Leo Koenigsberger: Hermann von Helmholtz

Helmholtz als Professor der Physik in Berlin
von Ostern 1871 bis Ostern 1888


Anfang des Kapitels

Zählen und Messen, erkenntnisstheoretisch betrachtet

Das Scheiden von Helmholtz aus dem grossen Verbande der Berliner Universität, der er von nun an eigentlich nur noch als Ehrenmitglied angehörte, ist in der Geschichte seines nie rastenden wissenschaftlichen Wirkens markirt durch den seinem Freunde Eduard Zeller zu dessen fünfzigjährigem Doctorjubiläum gewidmeten philosophisch-naturwissenschaftlichen Aufsatz „Zählen und Messen, erkenntnisstheoretisch betrachtet“. Derselbe bildet eine wesentliche Ergänzung zu der von ihm vertretenen empiristischen Theorie, wonach die Axiome der Geometrie nicht mehr als unbeweisbare und keines Beweises bedürftige Sätze anerkannt werden, (Seite 380) und soll diese Theorie auch in Beziehung auf den Ursprung der arithmetischen Axiome rechtfertigen, die zu der Anschauungsform der Zeit in der entsprechenden Beziehung stehen.

Die bekannten fünf Axiome der Arithmetik 1. wenn zwei Grössen einer dritten gleich sind, sind sie unter sich gleich, 2. Associationsgesetz der Addition: (a + b) + c = a +(b + c), 3. Commutationsgesetz der Addition: a + b = b + a, 4. Gleiches zu Gleichem addirt, giebt Gleiches, 5. Gleiches zu Ungleichem addirt, giebt Ungleiches, werden zunächst in Betreff ihrer Unabhängigkeit von einander und in ihrer Beziehung zur Erfahrung untersucht. Indem er das Zählen daraus herleitet, dass wir im Stande sind, die Reihenfolge, in der Bewusstseinsacte zeitlich nach einander eingetreten sind, im Gedächtniss zu behalten, wird für ihn die Lehre von den reinen Zahlen lediglich eine auf psychologischen Thatsachen aufgebaute Methode zur folgerichtigen Anwendung eines Zeichensystems von unbegrenzter Ausdehnung und Möglichkeit der Verfeinerung, zum Zwecke der Darstellung der verschiedenen, zu demselben Endergebniss führenden Verbindungsweisen dieser Zeichen. Nach der aus dieser Anschauung gewonnenen Definition der gesetzmässigen Reihe der positiven ganzen Zahlen und der Eindeutigkeit ihrer Aufeinanderfolge stellt er den Begriff der Addition der reinen Zahlen fest, indem er zunächst die Zeichenerklärung giebt, dass, wenn irgend eine Zahl mit einem Buchstaben a bezeichnet wird, die in der normalen Reihe darauf folgende mit (a + 1) bezeichnet werden sollr und als Definition für (a + b) diejenige Zahl der Hauptreihe aufstellt, auf welche man stösst, wenn man bei (a+1) Eins, bei [(a + 1) + 1] Zwei u. s. w. zählt, bis man bis b gezählt hat. Und nun zeigt er, dass sich aus diesem Begriff der Addition der reinen Zahlen die Axiome der Arithmetik von der Gleichheit zweier Zahlen in Rücksicht einer dritten, das Associationsgesetz der Addition und das Commutationsgesetz nur durch die Uebereinstimmung des (Seite 381) Ergebnisses mit dem, welches aus dem Zählen von äusseren zählbaren Objecten hergeleitet werden kann, beweisen lassen. Die Zahlen sind ihm willkürliche Zeichen, um die Ordnung der Reihenfolge in der Zeit festzustellen, alles Zählen Anordnung der gezählten Dinge nach einer Reihenfolge in der Zeit, die Zusammensetzung der Zeittheile zu Zeitgrössen ist ihm Urtypus der Addition. Aber er giebt seine Definitionen für Objecte im Allgemeinen; die Definition der Gleichheit ist ihm: wenn zwei Dinge einem dritten gleich sind, sind sie unter sich gleich; die Permutation (Combination) ist die Zusammenfügung verschiedener Dinge, in der die Ordnung der Zusammenfügung nicht gleichgültig ist, Addition die Verbindung gleichartiger Dinge, unabhängig von der Ordnung der Zusammenfügung, Multiplication ist (wenigstens in allen Anwendungen), wie er in einer Notiz hervorhebt, die Verbindung ungleichartiger Grössen, wobei die Ordnung der Zusammenfügung gleichgültig ist; denn Einheiten irgend welcher Art werden mit abstracten Zahlen, oder horizontale mit verticalen Linien, oder Wege mit Massen multiplicirt. In den übrigen mathematischen Operationen ist die Ordnung nicht gleichgültig. Endlich ist ihm Grösse eine additive Verbindung gleichartiger Einheiten oder Theile, gleiche Grössen, die aus paarweise gleichen Theilen zusammengesetzt sind; additive Verbindung von Grössen ist Summe.

Indem nun also Objecte, welche in irgend einer bestimmten Beziehung gleich sind und gezählt werden, als Einheit der Zählung, die Anzahl derselben als eine benannte Zahl und die besondere Art der Einheiten, die sie zusammenfasst, als Benennung der Zahl bezeichnet werden, wird der Begriff der Gleichheit zweier Gruppen von benannten Zahlen gleicher Benennung durch dieselbe Anzahl festgestellt. Nennt man nun Objecte oder Attribute von Objecten, die mit ähnlichen verglichen den Unterschied des grösser, gleich oder kleiner zulassen, Grössen — worüber nur die empirische Kenntniss gewisser Seiten des physikalischen (Seite 382) Verhaltens beim Zusammentreffen und Zusammenwirken mit anderen entscheiden kann — und können wir diese Grössen durch eine benannte Zahl ausdrücken, so nennen wir diese den Werth der Grösse und das Verfahren, durch welches wir die benannte Zahl finden, die Messung derselben. So messen wir eine Kraft entweder durch die Massen und Bewegungen des Systems, von welchem sie ausgeübt wird, oder bei der dynamischen Messung durch die Massen und die Bewegung des Systems, auf welches sie wirkt, oder endlich bei der statischen Methode der Kraftmessung dadurch, dass wir die Kraft mit bekannten Kräften ins Gleichgewicht bringen. Es bleibt somit nur die Frage zu beantworten, wann können wir Grössen durch benannte Zahlen ausdrücken, und was wird damit an thatsächlichem Wissen erreicht? Und zu diesem Zwecke stellt nun Helmholtz die für die Physik so interessanten und wichtigen Betrachtungen an über physische Gleichheit und über das Commutations- und Associationsgesetz physischer Verknüpfungen, wobei die Addition in etwas erweiterter Form als eine solche von Grössen gleicher Art defmirt wird, deren Ergebniss sich nicht ändert durch Vertauschung der Glieder mit gleichen Grössen gleicher Art. So hält Helmholtz auch in der Arithmetik, oder in der transcendentalen Anschauung von der Zeit in Betreff der Axiome derselben Kant gegenüber den Standpunkt fest, den er in seinen Raumuntersuchungen vertreten.


Noch im Winter vor dem Uebergange in sein neues Amt gestaltete Helmholtz seine meteorologischen Untersuchungen, die ihn schon seit längerer Zeit beschäftigten, weiter zur Veröffentlichung aus, brachte dieselben jedoch nach Mittheilung einiger der gewonnenen Resultate, die er im Mai 1888 der Akademie vorlegte, wie wir sehen werden, erst im folgenden Jahre zu einem derartigen Abschluss, dass seine darauf bezüglichen Arbeiten von den Meteorologen als die mathematisch-physikalische Grundlage ihrer Wissenschaft bezeichnet werden konnten. (Seite 383)

Schon seit mehr als zehn Jahren war das Helmholtz'sche Haus der Sammelpunkt der auserlesensten Geister der neuen Reichshauptstadt gewesen; hier fanden sich — nicht auf neutralem, sondern auf einem für alles Gute und Schöne empfänglichen Boden — die ernstesten Denker mit den genialsten Künstlern zusammen und befruchteten gegenseitig Verstand und Gemüth; die Schüler Moltke's und die Eingeweihten Bismarck's fanden Fühlung unter der olympischen Ruhe des grossen Naturforschers und an der Hand der ausgezeichneten Frau, welche hier ihre glänzende Gabe entfaltete, die verschiedensten Geister mit einander in Berührung zu bringen; äussere Stellung allein bedeutete wenig für sie, wenn nicht Vorzüge des Geistes oder vornehmer ästhetischer Gesinnung kenntlich waren.

„Ich habe mich mein Leben lang gegen ein niedriges Niveau von Umgang gewehrt, und wo es mir nicht octroyirt ward, es mir auch ferne gehalten. Gute Lebensformen und einen geistigen Inhalt, der nach irgend einer Richtung hin mir überlegen oder doch interessant ist, habe ich als erstes Erforderniss zum Verkehr stets empfunden. Hierin darf man nicht bescheiden sein, wenn man nicht in der Mittelsorte untergehen will.“

Die Uebersiedelung in die neue Präsidentenwohnung in Charlottenburg bot den geselligen Beziehungen einen „intimeren, vielleicht noch harmonischeren Rahmen, welchem der Takt für das historisch gewordene sein individuelles Gepräge aufdrückte und eine stimmungsvolle Eigenart verlieh“. Unter dem Walten der hohen Gaben geistiger Schöpfungskraft und künstlerischer Feinfühligkeit wirkten die Töne Joachim's berückend und verheissungsvoll, und die Bilder Lenbach's „wie ein Hauch der Nähe, der Unendlichkeit und des Bleibenden von allem Guten und Grossen.“


S. 379 - 383 aus:
Koenigsberger, Leo: Hermann von Helmholtz. - Braunschweig : Vieweg
Band 2. - 1903


Letzte Änderung: 24.05.2014     Gabriele Dörflinger   Kontakt

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