Leo Koenigsberger: Hermann von Helmholtz

Helmholtz als Escadronchirurgus bei den Gardehusaren und
als Militärarzt im Königl. Regiment der Gardes-du-Corps in Potsdam
vom 1. October 1843 bis zum Sommer 1848.


Anfang des Kapitels

Hermann Helmholtz: Programm des Anatomieunterrichts an der Kunstakademie, 19. August 1848

„Ich werde versuchen, in dem Vortrage, welchen ich hier zu halten die Ehre haben werde, zu entwickeln, welche Gesichtspuncte bei dem Unterricht in der Anatomie für Künstler mir hauptsächlich in das Auge zu fassen nöthig scheinen, und welche Methode demgemäss darin zu verfolgen ist. Ich muss dabei von vorn herein die Nachsicht der verehrten Versammlung in Anspruch nehmen, weil ich sehr wohl fühle, wie verschiedenartige Fähigkeiten und Kenntnisse derjenige in sich vereinigen muss, welcher bei diesem Unterrichte seine Stelle vollständig ausfüllen will, wie schwierig die Behandlung gerade dieser Wissenschaft ist, wenn sie aus der trocknen und oft unfruchtbaren Form eines massenhaften Gedächtnisswerkes zu einem lebendigen Bilde erhoben werden soll, um ihre Anwendung in der Kunst zu finden.

Der dabei zu erstrebende Zweck ist ein so eigentümlicher, so total abweichend von dem, was sonst bei dem (Seite 96) Unterricht in der Anatomie erstrebt wird, dass ich wohl glaube aussprechen zu dürfen, die wenigsten Grundsätze dafür werden sich von vorn herein theoretisch aufstellen lassen, die meisten müssen sich erst durch die Ausübung und durch die Erfahrung des Erfolgs ergeben. Freilich muss sich der angehende Lehrer einen Plan für seinen Unterricht entwerfen, aber von diesem Plane wird vielleicht bei dem Versuche practischer Bewährung nicht viel übrig bleiben.

Die Anatomie, wie sie als strenge Wissenschaft dem Mediciner gelehrt wird, hat einen ganz anderen Zweck, daher auch einen ganz anderen Umfang und eine ganz andere Methode. Sie geht darauf aus, überall möglichst scharfe und abstracte Begriffsbestimmungen aufzustellen; denn der Arzt und Chirurg darf sich nicht an die Anschauung der Theile binden, wie sie sich am gesunden Körper darstellen, ihm kommt es hauptsächlich darauf an, scharfe und einfache Kennzeichen zu finden, die ihn auch dann nicht im Stich lassen dürfen, wo durch Krankheit oder Verletzungen das Ansehen der Theile so zerstört ist, dass sich das ungeübte Auge gar nicht mehr darin zurecht finden kann, daher ist die medicinische Anatomie gerade in ihren wichtigsten Theilen eine Zusammenhäufung trockner, meist schwer im Bilde zu vergegenwärtigender Begriffe, von traurigem Ruhme selbst für das sonst so geduldige Gedächtniss der Mediciner, und die Anschaulichkeit wird fast nur zur Hülfe gezogen, um das Gedächtniss zu unterstützen, während sie umgekehrt dem Künstler das Wesentliche ist. Dem Mediciner ist z. B. an dem einzelnen Muskel ausser den Ansatzpuncten, wonach sich die Wirkung bestimmt, von Wichtigkeit namentlich die Lage von Gefässen und Nerven an oder unter ihm, der Zusammenhang der ihn umgebenden Sehnenhäute, weil sich danach der Abfluss des Eiters bestimmt, u. s. w. Wie der Muskel aussieht, ob er dünn oder dick, rundlich oder platt ist, wie weit er aus Fleisch besteht (Seite 97) und wo seine Sehne anfängt, ob er durch die Haut zu erkennen ist, immer oder nur bei gewissen Bewegungen, ist ihm meist vollständig gleichgültig, während gerade dies dem Künstler das eigentliche Interesse an dem Muskel gewährt.

Die Künstleranatomie unterscheidet sich eben deshalb von der medicinischen nicht nur durch den Umfang, indem sie einen Theil der letzteren umfasst, diesen aber theilweis viel specieller durcharbeiten muss, sondern noch viel wesentlicher durch die Methode.

Wie die Anatomie mit dem Künstler zu betreiben sei, das muss sich am besten entscheiden lassen, wenn wir bestimmen, wozu die Anatomie dem Künstler behülflich sein solle, und wozu sie nöthig sei? Die antiken Künstler haben das Innere des menschlichen Körpers nicht kennen gelernt. Die Alten hatten theils eine natürliche, unüberwindliche Scheu vor der Zergliederung von Leichnamen, theils wurden sie von ihren religiösen Vorstellungen daran gehindert, wonach jede Verletzung des Todten ein schwer zu sühnender Frevel gegen die heiligsten und furchtbarsten Gesetze der Götter war. Selbst bis weit in das Mittelalter hinein zergliederten auch die Aerzte nie menschliche Leichen, sondern höchstens Affen. Der Mediciner mag allenfalls aus der Zergliederung dieses menschenähnlichen Thieres das nothwendigste entnehmen können, und doch finden sich auch bei den berühmtesten medicinischen Schriftstellern des Alterthums, z. B. Galen, einige anatomische Angaben, welche für den Menschen unrichtig sind und nur für den Affen zutreffen. Den Künstlern würde dieses Surrogat der menschlichen Anatomie doch von keinem Nutzen haben sein können, sie blieben beschränkt auf die sorgfältigste Beobachtung der Oberfläche des Körpers, höchstens blieb es ihnen überlassen, wenn sie bei Thieren Knochen, Muskeln und Sehnen in ihrer Verbindung kennen gelernt hatten, dieselben beim Menschen so gut es ging durch die Haut hindurch mit Auge und Tastsinn sich aufzusuchen und ihre Gestalt zu erforschen.

(Seite 98) Und doch trotz dieser beschränkten Hülfsmittel diese wunderbare Vollendung in den Kunstwerken des Alterthums, nicht nur die genaueste Kenntniss der ruhenden Form, mit dem empfindlichsten Schönheitssinn in allen Verhältnissen nachgeahmt, sondern auch die feinste Berücksichtigung des lebendigen Muskelspiels in den Bewegungen. Die Kenntniss der menschlichen Leibesformen ist bei den Alten eine so vollkommene, dass sie dieses ihr Darstellungsobject mit der bewunderungswürdigsten Freiheit zu beherrschen und zu vergeistigen wissen, eine Freiheit, wie sie in der neueren Kunst nur zu oft vergebens angestrebt, und nur von wenigen Lieblingen des Genius erreicht worden ist.

Man sollte fast fragen, wozu überhaupt Anatomie, wenn die höchste Entwickelungsstufe der Sculptur ohne Anatomie erreicht werden konnte? Wozu etwas weiteres studiren als die Oberfläche, da die Kunst ja weiter nichts in die Erscheinung zu bringen hat als die Oberfläche? Hierauf ist einmal zu erwidern, dass selbst an diesen Werken des wunderbarsten Nachahmungstalentes, des ausgebildetesten Schönheitssinnes und wahrscheinlich auch des eisernsten Fleisses doch nicht wenige kleinere Fehler vorkommen, welche ein guter Kenner der Anatomie selbst bei geringerer Geschicklichkeit, als sie der bildende Künstler besass, zu umgehen gewusst haben würde. Ein Muskel z. B. zeichnet sich oft nur durch eine geringe Wölbung ab, eine kleine Verstärkung oder Verschiebung dieser Wölbung kann aber in manchen Fällen eine anatomische Widersinnigkeit hervorbringen, in welchen Fehler auch der geschickteste Nachahmer ohne Kenntniss der Bedeutung dieser Wölbung leicht verfallen kann, während sie derjenige, der sich die Lage der Muskeln an der Figur durchdenkt, leicht auffindet. Es wäre widersinnig, hier viele Beispiele anzuführen, ohne die Statuen vor uns zu haben; ich will nur, um mich verständlicher zu machen, ein Beispiel anführen, hergenommen von einer wohlbekannten und nicht unedel gearbeiteten Statue eines (Seite 99) griechischen Redners, gewöhnlich als die des Germanicus bezeichnet, welche aus der nachalexandrinischen Zeit der griechischen Kunst herrührt von dem jüngeren Cleomenes. An derselben ist die Schenkelbeugung des lose stehenden Beins so vertieft, dass die Streckmuskeln des Unterschenkels (m. rectus femoris u. sartorius), welche darunter hingehn, und die man am Lebenden hier dicht unter der Haut fühlt, oder etwas heraustreten sieht, keinen Platz haben. An einem schiessenden Apoll des Berliner Museum findet sich der hintere Theil des Deltamuskel so gebildet, als läge sein Ansatz quer gegen die Leiste des Schulterblatts, während er doch an ihr entlang läuft.

Nun werfe man mir nicht ein, dass ein solcher Fehler, eben weil er vielleicht nur von dem kritischen Kennerauge bemerkt werde, — würde er leichter bemerkt, so würde ihn der griechische Künstler wohl nicht begangen haben — dass dieser Fehler eben deshalb für den allgemeinen Eindruck der Statue gleichgültig sei, dass es eine Splitterrichterei sei, dergleichen aufzusuchen. Der schaffende Künstler wirft allerdings seine Gestalt hin ohne Berechnung aller Einzelheiten, nur geleitet von dem Sinn für das ideal Schöne, welcher in seiner Brust und in seinem Auge lebt, und ebenso unbewusst um das Einzelne und die Gründe des Einzelnen entzückt sich das Auge des kunstsinnig gebildeten Beschauers vor dem Werke des Künstlers in dem Gefühle harmonischer und lebendiger Schönheit. Aber der Genius des Künstlers ist eben die geheimnissvolle Kraft in ursprünglicher Anschauung und ohne berechnende Reflexion das zu finden und darzustellen, was die nachgrübelnde Reflexion dann auch als das wahre und vollkommene anerkennen und rechtfertigen muss. Und so gewiss das Gemüth des empfänglichen Beschauers desto höher angeregt wird, je reicher und je wahrer der schaffende Künstler den idealen Inhalt seines Werks aufzufassen und wiederzugeben gewusst hat, ebenso sicher wird es auch jeden Mangel in dieser Hinsicht als (Seite 100) eine Beeinträchtigung des Lebens und der Schönheit der Gestalt empfinden, selbst wenn es nicht angeben kann, wo der Fehler liege, und welches seine Ursache sei.

Es ist also einmal nicht zu läugnen, dass der Mangel des anatomischen Studium bei den Alten nicht zuweilen wirklich als ein Mangel in ihren Werken hervortrete, wenn auch übrigens ihr glückliches Talent für Wahrheit und Schönheit ihnen bewundernswerth über die Folgen desselben hinweggeholfen hat. Dann aber ist zu bedenken, dass die Alten eine viel reichere Gelegenheit hatten, ihre Anschauung der menschlichen Körperformen auszubilden, als die moderne Zeit sie darbietet, und dass das Studium dem neueren Künstler die Ausbildung dieser Anschauung zu erleichtern suchen muss. Der Moderne, welcher nur noch im Modellsaale und höchstens in den Badeanstalten Körperformen zu Gesicht bekommt, und auch da selten solche, die trotz des Einflusses der einseitigen und zersplitterten Lebensrichtungen der neueren Civilisation eine harmonische Ausbildung aller Theile und aller Fähigkeiten erlangt hätten, ist offenbar im allergrössten Nachtheil gegen den Antiken, und könnte den Wettstreit mit ihm nur unter ungleichsten Bedingungen beginnen, wenn er nicht andere Hülfsmittel in Anwendung brächte. Hat er doch daneben auch noch den erschwerenden Umstand zu bekämpfen, dass der Sinn seines Publicums aus denselben Gründen für den menschlichen Körper als Darstellungsobject der Kunst unzugänglicher geworden ist. Freilich kann wie alles künstlerische Studium auch das anatomische nicht den Genius des Künstlers ersetzen, weder das Nachahmungstalent noch den Schönheitssinn, sondern es kann ihm nur die Wege ebnen und sein prüfendes Auge schärfen.

Die Frage nach dem Zweck der Anatomie für den Künstler würde sich nun auf die reduciren: Was kann die Kenntniss des inneren Baues des Körpers dem Künstler mehr geben als das Studium der Oberfläche, namentlich das (Seite 101) an lebenden Modellen? Ich halte in dieser Hinsicht folgende Puncte für besonders hervorzuheben:

1) Sie erleichtert die Auffassung der verschiedenartigen Gestaltungen der einzelnen Theile bei verschiedenen Stellungen des Körpers, weil diese verschiedenen Gestaltungen immer auf denselben einen anatomischen Mechanismus zurückgeführt werden; sie erleichtert also dem Künstler seine Thätigkeit auch da, wo er ohne Modell arbeiten muss. (Beispiel hergenommen von den verschiedenen Wölbungen des Oberarms und den verschiedenen Stellungen der Hand bei Drehung des Vorderarms.)

2) Sie lehrt die wesentlichen Züge in der menschlichen Gestalt von den unwesentlichen unterscheiden. Die Vorsprünge und Vertiefungen auf der äusseren Fläche des menschlichen Körpers sind von höchst verschiedener Wichtigkeit, je nachdem sie von Knochenvorsprüngen, Muskeln oder Hautfaltungen herrühren. Selbst dann, wenn sich der Künstler nur die Aufgabe stellen wollte, ein gegebenes Modell möglichst treu nachzuahmen, würde er, wie wir schon oben erwähnt haben, leicht eine vielleicht geringe Wölbung falsch nachahmen können, welche für die anatomische Structur wesentlich ist. Aber der Künstler soll ja gar nicht möglichst treu nachahmen, weil sein Modell immer nur ein in irdischer Unvollkommenheit aufgewachsener, dem Ideal niemals entsprechender Mensch ist, sondern er soll die individuelle Gestalt verändern, bis sie der vollendete Abdruck ihres geistigen Inhalts ist. Gesetzt er hätte einen muskulösen Mann als Modell, und wollte der danach gebildeten Figur ein möglichst eisenfestes und gedrungenes Ansehn geben, etwa einen Hercules daraus bilden, so dürfte er nicht in gleicher Weise Hautfaltungen und Muskelbäusche verstärken, sondern im Gegentheil müsste er erstere verhältnissmässig verringern, um ein strafferes Aussehn hervorzubringen, und umgekehrt wenn er daraus etwa einen Silenus bilden wollte. Auch ist zu berücksichtigen, dass durch (Seite 102) Hervorhebung der wesentlicheren anatomischen Züge auf Kosten der zufälligen die Gestalt an Klarheit und Einfachheit gewinnt.

3) Endlich können wir an Modellen, welche immer in ihrer Stellung so unterstützt werden müssen, dass sie ohne alle Anstrengung diese Stellung beibehalten können, gar nicht die Formen des bewegten Körpers studiren. Hierher gehört die wichtige Lehre von der Anschwellung der Muskeln bei ihrer Wirksamkeit. Das Modell, selbst wenn wir ihm genau die Stellung gegeben hätten, welche der bewegte Körper in dem abgebildeten Zeitpuncte hat, steht mit erschlafften Muskeln da. Der Künstler muss wissen, welche Muskeln bei der Bewegung schwellen und sich herausheben, wenn sein Bildwerk nicht auch stillzustehen scheinen soll, wie das Modell, statt sich zu bewegen. Und auch wenn er das Modell auf Augenblicke handeln lassen wollte, und im Gedächtniss festhalten, was sich ändert, kann ihm die Kenntniss von dem Zusammengreifen der Muskelparthien nicht vollständig erspart werden, denn der edle, durchgebildete Körper wird sich anders bewegen als der weniger durchgebildete. Jener unterscheidet sich namentlich dadurch, dass er zu jeglicher Bewegung nur so viel Glieder und Muskeln in Bewegung setzt, und nur so stark, als nothwendig dazu gehören, was der Bewegung das Ansehen von Leichtigkeit giebt, während der Ungeschicktere und derjenige, dessen Kräfte nicht ausreichen, heftiger und mit mehr Muskeln gleichzeitig arbeitet.

Daneben dürfen wir aber nie vergessen, dass, wie schon erwähnt, die Anatomie zwar ein Erleichterungsmittel für die genauere Kenntniss der Körperformen ist, aber wie alle anderen Mittel des künstlerischen Studium nie die Anschauung dieser Formen und den künstlerischen Schönheitssinn ersetzen kann. Sie ist ein Mittel, welches dem Künstler die geistige Besiegung der ewig wechselnden Mannigfaltigkeit seines irdischen Objects, der menschlichen Form, erleichtern, (Seite 103) welches ihm den Blick für das Wesentliche der Gestalt schärfen, ihm die ganze Gestalt gleichsam durchsichtig machen, und ihn daneben mit den Hülfsmitteln prüfender Kritik für das geschaffene Werk ausrüsten soll; aber die Kunst möchte ich sagen, geht erst jenseit der Anatomie an; der künstlerische Geist zeigt sich erst in der weisen Anwendung der Formen, deren Zusammenhang und einfache Grundzüge die Anatomie gelehrt hat, in der unterscheidenden Characteristik der Gestalt. Bald lässt der Künstler, wie im Hercules, die Muskeln als starke Ballen unter der Haut liegen, bald namentlich in weiblichen Gestalten ihr Dasein durch eine geringe Vermehrung der Wölbung des Gliedes kaum ahnen, oder wie in Kindern sie ganz unter dem reichlichen Fettpolster der Haut verschwinden, er verändert die normalen Grössenverhältnisse der einzelnen Theile für seine Zwecke, er bestimmt die Stellung und Bewegung derselben. Das Prunken des Künstlers mit anatomischer Wissenschaft in seinen Figuren, wie man es schon dem Michel Angelo und namentlich mit Recht vielen seiner weniger geistvollen Nachahmer vorgeworfen hat, ist ebenso unangenehm und wahrheitswidrig, als die Vernachlässigung der anatomischen Richtigkeit leblose oder verzerrte Gestalten giebt.

Für den Unterricht ist es wichtig, dass der Schüler Gestalten mit möglichst entschieden ausgeprägten Muskeln nachahme und studire, aber er muss nicht nachher in Kunstwerken bei jeder Gelegenheit eben solche von Erhebungen und Vertiefungen bunte Figuren darstellen, das widerspricht ebenso der Wahrheit als dem Adel und der Klarheit der Gestalt. Neben solchen Missgriffen, die man in der neueren Kunst nicht selten antrifft, ist der Vergleich mit den Alten interessant; z. B. der Discuswerfer des Myron aus der Blüthezeit der griechischen Kunst, in der heftigsten Anstrengung begriffen, — indem er den Anlauf hemmt, schleudert er den Discus ab — und mit der feinsten Beobachtung der Bewegungserscheinungen ausgeführt, bietet dem Beschauer meist (Seite 104) nur grosse, wenig unterbrochene Wölbungen seiner Glieder, und doch ist der Ausdruck der grössten Lebendigkeit erreicht. Wie würde mancher andere eine solche Gestalt überladen haben, der schon bei einfach stehenden Figuren nicht Muskeln genug zeigen kann.

Wesentlich für den Künstler, und deshalb ein Hauptaugenmerk beim Unterricht ist es nun, dass die Anatomie ihm ein möglichst klares und vollständiges Anschauungsbild liefere. Er muss nicht nur die Lage, den Ansatz und die Wirkung der einzelnen Muskeln im Gedächtniss haben, so dass, wenn er sich besinnt, er das richtige darüber sich anzugeben weiss, wie es vielleicht beim Mediciner genügt, sondern er muss gewöhnt werden, durch den mehr oder minder dichten Schleier der Haut die unterliegenden Theile gleich klar da liegen zu sehen, sich den Arm nie vorzustellen ohne die Muskelbündel, die daran liegen. Freilich wird er auch die Kenntniss der einzelnen positiven anatomischen Thatsachen in seinem Gedächtniss nicht vermissen dürfen, denn sie sollen ihm als Richtschnur dienen für die prüfende Kritik, womit er die von ihm hingestellte Figur zu durchmustern hat, und ihm die Auffindung von Fehlern erleichtern. Das wesentlichste Moment bei dem Vortrag der anatomischen Einzelheiten wird deshalb die Bezugnahme auf die lebendige unverletzte Form sein; es muss einmal gesucht werden, den Schüler gleich neben der Anschauung des todten Präparats mit freiliegenden anatomischen Bestandteilen zur Vergleichung mit den lebenden Formen anzuleiten, und dann späterhin ihn zu üben, an ganzen lebendigen Modellen und an Kunstwerken die anatomischen Bestandtheile zu erkennen, wie sie mehr oder weniger versteckt erscheinen, und durch diese Uebung zugleich seinen Blick für anatomische Fehler zu schärfen. Dabei versteht es sich von selbst, dass überhaupt in der Künstleranatomie nur von denjenigen Bestandtheilen des Körpers die Rede sein kann, welche auf die äussere Form desselben von Einfluss (Seite 105) sein können. Der anatomische Unterricht würde demnach umfassen:

1) Die Lehre von den Knochen und äusserlich sichtharen Knorpeltheilen, als den festen Grundlagen der Gestalt, auf welchen die festen Verhältnisse der einzelnen Körpertheile basiren. Dieser Abschnitt würde mit Ausnahme der Schädelknochen ebenso speciell zu behandeln sein wie in der medicinischen Anatomie, weil an den Knochen auch die kleineren Vorsprünge als Ansatzpuncte der Muskeln wichtig sind.

2) Die Lehre von den Gelenken und Bändern ebenfalls ganz speciell, namentlich in Beziehung auf die Grenzen der Bewegungen.

3) Die Muskellehre, kurz die tiefen, sehr speciell die oberflächlichen, namentlich in Bezug auf ihre Erscheinung durch die Haut. An die Lehre von der Wirkungsweise der einzelnen Muskeln schliesst sich dann die Lehre von den zusammengesetzten Bewegungen.

Daneben würde, so weit es die vorhandenen Unterrichtsmittel erlauben, etwa von der thierischen Anatomie noch das Pferd durchzunehmen sein.“


S. 95 - 105 aus:
Koenigsberger, Leo: Hermann von Helmholtz. - Braunschweig : Vieweg
Band 1. - 1902


Letzte Änderung: 24.05.2014     Gabriele Dörflinger   Kontakt

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