuls v. Adelson, der Präsident Simson, gelegentliche Besuche bei dem alten Minister v. Schön auf seinem Landsitz Arnau. (Seite 197) Musik natürlich als erstes Lebensingredienz, aber auch wie einst, Komödiespielen, jetzt aber nur von den Freunden im Hause, ohne das Ehepaar. Daneben ununterbrochen die ernsteste Arbeit und ein enges Zusammenleben in der Familie. Wenn ich zurückdenkend den Styl des damaligen häuslichen und geselligen Lebens mit dem am Schlusse von Helmholtz' irdischer Laufbahn vergleiche, überkommt mich's mit Rührung und Wehmut über die unendliche Bescheidenheit der Verhältnisse und Ansprüche damals. Aber auch mit dem Hochgefühl, das Er nie mehr und nie Grösseres gewesen als damals in dem Entfalten und Wachsen seines wunderbaren Genius und seiner edlen und lauteren Natur. Der von der Elite der Geistesheroen Europas und von Fürsten und Königen gefeierte Mann erscheint mir nicht werthvoller, als der unendlich bescheidene, unermüdlich arbeitende und forschende junge Gelehrte, der sich aus den Garnröllchen seiner Frau und den Bausteinen seiner Kinder, aus Wachsstockendchen und Schnürchen die kleinen Apparate für seine optischen Versuche konstruirte und freundlich verlegen bat: ,,Möchtest Du mir wohl Deine Augen für ein halbe Stunde leihen, Du kommst dafür auch als werthvolles Versuchsobjekt in meine Optik.'' Man hätte sich die Augen aus dem Kopf nehmen lassen für die Ehre ihm dienen zu können! Und daneben seine warme Theilnahme an allem was das Leben und der Tageslauf bot Ihm war nichts Menschliches fremd, er hatte auch für das Extreme ein entschuldigendes Wort, eine versöhnende Empfindung. Unberührt und uneingeengt von conventionellen Rücksichten ging er sicher und innerlich vornehm seine Strasse, immer seinem Ziele nach, dem Höchsten entgegen.

Seine Frau wurde ihm in der That alles was er von ihr erhofft und vorausgesetzt hatte. Sein treusorgendes Weib und seine ebenbürtige Gefährtin. Sie arbeitete und schrieb für ihn — er las ihr seine Vorträge, die für die Öffentlichkeit bestimmt waren, ehe er sie hielt, um an ihrem Verständniss das allgemeine gebildeter Menschen zu messen. Noch nach langen Jahren in Berlin, als ich zufällig vor einer seiner englischen Reisen seine mitzunehmenden Vortragshefte ansah und Olga's Hand erkannte, sagte er mir: ,,Ja das sind immer noch die alten Hefte, die sie für mich abschrieb, ich habe seither noch nichts Besseres gemacht.''

Die 3 Jahren in Bonn waren eine Fortsetzung des Königsberger Anfangs in Ehe und Leben, nur dass die äusseren Verhältnisse ein breiteres Sichausleben gestatteten, und dass die unbeschreibliche reizende Natur der Landschaft einen ganz besonders poesievollen Hintergrund für das Thun und Treiben der Tage bildete. Auch entwickelten sich die beiden Kinder lebendig und eigenthümlich und Helmholtz war ein überaus liebevoller Vater. Freunde und geselligen Verkehr gab es in Fülle. Ich nenne nur die Familien Heine, Busch, Naumann, Otto Jahn, den (Seite 198) Mozartbiographen, den alten Arndt, der besonders Olga lieb hatte, den Chirurgen Weber, englische Familien und vorübergehend, aber höchst bedeutsam Prof. Tonders[Donders] aus Utrecht, der ein warmer Freund der Gatten wurde. Die hohe Terrasse am Rhein mit dem Blick auf den Drachenfels, wo Helmholtz in der alten Vinea domini wohnten, hat viel frohe und kluge Menschen versammelt gesehen, und wenn der Garten Tonders zu Ehren mit farbigen Lampen illuminirt wurde und die Kinder dazu glückselig umhersprangen, ahnte wohl niemand wie schnell dies sonnige Glück seinen dunklen Abschluss finden sollte. Aber meiner Schwester Gesundheit verfiel unrettbar, Anfangs kaum bemerkbar, schliesslich rapid. Die furchtbare Lungenschwindsucht forderte sie als Opfer. Keine Abwehr half und endlich erlosch jede Hoffnung. Heidelberg hat nur noch den Schatten ihres eigentlichen Selbst gesehen. Nach einem Jahr begruben wir sie dort. Es war mir vergönnt bis zum letzten Hauch um sie zu sein. Sie starb — klar, stark, schlicht, wie sie gelebt, den Freund zur Seite, ohne Zagen, wie immer schon im Leben, dem Höchsten zugewendet. — 28. December 59.

Es haben sich gerade die nächsten Freunde von Helmholtz damals nicht darein finden können, dass er schon nach einem Jahr eine neue Ehe schloss. Nach dem idealen Glück der ersten erschien ein solcher Schritt so bald, nahezu unfassbar. Es geschah ihm Unrecht. Er hatte seine Frau nicht erst mit ihrem leiblichen Tod verloren — sie war neben ihm erloschen, dem furchtbaren Charakter ihrer Krankheit gemäss. Während des letzten Jahres derselben schon starb ihr inneres Leben Schritt für Schritt, ihre Interessen, ihre Antheilnahme erlahmten. Nur im Tode war sie wieder auf ihrer alten geistigen und moralischen Höhe. So war Helmholtz lange schon ein einsamer Mann als sie schied und der Blick in die Zukunft mit 2 kleinen Kindern und ihrer Grossmutter, die trotz aller Hingabe und Opferfreudigkeit doch eben eine ältere Frau war, sehr trübe. Für ihn, der an die regste geistige Gemeinschaft gewöhnt war, ganz unmöglich. Er wählte die Frau, die ganz seinem Bedürfnisse entsprach. Sehr bedeutend, talentvoll, mit weitem Blick und hohen Aspirationen, weltgewandt und erzogen in einer Sphäre die Intelligenz und Charakter gleichwerthig entwickelt hatte, war Anna v. Mohl ihm bis an seinen Tod eine bewundernswerthe Genossin und ihr Unheil ihm noch auf dem Sterbebett (Seite 199) eine Autorität. Sein Andenker[=Andenken] aber, sein Werth, sein Nachruhm bildeten für sie die Achse, um die sich fortan ihr Weiterleben drehte, die treibende Idee ihrer Wirksamkeit bis an ihr Ende.

Der nachgelassene Sohn von Helmholtz Richard spricht für sich selbst. A self made man im besten Sinne ist er eine eigenartige Erscheinung. Gescheidt bis zur Genialität, durch und durch tüchtig, redlich, gebildet, lebt er isolirt, fast ohne Zusammenhang mit der Familie, ganz befriedigt. Dabei schlägt ihm das wärmste Herz in der Brust und die treuste Dankbarkeit für erwiesene Liebe. Er tritt sofort auf den Plan, wenn Noth am Mann ist, und seine Zuverlässigkeit ist felsenfest über Zeit und Trennung hinweg. Die Tochter, Käthe, starb schon mit 27 Jahren an derselben tückischen Krankheit, die ihre Mutter hinweg raffte. Sie trug den Keim derselben wohl seit ihrer Geburt in sich. Sie verlebte mit ihrem Bruder seit dem Tode ihrer Mutter und in unmittelbarer Obhut ihrer Grossmutter, jeden Sommer bei mir auf dem Lande, — ich war in zweiter Ehe wieder nach Dahlem zurückgekehrt. Das Vertrauen von Helmholtz und Anna gönnte mir die Gegenwart der Kinder und sie wurden das Licht und die Freude meines Auges. Käthe entwickelte sich in wunderbarer Weise — und ist doch fast spurlos vorübergegangen, obgleich sie verdiente unter die reinsten und edelsten Frauengestalten gezählt zu werden. Sie war eine tiefernste Natur, fast krankhaft in ihrem Streben nach den höchsten Zielen, sich nie genug thuend, nie im Stande die Welt und ihre Erscheinungen in vollkommenen Einklang mit ihren Vorstellungen zu bringen. Sie suchte in den Ordnungen des Daseins das Spiegelbild ihres eigenen idealen Seins und blieb einsam. Aber sie blieb auch unermüdlich suchend, sie sah das Schöne im Menschen und Dingen, sie sah es mit dem Auge der Künstlerin, in dem Menschen wie in der Natur den malerischen Punkt findend, wo das Zufällige nicht stört und Licht und Schatten nach den Gesetzen der Schönheit zur Harmonie zusammenwirken. Sie ist sehr geliebt und sehr bewundert worden und hat viel Widerspruch erfahren. Als der Tod sie abrief, war sie noch durchaus nicht fertig mit ihrem Material an intellektuellen und seelischen Kräften, und dass sie das aufs Lebhafteste fühlte, war die Tragik ihres Schicksals, mehr als der Tod selbst. Ich habe ihr zu nahe gestanden, um mehr als diesen knappen Umriss ihres Wesens zu geben — da Sie sie gekannt haben, verehrter Herr Geheimrath, sind Sie vielleicht in der Lage, den Umrissen Inhalt und Colorit zu geben, wie es für ihren Zweck nothwendig ist. Der düstere Ton möchte wohl überhaupt weggewischt werden, er ist mir unwillkürlich in die Feder gekommen — ich habe ihren Verlust nie verschmerzen können.

Beide Kinder von Helmholtz blieben auch nach seiner Verheirathung mit der Grossmutter zusammen, die ihre specielle Pflege übernahm und in demselben Hause wohnte. Als Käthe heranwuchs und sich ein hervorragendes Talent zur Malerei entwickelte, wurde ihr, hauptsächlich durch das Eingreifen ihrer zweiten Mutter, jeder Weg geebnet, der zur Entwicklung ihrer Gaben und zugleich zu (Seite 200) erweiterten Anschauungen und Eindrücken führte. Sie machte Reisen nach München, Wien Tyrol, ins Baierische Hochland, sie malte in Pariser und Berliner Atelies und verbrachte ein Jahr in Frankreich und England in dem Hause des berühmten Orientalisten Y. Mohl, dessen Gattin grossen Einfluss auf sie gewann. Sie übersetzte im 19. Jahre Tyndall, in Gemeinschaft mit ihrer Mutter und Frau Wiedemann und verfolgte mit rastlosem Interesse ihres Vaters Arbeiten. Die Liebe und Verehrung für diesen Vater glich der Anbetung. Ich besitze eine kleine Photographie von ihm aus dem Jahre 71 die ganz gedeckt ist mit von ihrer Hand geschriebenen, Götheschen Citaten, auf ihn bezüglich. Sie schrieb:


,,Er der einzige Gerechte
Will für Jedermann das Rechte'' Und
,,Es wird der Ruhm von seinen Erdentagen
Nicht in Aeonen untergehn.'' Und
,,Was unterscheidet Götter von Menschen?
Dass viele Wellen vor jenen wandeln
Ein ewiger Strom.
Uns hebt die Welle, verschlingt die Welle
Und wir versinken.''
In meinem Hause, in Dahlem, lernte Käthe ihren Mann, den Dr. Branca kennen, der sie durch Geist und eminente geistige Energie, durch Talente und Liebenswürdigkeit fesselte. Sie verlobten sich 71 am 1. August, heiratheten 72 im Januar und gingen gleich nach der Hochzeit auf längere Zeit nach Italien, dem Land von Käthes heissester Sehnsucht. Dort fand sie in der That Erfüllung alle ihrer (Seite 201) Wünsche und volle Genüge. Zurückgekehrt kaufte Branca ein Gut, Cade bei Genthin in der Provinz Sachsen, damit seine Frau ganz ihrer Gesundheit leben könnte, und dort wurde ihnen am 19. April 73 ein Mädchen Edith geschenkt. Seit der Geburt des Kindes ging es bergab mit ihrem Leben. Branca that in unermüdlicher Sorge alles, um die drohende Gefahr der Schwindsucht abzuwenden. Ein erneuter längerer Aufenthalt in der Schweiz und Baden Baden — die Uebersiedlung nach Heidelberg, dann wiederum Italien — es war alles vergeblich. Sie kehrte im Jahre 77 aus Italien zurück, um in der Heimath, in Dahlem, am 25. April zu sterben. Vor dem Altar der Dorfkirche, vor dem ihre Eltern getraut wurden, stand ihr Sarg aufgebahrt, unter den alten schönen Bäumen des Dorfkirchhofs liegt sie begraben. Ihr Grab war lange Zeit weit umher bekannt, das Ziel mancher Pilgerschaft, weil es ungewöhnlich poetisch in Epheu und Blumen da lag und durch Brancas Pietät einen besonders eigenthümlich Schmuck erhalten hatte. Eine angeschliffene herrliche Granitplatte lehnt an der Kirchenmauer neben dem Hügel und trägt die Innschrift:
Wer hat euch Wandervögeln
Die Wissenschaft geschenkt,
Dass ihr auf Land und Meeren
Nie falsch den Flügel lenkt?
Dass ihr die alte Palme
Im Süden wieder wählt,
Dass ihr die alten Linden
Im Norden nicht verfehlt!

S. 193 – 201 aus
Letters of Hermann von Helmholtz to his wife : 1847–1859 / Richard L. Kremer (Editor). – Stuttgart : Franz Steiner Verlag, 1990. – XXXIII, 210 S.

Letzte Änderung: Mai 2025     Gabriele Dörflinger   Kontakt

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