(Seite 153) So übersiedelten wir nun im April 75 nach Dresden, fanden dort mit Hilfe der liebenswürdigen Unterstützung der Familie Zeuner eine schön gelegene Wohnung(5.1) und erfreuten uns noch vor dem Beginne der Vorlesungen an der anmutigen Umgegend und den Schätzen der Kunstinstitute, mit deren Chef Hübner wir sehr bald in nähere und freundschaftliche Beziehungen traten.
In Zeuner, den bedeutenden, in der naturwissenschaftlichen Welt längst rühmlichst bekannten Forscher fand ich einen genialen Direktor der polytechnischen Schule(5.2) und einen lieben Kollegen, der mir seine Freundschaft und sein Wohlwollen bis zu seinem Tode unverändert erhalten hat; Burmester war ein ausgezeichneter Vertreter der darstellenden Geometrie, Mohr, Lewicki, Hartwig u. a. als Theoretiker und Praktiker hervorragende Autoritäten der Technik. Alles war schon zum Teil und wurde weiter unter Zeuners Leitung reorganisiert, und ich selbst war nicht ohne Einfluß auf die Besetzung der Lehrstühle in der allgemeinen wissenschaftlichen Abteilung. Das Entgegenkommen des Unterrichtsministers Gerber, das persönliche Interesse, welches der hochgebildete und feinsinnige König an der Entwicklung der Hochschule nahm(5.2) und das er gleich im ersten Semester durch den Besuch meiner Vorlesung bekunden wollte, und die (Seite 154) Erlaubnis, ihm ohne Rückhalt meine Wünsche bezüglich der Reorganisation auszusprechen, ermöglichten es, Toepler auf den Lehrstuhl der Physik zu berufen und durch die glückliche Besetzung der Lehrstühle für Chemie, Botanik, Philosophie u. a. eine wenn auch kleine, so doch gut organisierte naturwissenschaftliche Fakultät zu bilden. Meine Vorlesungen über Differential- und Integralrechnung, Mechanik usw. in den neuen prächtigen Räumen wurden von zahlreichen Zuhörern fleißig besucht, ich hatte Zeit zu ausgedehnter wissenschaftlicher Arbeit, u. a. zur Fertigstellung des zweiten Teiles meiner elliptischen Funktionen(5.3), und allmählich gestaltete sich auch der persönliche Umgang mit den Kollegen immer angenehmer; Zeuner, Toepler, der Philosoph Schultze, Hettner, der hochangesehene Literaturhistoriker, der früher auch der Heidelberger Universität angehört hatte, bildeten einen anregenden Kreis, in den auch bisweilen andere angesehene Männer wie der Philologe Fleckeisen, Graf Baudissin u. a. eintraten, Museum und Theater boten Reize des Lebens, die wir in Heidelberg vermißt hatten.
Zu all dem trat noch der Umstand hinzu, daß ich — freilich ohne meine Frau — zu den Hofkonzerten und Hofbällen geladen wurde, auf denen ich fast stets von dem Könige angesprochen und über meine Tätigkeit und Wünsche befragt wurde. Im übrigen boten mir die Hoffestlichkeiten wenig interessantes, da ich als Tanz- und Kartenunkundiger mich stundenlang in eine Uniform eingezwängt in den Sälen untätig herumbewegen (Seite 155) mußte — und auch diese freie Bewegung wurde durch das steife Zeremoniell, das am sächsischen Hofe herrschte, häufig eingeengt. Als ich einmal nach dem Konzert mit Overbeck aus Leipzig in eine interessante Unterhaltung vertieft von einem Saal in den andern ging, trat vor dem letzten derselben der Hofmarschall an mich heran und erklärte mir — freilich lächelnd und in größter Liebenswürdigkeit — daß in diesem Saal nur Overbeck eintreten dürfe, da er Geheimer Rat, ich jedoch nur Geheimer Hofrat sei. Und dieses unverbrüchliche Zeremoniell fand z. B. auch am Sylvesterabend seinen erheiternden Ausdruck; während der König und die Königin mit dem Prinzen und der Prinzessin Georg an einem Tische Whist spielten, vollzog sich um 12 Uhr nachts die Neujahrgratulation der anwesenden Gäste in der Weise, daß je eine Gruppe von 6-7 Personen an dem Tisch vorbeizog, sich verbeugte, der König die Karten niederlegte und den Gruß erwiderte. Aber alle diese Förmlichkeiten standen in dem schroffsten Kontrast zu der wahren und natürlichen Einfachheit des Königs, mit dem über politische oder wissenschaftliche Dinge zu sprechen, wirklich eine Freude war — die revolutionäre Gesinnung von Richard Wagner und Gottfried Semper in den Märztagen des Jahres 48 konnte er verstehen, der Haltung seines Lehrers Köchly, der von der Unterrichtsstunde aus dem Schlosse nach dem Rathause eilte und die Dynastie für abgesetzt erklärte, wollte er aber keine Verzeihung gewähren.
Der Besuch meines Vaters, die Geburt meiner Tochter Ani brachte neues frohes Leben in unsern (Seite 156) engsten Familienkreis, kurz wir hatten keine Ursache zu bereuen, daß wir Heidelberg verlassen hatten. Kirchhoff, der uns schon im September von Berlin aus in Dresden besuchte, meinte, daß eine mittlere Stadt wie Dresden ihm wohl auch besser behagt hätte als Berlin — trotz alledem lebten aber unsere Gedanken, unsere Erinnerungen stets in Heidelberg, das auf den verschiedensten Gebieten wissenschaftlicher Arbeit so hervorragende Männer vereinigt hatte.
Im Jahre 1875 war Richelot nach langem Leiden in seinem 67. Jahre gestorben und Kirchhoff sowie Frau Richelot, welche wußten, wie ich den Verstorbenen als Mathematiker und Freund verehrt und geliebt habe, legten es mir nahe, den wissenschaftlichen Nachlaß dieses Mannes durchzusehen, dessen ganzes Leben unermüdlicher Arbeit gewidmet war. Ich ließ die verschiedenen sorgfältigen Aufzeichnungen seiner Vorlesungen über Mechanik von meinen Schülern im Seminar durcharbeiten und Teile derselben vortragen, während ich selbst die überaus umfangreichen Ausarbeitungen über elliptische Funktionen, allgemeine Funktionentheorie usw. einer genauen Durchsicht unterwarf. Es war staunenswert zu sehen, mit welchem Fleiß und welcher Sachkenntnis die während der letzten 20 Jahre erschienenen Abhandlungen und Lehrbücher durchgearbeitet, zum Teil fast vollständig noch einmal niedergeschrieben waren — aber für den Druck geeignet konnte ich nicht mehr als zwei kleinere Arbeiten ermitteln, die aber auch nichts wesentlich Neues boten.(5.4) Darauf bezüglich schrieb mir im Juli 1876 Weierstraß:
(Seite 157) „Darüber wird sich auch Niemand wundern, der wie ich weiß, wie Richelot zu arbeiten pflegte. Aufsätze wie die in Rede stehenden wurden von ihm entweder als Material für die Seminarvorträge entworfen oder entstanden bei der Durchsicht von Oberlehrer-Arbeiten und Dissertationen. Richelot schrieb dann seine Gedanken mit großer Raschheit nieder, wog die Wort wenig ab, kam wiederholt auf schon Behandeltes zurück, veränderte wohl auch plötzlich den ganzen Gang der Entwicklung u. dergl. mehr. Dagegen ging er sehr sorgfältig zuwege, wenn er eine Abhandlung druckfertig machte, und ich weiß, daß die große Mühe, die er sich dabei gab, und die Peinlichkeit, mit der er verfuhr, es hauptsächlich gewesen sind, die ihn an der Vollendung so mancher Entwürfe verhindert haben. ...... Indem ich dies ausspreche, glaube ich den Verdiensten des auch von mir hochverehrten und geliebten Mannes nicht zu nahe zu treten; habe ich doch von ihm selbst oft genug gehört, daß er in seiner Lehrthätigkeit die Hauptaufgabe seines Lebens sehe — und dieser Aufgabe Genüge gethan zu haben wie kaum ein Anderer ist das dauerndste Verdienst, das er sich um die Wissenschaft erworben.“
Ich hatte eben mit Beginn des Jahres 1877 mit Zeuner eine Zeitschrift untr dem Titel „Repertorium der literarischen Arbeiten aus dem Gebiete der reinen und angewandten Mathematik; Originalberichte der Verfasser“(5.5) gegründet, als ich im Februar von dem Astronomen Oppolzer im Auftrage der philosophischen Fakultät in Wien die Mitteilung erhielt, daß Petzval zurückgetreten, Boltzmann, der (Seite 158) bis dahin mathematische Vorlesungen gehalten, an Toeplers Stelle nach Graz berufen worden, und daß für die von der Regierung beabsichtigte Vereinigung beider Stellen ich von der Fakultät unico loco in Aussicht genommen worden sei; es werde — wie dies in Österreich üblich sei — zunächst eine von meiner Seite der Fakultät gegenüber zu gebende Bereitwilligkeitserklärung zur eventuellen Übernahme der Professur erbeten.
Auf Betreiben Zeuners wurde von der sächsischen Regierung in einer für mich überaus ehrenvollen Weise alles getan, damit ich auf weitere Verhandlungen nicht eingehe, aber die Wirksamkeit an der großen Universität lockte mich, und ich ging auf Anraten von Bunsen und Kirchhoff, die ich sogleich zu Rate gezogen, nach Wien, um mir die Dinge erst näher anzusehen und mit dem Minister Stremayr persönlich in Verhandlungen zu treten. Bunsen hatte auf meine Anfrage umgehend geantwortet:
„Es würde unrecht sein, wenn ich auf Ihre Entscheidung, die eine Lebensfrage für Sie werden kann, einwirken wollte; aber bei der Freundschaft, die uns verbindet, würde ich Ihnen recht dringend ans Herz legen, daß Sie sich die Wiener Verhältnisse recht gründlich ansehen, ehe Sie einen Entschluß fassen. Was mich in Betreff der dortigen Verhältnisse immer bedenklich gemacht hat, ist der Einfluß, der sich unter der Studentenschaft, selbst sogar unter Betheiligung einzelner akademischer Collegen gegen das Streben, bessere wissenschaftliche (Seite 159) Zustände herbeizuführen und höhere Anforderungen zu stellen, von Zeit zu Zeit geltend zu machen sucht, und der, wie Brücke, Billroth und Andere erfahren haben, nicht ohne ärgerliche und aufreibende Kämpfe zu überwinden ist. Seien Sie daher auf der Hut, lieber K., bevor Sie Ihre jetzigen Verhältnisse gegen die dort gebotenen vertauschen.“
In Wien kam mir Stremayr mit für die damaligen Verhältnisse so glänzenden finanziellen Anerbietungen und weiteren Zugeständnissen für die Möglichkeit einer großen akademischen Tätigkeit entgegen, daß ich den Ruf sogleich definitiv annahm. Es fiel mir recht schwer der sächsischen Regierung meine Entschließung mitzuteilen, nachdem diese mir während der zwei Jahre meiner Dresdner Wirksamkeit stets mit so dankenswerter Aufmerksamkeit entgegengekommen, und besonders bedauerte ich die Trennung von meinen so verehrten Freunden Zeuner und Toepler, deren Familien auch der meinigen sehr nahe standen. Als Direktor des Polytechnikums schrieb mir Zeuner am 9. Februar:
„Die Direction kann sich nicht versagen, dem Gefühle ihres aufrichtigsten tiefsten Bedauerns über Ihr Ausscheiden aus Ihrem hiesigen Wirkungskreise, in welchem Sie während einer kurzen Dauer bereits so erfolgreich thätig waren, Ausdruck zu geben. Schwer empfindet sie den Verlust, den hiermit sowohl das Polytechnikum im Allgemeinen als in's Besondere die Ihrer speciellen Leitung anvertraute Lehrerabtheilung erleidet, und dies um so mehr, je größer die Hoffnungen waren, welche die Direction von Ihrem ferneren Wirken in dieser Abtheilung, (Seite 160) welche in der Reorganisation und in der Erhebung zu der ihr gebührenden Stellung begriffen ist, hegte und zu hegen berechtigt war. Mit dem lebhaftesten Danke für die warme und hingebende Betheiligung an den reformatorischen Bestrebungen der Direction, welche Ihr hiesiges Wirken kennzeichnet, verbindet sie daher die ergebenste Bitte, und sie ist deren Erfüllung gewiß, unserm Polytechnikum Ihre Theilnahme auch ferner bewahren zu wollen.“
Text: Leo Koenigsberger, 1919
Anmerkungen und Personenregister: Gabriele Dörflinger, 2004-2014
Letzte Änderung: Mai 2014 Gabriele Dörflinger Kontakt
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