Einfügungen in geschweifter Klammer von Gabriele Dörflinger.
Der Hilfsassistent Fischer wurde am 07.05.1911 in Berlin-Wilmersdorf als Sohn des Bankdirektors Reinhold Fischer (1881–1937) und der Maria Magdalena geb. Lorch (Seite 24) (1887– nach 1948) geboren und besuchte, nach einer Versetzung seines Vaters nach Heidelberg, seit 1924 das Gymnasium Heidelberg, das er Ostern 1929 mit dem Reifezeugnis verließ(155). Sehr erfolgreich widmete er sich dem Studium der Mathematik(156), Physik und Astronomie, so daß er im Wintersemester 1931/32 zum Hilfsassistenten in Mathematik ernannt wurde und, einen Monat nach seinem 22. Geburtstag am 02.06.1933, bei Prof. Rosenthal „mit ausgezeichnetem Erfolg“ promovierte(157). Rosenthal schreibt am Ende seines Gutachtens viel Lobenswertes über Fischer:
„Hr. Fischer hat diese ebenso inhalt- wie umfangreiche Arbeit mit ungewöhnlicher Energie, mit unermüdlicher Schaffenskraft u. Schaffensfreude durchgeführt. Ich habe so recht sehen können, wie seine math. Kräfte während des Entstehens dieser Dissertation gewachsen sind und wie sein Denken an Straffheit und Zucht gewonnen hat. Er hatte von vorneherein Einfälle und Phantasie gezeigt und hatte bereits im Laufe seines Studiums seine mathematischen Begabungen erwiesen. ... Seine ausgezeichnete Dissertation empfehle ich der Fakultät gerne zur Annahme. Ich bin überzeugt, daß man von Herrn Fischer auch fernerhin noch bedeutende Leistungen erwarten darf.“(158)Es handelt sich hier unbestritten um eine durch und durch positive Würdigung von Fischers mathematischen und persönlichen Fähigkeiten, auch wenn Rosenthal in seiner letzten Einschätzung irrte. Es spricht für Rosenthals Selbstverständnis als Professor, daß er, der kurz zuvor durch die oben beschriebenen Ereignisse stark kompromittiert wurde, diesen jungen Nationalsozialisten auf diese Weise förderte. Fischer war nämlich am 01.05.1933(159) zusammen mit seinen Eltern in die NSDAP eingetreten und zeigte dies durch Tragen des Parteiabzeichens. Noch vor der Beschreibung seiner Promotion schreibt Fischer:
„Als ich mit meinem Parteiabzeichen im Mathematischen Institut erschien, wurde es mit erstaunten Blicken zur Kenntnis genommen, aber geredet wurde darüber weiter nichts. Ich blieb Hilfsassistent, obwohl ich nunmehr kein Student mehr war. Die Zusammenarbeit mit den beiden Professoren verlief reibungslos wie bisher. Nur wurde ich nicht mehr zu Liebmann und Rosenthal ins Haus eingeladen, und das wäre mir auch peinlich gewesen.“(160)Fischers Erinnerungen spielen für diese Arbeit eine besondere Rolle, da Fischer der einzige der zwischen 1933 und 1945 in Heidelberg tätigen Mathematiker ist, der seine Erinnerungen an diese Zeit niederschrieb, auch wenn das Hauptaugenmerk seiner (Seite 25) 470 Schreibmaschinenseiten auf seiner Tätigkeit im Sicherheitsdienst der SS in Berlin liegt. Obwohl Fischer angibt, daß er keine anderen Quellen als sein Gedächtnis herangezogen hat, sind die durch die Akten des Mathematischen Instituts verifizierbaren Fakten erstaunlich korrekt. Allerdings gewinnt man bei den 1984 verfaßten „Erinnerungen“ den Eindruck, Fischer habe kaum aus der Geschichte gelernt, und sein Bericht wirkt stellenweise wie eine Rechtfertigung seiner Tätigkeit, da Elemente der Reue völlig fehlen. Da es sich aber, was das Mathematische Institut betrifft, um eine interessante Einzelmeinung und -darstellung über den Alltag im Institut vor 1933 handelt und Zeitzeugen nach 70 Jahren kaum noch zu finden sind(161), seien hier die betreffenden Passagen zitiert:
„Direktor des [Mathematischen] Instituts war zunächst allein Professor Liebmann. ... Als Mathematiker widmete er sich besonders der Geometrie, und an seinen Namen knüpft sich der Satz von der Unverbiegbarkeit der Eiflächen. Seine Vorlesungen waren für die Zuhörer etwas schwierig. Ihre Zahl verminderte sich im Laufe des Semesters auf die Hälfte oder ein Drittel. Wer aber bis zum Ende aushielt, dem konnten die Vorlesungen viel geben. Als zweiter Professor lehrte am Institut Arthur Rosenthal. ... Das besondere Interesse von Rosenthal galt der Mengenlehre. ... Rosenthals Vorlesungen fanden bei den Studenten großen Anklang. Sie waren pädagogisch geschickt aufgebaut, gut verständlich und faßten alles Wesentliche gut zusammen. Weitere Vorlesungen hielt der Privatdozent Dr. Max Müller, der zugleich der einzige Assistent des Instituts war. Er war gut verständlich und strebte in seinen Vorlesungen größte Genauigkeit an. Meist aber hatte er Mühe, bis zum Ende des Semesters das vorgesehene Ziel zu erreichen, weil ihm die Zeit davonlief. Schließlich gab es noch einen zweiten Privatdozenten [ Bopp], der sich ganz der Geschichte der Mathematik widmete. Den Besuch seiner Vorlesungen konnte man sich schenken. Das was er vortrug, war größtenteils wörtlich bestimmten Büchern entnommen. ...(162)Bevor mein drittes Semester begann, erhielt ich das Angebot, Hilfsassistent am Mathematischen Institut zu werden. Ich nahm es gerne an und hatte nun die Aufgabe, die Seminararbeiten des nachfolgenden Studentenjahrgangs zu korrigieren und dem zuständigen Professor vorzulegen. Außerdem hatte ich dem Assistenten Dr. Müller zu helfen, etwa bei der Kontrolle der Bibliothek. ... Die Tätigkeit brachte mir viel Anregung und auch eine engere Berührung mit den Professoren. Ein Kollege als Hilfsassistent ... war Wilhelm Fritsch(163).... Mit ihm hatte ich mich bald angefreundet, ... Fritsch (Seite 26) war ein begeisterter Nationalsozialist, und mit ihm besuchte ich auch verschiedene Versammlungen seiner Partei. ...(164)
Die Studenten hatten damals in den Fachschaften eine gewählte Vertretung. Mein Freund Fritsch war zeitweilig ihr Vorsitzender. ... Beliebt war in jedem Semester eine Feier mit anschließendem Tanz, zu der Professoren und Dozenten eingeladen wurden.(165) ... Überhaupt war das Verhältnis zu den Professoren sehr freundschaftlich. Wir Hilfsassistenten wurden jedes Semester zu einem Essen in ihre Wohnung eingeladen. Und auch der Assistent Dr. Müller spendierte uns ein Essen und eine Kuchenschlacht, wenn wir mit ihm den Bestand der Bibliothek kontrollierten. Ich glaube sogar, Professor Liebmann hätte es nicht ungern gesehen, wenn ich mich um seine Tocher bemüht hätte.(166)
Wie sehr sich Fischers Verhältnis zu den beiden jüdischen Professoren in den folgenden beiden Jahren verschlechterte, wird in diesem Kapitel noch deutlich werden.
Zunächst aber schienen im Mathematischen Institut Juden, Nationalsozialisten und Sozialdemokraten noch friedlich nebeneinander zu existieren.
Beispielsweise wurde im selben Monat wie Fischer, nämlich am 23.06.1933, die Jüdin Grete Leibowitz geb. Winter(167) bei den Professoren Rosenthal und Bopp über „Die Visierkunst im Mittelalter“ promoviert.(168) Als Nebenfach belegte sie — neben Physik — Hebräisch bei Prof. Beer(169). Irgendwelche Schwierigkeiten scheint es dabei nicht gegeben zu haben.
Bereits am 29.03.1933 kam vom Ministerium eine Anfrage, ob bei den sinkenden Zahlen der Studienanfänger eine Assistentenstelle eingespart werden könne.(170) Liebmann und Rosenthal wehrten sich zwar unter dem Hinweis auf eine Höchstzahl an Prüfungskandidaten und an Besuchern des Oberseminars gegen die Streichung der Stelle des Dr. Rückert(171), es gelang ihnen aber — wie bereits am 19.04.1933 bekannt wurde(172) — nur eine Verzögerung um ein Semester. Rückert bekam zum 30.06.1933 gekündigt, seine Stelle wurde zum 31.07.1933 gestrichen. „Im Interesse des Lehrbetriebs“ wurde Rückert von Liebmann und Rosenthal aber auch noch im Juli mit der „Versehung der Assistentenstelle“ beauftragt.(173)
(Seite 33)
Systematisch wurden die beiden jüdischen Professoren
{Heinrich Liebmann und Artur Rosenthal}
aus ihren Ämtern
verdrängt. Die Niederlegung des Dekanats durch Rosenthal im April 1933 und das
Prüfungsverbot vom Herbst 1934 waren dabei nur erste Schritte. Hatte die Fakultät im
(Seite 34)
Frühjahr 1933 noch Solidarität gegenüber Rosenthal bekundet, so waren die Verhältnisse
schon im Februar 1935 grundlegend verändert. In einer Dekanbeiratssitzung unter
Leitung von Dekan Erdmannsdörfer, bei der auch Rektor Groh anwesend war, wurde
unter anderem im Protokoll vermerkt:
„Der Dekan berichtet, dass sein Antrag, eine a.o. Professur f. angew. Math. zu errichten, vom Ministerium abgelehnt worden ist und dass das Ministerium angefragt habe, ob der Gesundheitszustand von Prof. Liebmann dessen baldige Emeritierung voraussetzen lasse.Der Rektor regt an, da die Mathematik in den Herren Liebmann und Rosenthal von zwei Nichtariern vertreten werde, die Versetzung von Prof. R. beim Ministerium zu beantragen und dafür eine andere Persönlichkeit zu berufen. Der Dekan stimmt dieser Anregung zu..“(223)
Aber nicht nur Ministerium, Rektorat und Dekanat schienen sich in dieser Frage einig zu sein, auch die „Studentenschaft der Universität Heidelberg“ gab in Ihrem Schreiben über die „Neuordnung am Mathematischen Institut der Universität Heidelberg“ vom 19.03.1935 an Dekan Erdmannsdörfer diesbezüglich einen Kommentar ab:
„Die Universität Heidelberg, die heute beim Neuaufbau der deutschen Hochschulen in vorderster Front marschiert, hat leider noch ein Fachgebiet, in dem die derzeitigen personellen Verhältnisse der Dozenten seines Institutes eine Aufbauarbeit im nationalsozialistischen Geist völlig unmöglich machen und wo deshalb eine Neuordnung dringenst notwendig ist. Es handelt sich um die Mathematik und das Mathematische Institut. ... Beide Professoren ... sind Juden, die also für die nationalsozialistische Aufbauarbeit von vorneherein nicht in Frage kommen. ... Zu dieser Neuordnung schlägt die Heidelberger Studentenschaft folgenden Weg vor:Es sollte noch zwei Monate dauern, bis es möglich wurde, die beiden jüdischen Professoren aus dem Amt zu drängen. „Die sachliche Arbeit und beschauliche Ruhe, die den Betrieb am Mathematischen Institut bestimmte, wurde dann jäh gestört.“(226) Am 17.05.1935 nämlich wurden die Studenten einem Druck ausgesetzt, der sie veranlaßte, (Seite 35) den Vorlesungen der Herren Liebmann und Rosenthal fernzubleiben.(227) „Professor Rosenthal wunderte sich, daß zu seiner Vorlesung nur 2 Studenten gekommen waren. Er fragte Dr. Müller und mich [Dr. Fischer], ob wir wüßten, wo denn die übrigen geblieben wären. Wir wußten es auch nicht und begannen herumzufragen. Es ergab sich, daß die Studentenschaft beschlossen hatte, die Vorlesungen zu boykottieren.“(228) Während sich die jüdischen Professoren anderer Fakultäten, die auch von dem Boykott betroffen waren, gezwungen sahen, sofort ihre Vorlesungstätigkeit einzustellen(229), hielten Rosenthal und Liebmann weiterhin ihre Vorlesungen ab. Dies führte dazu, daß in der folgenden Woche vom Leiter der naturwissenschaftlichen Fachschaft, Nagel(230), „Arbeitsgemeinschaften“ als Ersatzveranstaltungen eingerichtet wurden. Diese wurden von Dr. Thüring(231) und Dr. Bohrmann(232), zwei Assistenten an der Landessternwarte, und Dr. Fischer gehalten. „Diese Kurse finden im wesentlichen in unseren Vorlesungs- bzw. Übungsstunden statt. Herr Prof. Dr. Eichholtz(233) hat hierzu den Hörsaal des Pharmakologischen Instituts zur Verfügung gestellt. ... Es wird demnach unter Benutzung staatlicher Einrichtungen und unter Beteiligung staatlich bezahlter Personen die gegen uns unternommene Aktion neuerdings verschärft.“(234)1) Prof. Liebmann, der bereits über 60 Jahre alt ist und demnach in wenigen Jahren emeritiert wird, der zudem der weitaus anständigste der 3 vorhandenen Dozenten(224) ist und auch der wissenschaftlich bedeutendste, soll weiterhin am mathematischen Institut tätig sein.
2) Prof. Rosenthal, 48 Jahre alt, der typische Vertreter eines jüdischen Dozenten, soll an eine andere Universität versetzt werden. An seine Stelle ist ein Dozent zu berufen, der in Lage ist, den Neuaufbau am Mathematischen Institut zu leiten.“(225)
Hilfsassistent Fischer hat in seinen Lebenserinnerungen die Chance ergriffen, sich zu seinem Verhalten zu äußern:
(Seite 36) „Nagel aber fragte mich, ob ich bereit wäre, eine der Vorlesungen von Liebmann oder Rosenthal weiterzuführen, um die beteiligten Studenten vor Nachteilen zu schützen. Ich sagte zu unter der Bedingung, daß meine Professoren zuvor zurückgetreten wären, denn ich möchte nicht in Konkurrenz zu ihnen tätig werden. Später wurde ich zum Dekan [Vogt](235) bestellt, und Professor Vogt beauftragte mich und einen Assistenten der Sternwarte mit der Weiterführung der Vorlesungen und der zugehörigen Seminarübungen. Sie sollten nicht irn Mathematischen, sondern im benachbarten Pharmakologischen Institut stattfinden. Den Worten des Dekans war zu entnehmen, daß Liebmann und Rosenthal inzwischen von ihrer Lehrtätigkeit entbunden worden waren. So begann ich meine Ersatzvorlesung, zu der die am Boykott beteiligten Studenten vollzählig erschienen waren. Als ich ins Mathematische Institut zurückkehrte, stellte ich erstaunt fest, daß auch eine Vorlesung für die beiden Nichtdeutschen stattgefunden hatte. Ich wurde sofort zu Rosenthal und Liebmann bestellt, und beide verlangten zornig von mir, die Ersatzvorlesung sofort einzustellen. Ich erklärte ihnen, was mir der Dekan gesagt und aufgetragen hatte. Die Unterredung endete damit, daß beide Professoren erklärten, sie würden künftig auf meine Mitarbeit verzichten. Ich meldete mich beim Dekan und fragte ihn, ob ich nun als Hilfsassistent des Instituts entlassen wäre. Er versicherte mir jedoch, Liebmann und Rosenthal hätten keine Befugnisse mehr, und ich sollte weiterhin in seinem Auftrage die Ersatzvorlesungen abhalten und Hilfsassistent bleiben. So führte ich bis zum Semesterende meine Ersatzvorlesungen weiter, hielt die Übungen ab und stellte auch die Seminarschein für eine erfolgreiche Teilnahme aus, die dann vom Dekan unterschrieben wurden. Durch Dr. Müller wurden die einzelnen Ergebnisse auch in die Akten des Instituts eingetragen. ... Mir tat es sehr leid, daß meine langjährige Zusanmmenarbeit mit beiden [jüdischen Professoren] auf so unschöne Weise enden mußte, denn ich verdanke ihnen viel. Ich habe sie nie wieder gesehen.“(236)
Deutlich geht aus Fischers Bericht hervor, daß es sich bei dem Boykott nicht um eine rein studentische Aktion handelte, sondern daß auch die Vorgesetzten von Liebmann und Rosenthal aktiv beteiligt waren. Wohl bald nach der studentischen Stellungnahme vom 19.03.1935 erging ein Bericht an das Karlsruher Ministerium, welches am 03.04.1935 in einem Schreiben an das Reichsministerium darum bat, Rosenthal an eine nicht-badische Hochschule zu versetzen; zwei nichtarische Mathematiker seien für die Universität Heidelberg „zu schwierig.“(237) Am 03.05.1935 lautet die Antwort aus Berlin:
„Eine Möglichkeit, die erwähnten Schwierigkeiten zu beseitigen, sehe ich zur Zeit nur in der Emeritierung des Professors Dr. Liebmann. Sie wollen deshalb versuchen, den Genannten zur Einreichung eines Emeritierungsgesuches zu veranlassen, das von hier genehmigt würde.“(238)
Seifert schilderte in einem Brief vom 14.06.1945, wie er das Mathematische Institut im November 1935 vorfand:
„Herr Kubach, der damals seine Rolle noch in Heidelberg spielte, gab mir Ratschläge für die Verwaltung des Mathematischen Instituts. Dr. Max Müller ... sei politisch unzuverlässig und habe mit den Juden Liebmann und Rosenthal konspiriert. Er sei durch den Hilfsassistenten Dr. H. J. Fischer zu ersetzen. ... In Herrn Müller, den ich bis her noch nicht kannte, fand ich einen Mann, der mir durch seine sachliche kritische Art, Gewissenhaftigkeit und politische Uninteressiertheit und durch die Verehrung, mit der er von seinen Lehrern sprach, Vertrauen einflößte. Sein Rat war mir bei seiner genauen Kenntnis der Heidelberger Verhältnisse unschätzbar. Die politischen Angriffe, denen er vonseiten des Herrn Kubach ausgesetzt war, konnten bald abgewehrt werden. Eine Aussprache zwischen ihm und Herrn Dekan Seybold(308) ergab seine volle Rechtfertigung. — Weniger befriedigt war ich von Herrn Dr. Fischer. Er war noch sehr jung und zweifellos mathematisch begabt. Doch zeigte sich bald, daß er nicht die Fähigkeit hatte, sich durch eigene Studien in höhere mathematische Theorien einzuarbeiten. ... Dass Herr Fischer ein fanatischer Nazi war, bei der Sabotage seiner Lehrer Liebmann und Rosenthal mitgewirkt hatte und mit der Kubach-Clique konspirierte, machte ihn mir nicht sympatischer.“(309)Wie aus Fischers Lebenserinnerungen hervorgeht, beruhte diese Antipathie auf Gegenseitigkeit:
(Seite 46) „In den Ferienmonaten, die dem Sommersemester 1935 folgten, ... warteten wir [Müller und Fischer selbst] mit Spannung darauf, wer nun als neuer Professor nach Heidelberg kommen würde. ... Chef des Mathematischen Instituts wurde schließlich Professor Herbert Seifert. Was mich enttäuschte war die Tatsache, daß er der Partei nicht angehörte und auch kein großes Interesse an ihr zu nehmen schien. Das war meines Erachtens ein großer Fehler der für die Ernennung zuständigen Stellen, nicht zuletzt des Reichserziehungsministeriums. Gerade in Heidelberg, wo die Lenard(310)-Gefolgsleute gegen die Theoretische Physik und damit mittelbar auch gegen die Mathematik wetterten und als undeutsch hinzustellen suchten, wo gerade durch die jüngsten Ereignisse das Mathematische Institut als letzter Hort der Juden ins Gerede gekommen war, wäre ein älterer Mathematiker von fachlichem Rang, der sich zudem des unbestreitbaren Vertrauens der Parteistellen sicher sein konnte, der rechte Mann am Platze gewesen.“(311)
(Seite 54) Ein erster Streitpunkt zwischen Seifert und Wegner betraf die Habilitation des Hilfsassistenten Helmut Joachim Fischer. Dieser hatte schon im Sommer 1935 seine Habilitationsschrift bei der Fakultät eingereicht. „Wer auch immer als neuer Institutsdirektor kommen würde, er würde sich dann mit meiner Arbeit und meinem Antrag beschäftigen müssen.“ — so Fischer später.(375) Seifert bekam die Arbeit zur Begutachtung, mußte aber Fischer einige Male darum bitten, sie nochmals zu überarbeiten. Als Fischer schließlich auf einer Begutachtung beharrte, lehnte Seifert die Habilitationsschrift als ungenügend ab(376):
„In der Arbeit, die er als Habilitationsschrift einreichen wollte, behauptete er, ein Problem der Differentialgeometrie gelöst zu haben, das schon von mehreren Seiten vergeblich angegriffen worden war. Es zeigte sich aber, dass das Problem nicht nur nicht gelöst worden war, sondern er nicht einmal die Schwierigkeiten gesehen hatte, die es bot.“(377) „Er hat zwar einige schöne Beispiele behandelt, aber die allgemeinen Sätze, die er eigentlich beweisen wollte, nicht bewiesen.“(378)Dekan Vogt übergab die Arbeit daraufhin(379) an den inzwischen nach Heidelberg gekommenen Wegner, der in seinem Gutachten mit den Worten endet: „Auf Grund der genannten Arbeiten des Herrn Fischer sowie seiner im Seminar gehaltenen Vorträge kann ich eine Promotion zum Dr. habil. nur wärmstens befürworten.“(380) Über ein sehr aufschlußreiches Gespräch schrieb Seifert am 10.06.1945:
„Herr Wegner war zu einer warmen Befürwortung der Habilitation gelangt und sagte Fischer eine bedeutende Zukunft voraus. Herr Vogt suchte mich umzustimmen und gab mir zu bedenken, dass ich leicht als lauer Nationalsozialist angesehen werden könne, wenn ich einen politisch verdienten Mann wie Herrn Fischer in seinem Fortkommen hindere. Da ich mich dieser Meinung nicht anschliessen konnte, wurde mein Gutachten unterdrückt und die Habilitation ohne meine Mitwirkung durchgeführt.“(381)
(Seite 55) Wie Fischer selbst in seinen Lebenserinnerungen schrieb, wurde er — wie die Akten bestätigen — „am 29.06.1937 zur Prüfung vor die Fakultät geladen. Es waren nur ganz wenige Professoren anwesend(382), und Seifert fehlte. Ich führte mit Wegner eine längere Unterhaltung über Fragen der Differentialgeometrie, und damit war schon alles erledigt.“(383) Mit der Befürwortung des Rektors Krieck vom 18.08.1937 wurde Fischer am 27.08.1937 vom Badischen Kultusministerium ermächtigt, den Titel Dr. habil. zu führen.(384) Nachdem sich das Habilitationsverfahren über zwei Jahre hingezogen hatte, zeigt die Ernennung Fischers zum Dr. habil. innerhalb weniger Tage umso klarer, daß Leute wie Vogt und Krieck sehr an der Habilitation des Dr. Fischer interessiert waren. Wegner ließ sich wohl von den Genannten ausnutzen und stellte sein Gutachten wahrscheinlich gegen besseres mathematisches Wissen aus, um nicht, wie Seifert, in den Verdacht zu kommen, ein „lauer Nationalsozialist“ zu sein.
Wie sehr Fischer von seinen Verbindungen zu Krieck und zum Ministerium profitierte, läßt sich auch an seinen Beförderungen erkennen. Mußte Fischer noch bis 01.04.1937 mit 600.– RM Hilfsassistentenaversum pro Semester auskommen, so wurde seine Stelle zum 01.04.1937 in eine „Assistenz mit Sondervertrag“ umgewandelt und das Aversum auf 800.– RM pro Semester aufgestockt. Bereits am 01.10.1937 wurde das Aversum auf 1000.– RM pro Sernster erhöht.(385) Fischer, der sich weiterhin stark in der Partei engagierte und im September 1937 vom Reichserziehungsministerium zu einem Dozentenlager, das der Begutachtung künftiger Hochschullehrer dienen sollte, einberufen wurde(386), knüpfte über seinen Parteifreund Scheel auch Kontakte zum Reichssicherheitsdienst. Im Dezember 1937 eröffnete sich für Fischer die Möglichkeit, dort hauptamtlicher Mitarbeiter zu werden — er sagte begeistert zu. Seine Stellung am Heidelberger Mathematischen Institut gab er gerne auf,(387) da er glaubte, dieses für ihn (Seite 56) „sehr ehrenvolle Angebot nicht abschlagen zu dürfen.(388) Fischer blieb während des ganzen Krieges beim Sicherheitsdienst, ohne dort Karriere zu machen. Fischer, der im Oktober 1947 in die „Gruppe III der Minderbelasteten“ eingestuft wurde(389), war nach 1948 im Verlagswesen tätig und versuchte sich in den Jahren vor seinem Tod am 18.07.1987 als Autor.(390)
Fischer, Helmut Joachim. Erinnerungen. Teil I. Von der Wissenschaft zum Sicherheitsdienst In: Quellenstudien der zeitgeschichtlichen Forschungsstelle Ingolstadi. 3. Band. Ingolstadt 1984. (Kurztitel: Teil T).
(Seite 103)
Fischer, Helmut Joachim. Erinnerungen. Teil II. Feuerwehr für die Forschung. In:
Quellenstudien der zeitgeschichtlichen Forschungsstelle Ingolstadt. 3. Band. Ingolstadt
1984. (Kurztitel: Teil 2).
Fischer, Helmut Joachim. Hitlers Apparat. Namen, Ämter, Kompetenzen. Eine Strukturanalyse des 3. Reiches. Kiel 1988.
Fischer, Helmut Joachim. Hitler und die Atombombe. Bericht eines Zeitzeugen. In: Zeitgeschichtliche Bibliothek. Band 3. Asendorf 1987.
Fischer, Helmut Joachim. Völkische Bedingtheit von Mathematik und Naturwissenschaften. In: Zeitschrift für die gesamte Naturwissenschaft. Bd. 3. (1937/38). S. 422–426.
Redaktion: Gabriele Dörflinger
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