Günter Kern:
Die Entwicklung des Faches Mathematik
an der Universität Heidelberg

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(Seite 4)

II.     DIE MATHEMATIK IN HEIDELBERG IM 19. JAHRHUNDERT

II.1     Die Phase der Stagnation — Das Ordinariat Schweins (1827 - 1856)

II.1.1     Franz Ferdinand Schweins

Ferdinand Schweins prägte seine Zeit in zweierlei Hinsicht: zum einen war er in den Augen seiner Zeitgenossen sicher kein unbekannter Mathematiker, seine Leistungen als Lehrer wurden von der Philosophischen Fakultät der Universität Heidelberg mehrmals gewürdigt (4.1); zum anderen jedoch hing er der kombinatorischen Schule an, die Ende des 18. Jahrhunderts zwar geblüht, sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer mehr „als Sackgasse erwiesen hatte“ (4.2).

Franz Ferdinand Schweins wurde am 24.3.1780 in Fürstenberg geboren, studierte ab 1802 auf der Universität Göttingen, wo er sich erstmals habilitierte und seit 1806 Vorlesungen über elementar-mathematische Gegenstände hielt (4.3). Im Wintersemester 1809/10 wechselte Schweins nach Heidelberg, um sich hier unter dem Ordinarius der Mathematik Carl Christian von Langsdorf ein zweites (Seite 5) Mal zu habilitieren. Im Jahr 1811 wurde Schweins zum außerordentlichen Professor ernannt, und seit seiner Ernennung zum ordentlichen Professor 1816 bestanden in Heidelberg zwei Ordinarien der Mathematik nebeneinander bis zur Emeritierung von Langsdorf im Jahr 1827 (5.1). In den 40 Jahren seines Ordinariates — Schweins lehrte bis zu seinem Tode am 15. Juli 1856 ununterbrochen in Heidelberg — erfuhren seine Vorlesungen nur unwesentliche Änderungen: reine Mathematik wie z.B. Algebra, sowie Praktische Geometrie, elementare Statik und Mechanik und daneben ein Kolleg „Rechnungen für das Geschäftsleben“ — worunter wohl die spätere „Politische Arithmetik“ zu verstehen war (5.2) — bildeten im wesentlichen die Inhalte seiner Veranstaltungen, die für die Kameralisten gedacht waren (5.3). Analysis und Differential- und Integralrechnung, analytische Geometrie oder höhere Mechanik sollten von „Mathematikern vom Fach“ besucht werden (5.4). Lag es an den geringen Studentenzahlen, daß höhere Vorlesungen immer mehr zur Seltenheit wurden oder umgekehrt, bewirkte dieses Fehlen von anspruchsvolleren Themen einen Rückgang der Studentenzahlen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts? Letzters scheint wahrscheinlicher, da auch der Stil des mathematischen Unterrichts in Heidelberg immer mehr hinter dem an norddeutschen Hochschulen zurückblieb. Noch 1850 kündigte Schweins seine Kollegien „nach Diktaten“ an, während „in allen norddeutschen Hochschulen der freie mathematische Vortrag sich längst eingelebt hatte“ (5.5). Das Festhalten am Gedankengut der kombinatorischen Schule und an überkommenen Vorlesungsweisen sowie das gleichbleibende Niveau der Vorlesungsinhalte bewirkten ein Zurückbleiben der Mathematik (Seite 6) hinter der langsam aufblühenden Physik unter dem Ordinarius Muncke (6.1).

„Ab 1835 konnte man in Heidelberg in der Mathematik kaum etwas lernen“. (6.2)
Doch sollte das Wirken von Schweins in Heidelberg nicht nur negativ gesehen werden. Er galt als „ausgezeichneter Kombinatoriker“, was sich besonders in seinen drei Hauptwerken wiederspiegelte: „Geometrie nach einem neuen Plane gearbeitet“, „Analysis“, „Theorie der Differenzen und Differentiale, der gedoppelten Verbindungen, der Produkte mit Versetzungen, der Reihen, der wiederholenden Funktionen, der allgemeinsten Fakultäten und der fortlaufenden Brüche“ (6.3).
„Unter Schweins wurde Heidelberg zum Mittelpunkte der kombinatarischen Schule“. (6.4)

II.1.2     Extraordinarien und Privatdozenten während des Ordinariates von Schweins (6.5)

Nachdem Ferdinand Schweins seit 1827 das alleinige Ordinariat für Mathematik in Heidelberg innehatte (6.6), waren in den folgenden Jahren nur wenige Habilitationen und Neuberufungsverhandlungen zu verzeichnen. So habilitierte sich im Jahr 1828 der aus (Seite 7) Heidelberg stammende Arthur Arneth (7.1) für „mathematische Wissenschaften“ und hielt seither Vorlesungen über „Geometrie“, „Trigonometrie und Stereometrie“, „die Elemente der Analysis“ und „Arithmetik und Algebra mit Anwendung auf das Geschäftsleben“, also in erster Linie aus dem Bereich der elementaren Mathematik (7.2). Schon in seinem Gesuch um Ernennung zum außerordentlichen Professor im Jahr 1834 zeigt sich, daß Arneth keine allzugroße Bedeutung hatte. Darin wehrte er sich gegen Angriffe, er „brächte nie Vorlesungen zu Stande“ und eine Schrift über einen neuen Gegenstand „sey ganz von andern entlehnt“ (7.3). Daraufhin beschloß die Fakultät, ihn nach seiner „wissenschaftlichen Wirksamkeit“ für „würdig“ zu halten, aber wegen der Unzulänglichkeit der Mittel ihn nur für spätere Fälle zu empfehlen, worauf das Gesuch durch das Ministerium abgelehnt wurde (7.4). Seit 1838 war Arneth auch Lycealprofessor, er starb am 17. Oktober 1858 an Lungenentzündung (7.5).

Neben Arneth hielt von 1828 bis 1837 auch Dr. Anton Müller Vorlesungen an der Ruperto-Carola, und zwar über höhere Algebra, Wahrscheinlichkeitsrechnung, Mechanik, höhere Geometrie, Geometrie-Trigonometrie und Stereometrie sowie über sphärische Polygonometrie. (Seite 8) Seit 1837 lehrte er als ordentlicher Professor in Zürich (8.1).

Als letzter der drei, die Cantor als „die drei letzten einigermaßen namhaften Kombinatoriker der alten Schule“ bezeichnet (8.2), ist Ludwig Öttinger zu nennen (8.3). Er war Gymnasialprofessor in Heidelberg und bat beim Ministerium in Karlsruhe um die Erlaubnis, an der Universität Heidelberg Vorlesungen halten zu dürfen. Darüber kam es zu langwierigen Verhandlungen und Diskussionen zwischen der Philosophischen Fakultät und dem Ministerium. Die Fakultät war strikt dagegen, Öttinger ohne eine vorherige Habilitation oder eine vorherige offizielle Bitte um Dispensation von den Habilitationsbedingungen Vorlesungen halten zu lassen (8.4). Doch das Ministerium blieb bei seiner Meinung, Öttinger das Abhalten mathematischer Vorlesungen an der Universität Heidelberg zu gestatten, da

„eine Probevorlesung ohne Verletzung der Schiklichkeit von einem Gymnasial-Professor nicht verlangt werden könnte, und was die andere Bedingung der Habilitierung, die Erlangung der Doctorwürde betrifft, man die Anstellung als Gymnasial-Professor, als eine gleichstarke Bürgschaft für die Fähigkeit betrachtet, Vorlesungen zu halten, als die Erwerbung der Doctorwürde.“ (8.5)
Nachdem im Februar 1834 das Ministerium es ablehnte, Öttinger (Seite 9) auf sein Gesuch hin zum außerordentlichen Professor zu ernennen, wünschte dieser bei der Besetzung der durch den Tod Langsdorfs erledigten Lehrstelle für angewandte Mathematik berücksichtigt zu werden (9.1), welche Stelle dann Philipp Jolly übertragen wurde (9.2). Zum Sommersemester 1836 erhielt Öttinger einen Ruf als ordentlicher Professor der Mathematik an die Universität Freiburg (9.3).

Als Privatdozent für Physik und Meteorologie hielt Otto Eisenlohr von 1830 bis 1840 auch Vorlesungen über mathematische Gebiete (9.4). Am 6. Dezember 1828 in Heidelberg mit der Note „summa cum laude“ promoviert, stellte er schon im Jahr 1829 den Antrag auf Zulassung zur Habilitation an der Heidelberger Universität. Die Fakultät wollte diesem auch zustimmen wegen der im Examen bewiesenen Kenntnisse, Eisenlohrs „Liebe zu den Wissenschaften“ und seines „untadelhaften Charakters“ (9.5), doch zweifelte sie wegen seiner „bekannten Kränklichkeit“ an Eisenlohrs „Fähigkeit zum Lehrberufe“ Obwohl die Fakultät daher die Zulassung zur Habilitation einstimmig ablehnte, befürwortete das Ministerium Eisenlohrs Antrag (9.6), worauf die Habilitation vollzogen wurde und (Seite 10) Eisenlohr bis 1840 als Privatdozent an der Philosophischen Fakultät lehrte.

In erster Linie dürfte seine Krankheit — Eisenlohr war vermutlich Epileptiker — ein erfolgreiches Wirken an der Universität verhindert haben. Aus einem Gutachten der Fakultät vom Jahr 1833 geht hervor, daß Eisenlohr weder „vorzügliche Anlagen“ noch genügend Kenntnisse mitbrächte und auch keine Leistungen von ihm bekannt seien, obwohl die „Fachmänner die beste Meinung“ von ihm hegten und glaubten, er könne eventuelle Lücken schließen. Das Wirken der drei anderen Privatdozenten — Arneth, Müller und Öttinger — wurde als erfolgreicher als das von Eisenlohr angesehen, als Dozent würde er „nie etwas leisten“ (10.1). Diese Einschätzung zeigte sich auch in den folgenden Jahren. Die Krankheit Eisenlohrs, seine Vorlesungen „von untergeordnetem Werthe“, was sich in sehr geringen Hörerzahlen widerspiegelte, und die geringe literarische Tätigkeit verhinderten eine Beförderung (10.2). Im Jahr 1840 zog sich Otto Eisenlohr in das Privatleben zurück.

Einzig Philipp Jolly konnte sich einen gewissen Ruf erwerben. 1834 in Heidelberg habilitiert, wurde ihm 1839 „die erledigte Lehrkanzel der angewandten Mathematik“ übertragen „unter Ernennung desselben zum außerordentlichen Professor“ (10.3). Als Privatdozent lehrte er hauptsächlich Physik, Astronomie und Maschinenlehre, (Seite 11) wobei 20 bis 50 Hörer keine Seltenheit waren, ab 1839 übernahm Jolly auch mathematische Vorlesungen — vornehmlich Differentialrechnung — wobei auch seine Hörerzahlen nur zwischen vier und acht schwankten, was auf eine geringe Zahl an Studenten der Mathematik hindeutet (11.1). Am 29. September 1846 wurde Jolly zum Professor ordinarius für Physik und zum Direktor des „physikalischen Kabinetts“ ernannt, wobei ihm eine Besoldungszulage von 200 Gulden zu den bisherigen 800 Gulden jährlich gewährt wurde (11.2). Vielleicht hatte seine konträre Position zu Schweins hinsichtlich der Berufungsdiskussionen von 1848 und 1853/54 Einfluß auf das Verhalten der Fakultät, als Jolly im Sommer 1854 seinen Ruf nach München bekanntgab; fest steht, daß die Fakultät keinerlei Anstalten machte, ihn zu halten, wie sie es bei mehreren anderen Ordinarien noch tat (11.3).

Die Stagnation der Mathematik unter dem Ordinariat Schweins dürfte wohl auch darin ihren Ausdruck finden, daß sich nun bis zum Jahr 1852 keine Habilitationen für Mathematik mehr feststellen lassen (11.4). Im Jahr 1853 legte Professor Schreiber, ehemaliger Lehrer für praktische Geometrie am Polytechnikum, vermutlich das in Karlsruhe, ein Habilitationsgesuch für Mathematik vor. Doch wies Schweins in seiner Beurteilung auf die geringen Leistungen Schreibers als Lehrer am Polytechnikum hin und darauf, daß nach (Seite 12) dessen Ausscheiden keiner seiner Schüler mit genügenden Kenntnissen für seine Nachfolge gefunden werden konnte (12.1). Schreiber wurde, wie acht Jahre zuvor Hofrath Dr. Seeber, abgewiesen. Dieser hatte sich 1845 darum beworben, Vorlesungen über „höhere Mathematik“ halten zu dürfen, doch hatte die Philosophische Fakultät auch hier große Bedenken, vor allem da sich bei Seeber eine „notorische Lehruntüchtigkeit“ schon in Freiburg und Karlsruhe gezeigt hätte und seine Vorlesungen auf Grund seines Alters „keine Früchte“ tragen würden (12.2).

II.1.3     Die Berufungsverhandlungen am Ende des Ordinariates Schweins

Die Einstellung von Schweins, seine Vorstellungen und die der Philosophischen Fakultät hinsichtlich der Ansprüche an einen Dozenten der Mathematik lassen sich am ehesten an den Diskussionen um die Berufung zusätzlicher Professoren für Mathematik in den Jahren 1848 und 1853 bis 1855 erkennen.

Nach einem Erlaß des Ministeriums vom 7. Juli 1848 sollte Schweins durch Anstellung eines außerordentlichen Professors „Erleichterung bekommen, damit in jedem Semester wenigstens die wesentlichen Teile der Mathematik gelesen werden“ könnten (12.3). Nachdem sich darauf Anton Müller, inzwischen ordentlicher Professor in Zürich (12.4), Arthur Arneth und Ludwig Öttinger (12.5), seit 1838 ordentlicher Professor in Freiburg, um diese Lehrstelle bewarben, (Seite 13) mußten Schweins und Jolly ihre Gutachten dazu abgeben (13.1).

Zwar sollte für die Stelle ein junger Mathematiker gefunden werden, doch glaubte Schweins, daß viele ihre derzeitige Stelle nicht verlassen würden, um in Heidelberg die Vorlesungen zu halten, „die von ihnen gefordert werden“ müßten (13.2). Im übrigen sei ihm „keiner bekannt, dessen Leistungen als Forscher u. als Lehrer einen Ruf begründen könnten“, ein zu berufender Privatdozent müßte als Mathematiker schon sehr hervorragen. Nach Schweins' Meinung sei

„auf jene Männer vorzüglich Rücksicht zu nehmen, welche durch ausführliche auf vieles Studium gegründete Werke sich als Denker u. Forscher bekannt gemacht haben, und auf der gegenwärtigen Höhe der Wissenschaft stehen“. (13.3)
Der zu berufende Lehrer sollte nach Ansicht von Schweins die „verschiedenen Zweige der niederen und höheren Mathematik, Geschäftsrechnungen für Cameralisten, prakt. Geometrie & Mechanik“ lesen, also vor allem jene Vorlesungen, „welche besonders denjenigen Academikern wichtig sind, die einstens im Staatslebendienste die Math. nicht entbehren können“ (13.4). Daher brachte Schweins Dr. W. G. Strauch, Prof. Raabe und Prof. Schnell in Vorschlag (13.5), die sich durch ihr „mittleres Alter“ und ihre seit mehreren Jahren ausgeübten Lehrtätigkeit für Heidelberg qualifizierten (13.6). Mit teilweise äußerst scharfen Worten äußerte sich Schweins auch zu den Bewerbungen von Arthur Arneth, Anton Müller und Ludwig Öttinger (13.7). Arneth könne „als Lehrer am Lyceum u. an der Univers. den Forderungen beider Anstalten zugleich nicht Genüge leisten“, (Seite 14) Müller fehle „alle Lehrgabe in der Mathematik“ und er sei „eine unmögliche Größe“, Öttinger habe ebenso bewiesen, „daß ihm in der Mathematik die Lehrgabe abgeht“ (14.1). Die Abschlußbemerkung, die Schweins seinem Gutachten beifügte, zeigt deutlich seine Meinung über sich:
„Sollte es dem h. Minist. gefallen, mir die Beurteilung [weiterer Bewerbungen] zu übertragen, so werde ich mit Gerechtigkeit u. Offenheit, wie oben, meine Ansichten vorlegen. Das stille Urtheil des Kenners weicht häufig von dem Lärm der Menge ab“. (14.2)
Diesen „Lärm“ erzeugte der für die angewandte Mathematik zuständige Professor Jolly. Er war zwar „in den Grundsätzen“ mit den Ausführungen von Schweins einverstanden, doch stimmte er nicht mit Schweins' Vorstellungen von einem neuzuberufenden Lehrer überein. Auch wenn Strauch und Raabe durch ihre Arbeiten Anerkennung gefunden hätten, so habe Strauch doch noch nie an einer Universität gelehrt und müßte daher erst noch Erfahrungen sammeln, stünde also „mit dem jüngsten Docenten auf gleicher Stufe“ (14.3). Raabe sei zwar für seine Lehrgabe berühmt, doch anscheinend konzentriere er sich in seinen Vorlesungen auf die Differential- und Integralrechnung und vernachlässige die beiden anderen Hauptzweige der Mathematik, „analytische Geometrie“ und „analytische Mechanik“ (14.4). An einer Universität sei es jedoch wichtig, eine „allseitige Bildung in dem Fache“ zu besitzen (14.5). Jolly brachte nun seine eigenen Vorschläge vor: den außerordentlichen Professor Stern in Göttingen, der sich sowohl durch seine literarische Leistung als auch durch seine Lehrfähigkeit und (Seite 15) durch seine „Ehrenhaftigkeit u. den Charakter“ für eine Berufung nach Heidelberg empfehle (15.1). Weiterhin wies Jolly auf Professor Schlömilch in Jena hin, wobei er weniger dessen bisherige Leistungen berücksichtigte als vielmehr die Aussicht, daß in Schlömilch ein hervorragender Mathematiker heranreifen würde (15.2).

Auch an diesen beiden Vorschlägen ließ Schweins in seiner Zurückweisung nichts Gutes.

„Schon seit Jahren geht man hier damit um, ihn [Stern] mir zum Opponenten gegenüber zu stellen. Dieses genügt ihn zu übergehen, u. mich entschieden gegen seine Berufung zu erklären“. (15.3)
Schlömilch wurde zwar auch von Schweins als „talentvoller Mann“ gesehen, doch
„das, was ihn hier unmöglich macht, ist seine Unduldsamkeit u. bittere Feindseligkeit gegen Andersdenkende in der Wissenschaft“. (15.4)
Nach eigenen Angaben hatte Schweins versucht, mit seinen Vorschlägen Männer zu berücksichtigen, deren literarisches Werk umfassende Studien nachwies, dabei war er auch bestrebt, „Unpartheilichkeit“ zu zeigen, letztendlich verlangte er aber, daß (Seite 16) man ihm „keinen Störenfried“ zur Seite stellen sollte (16.1). Die Fakultät stimmte einstimmig gegen eine Berufung von Müller, Öttinger und Arneth (16.2), da sich jedoch keine Mehrheit für die Vorschläge von Schweins oder Jolly fand, sollten deren Gutachten nur an das Ministerium übergeben und „der Stand der Ansichten“ berichtet werden (16.3).

Im Oktober 1853 trat das Ministerium erneut an die Philosophische Fakultät heran, diesmal um Vorschläge für die Berufung eines Nominalprofessors für Mathematik einzuholen (16.4). Nach Ansicht der Fakultät sollte bei einer Berufung auf die enge Verbindung von Mathematik und Naturwissenschaften geachtet werden, als Lehrer und Gelehrter sollte der Neuzuberufende „verschiedene Zweige der Mathematik gleichmäßig vertreten“ und „wissenschaftliche Qualitäten“ aufzeigen (16.5). Schweins brachte sogleich wieder die Namen von 1848 in Erinnerung — Strauch, Raabe und Schnell — , Jolly schlug Kirchhoff, der die physikalische Richtung der Mathematik vertrat, Professor Stegmann in Marburg und Professor Scherk in Kiel vor (16.6). Weiterhin brachte der Professor für Nationalökonomie Rau noch Professor Seidel in München — er war Schüler bei Gauß und Jacobi — und Professor Öttinger in Freiburg — der schon in Heidelberg gelehrt hatte — in Vorschlag (16.7). In der Fakultätssitzung vom 17. Dezember 1853 trat Schweins erneut für Strauch ein, dem er die gleiche Bedeutung wie Steiner in Berlin und Moebius (Seite 17) in Leipzig beimaß (17.1); der Chemiker Bunsen äußerte sich eher skeptisch über Raabe, Schnell und Strauch, Stegmann hingegen sei durch seine „Variations-Rechnung“ berühmt und auch als Lehrer bewährt, und auch über Scherk gab er, ebenso wie Jolly, ein sehr lobendes Urteil ab. Seidel sollte nach Ansicht Jollys wohl dem Anspruch genügen, Mathematik und Naturwissenschaften zu verbinden. Die Philosophische Fakultät beschloß daraufhin, Strauch, Scherk und Stegmann vorzuschlagen. Aber in ihrem Schreiben an den Engeren Senat würdigte sie auch ausdrücklich die Verdienste von Schweins und hob hervor, daß der neue Ordinarius theoretische und angewandte Mathematik lehren müßte (17.2). Im März 1854 bewarben sich noch die schon mehrmals erwähnten Ludwig Öttinger und Arthur Arneth um die Professorenstelle in Heidelberg (17.3). Bei diesen erneuten Bewerbungen äußerten sich die Ordinarien Schweins und Jolly zustimmend zu beiden Antragstellern (17.4), nach Ansicht von Schweins müßte Arneth nach Strauch sogar noch am ehesten Berücksichtigung finden, da er durch seine Kenntnisse Mathematik und Naturwissenschaften verbände, mit seinen Schriften sich als „wahrer Förderer der Wissenschaft“ erwiesen habe (Seite 18) und auch seine von ihm gehaltenen Vorlesungen dies unterstrichen (18.1). Die Fakultät schloß sich der Wertung von Schweins an, wollte aber Arneth „ex aequo“ den schon Vorgeschlagenen einreihen (18.2). Dies wurde auch als Fakultätsbeschluß dem Ministerium übermittelt, wobei der Vorschlag von Schweins, der eine Rangordnung der Kandidaten darstellte, als Anlage A, eine weitere Äußerung Jollys und anderer als Anlage B diesem Schreiben beigefügt wurden (18.3). Als sich am 15. Mai 1854 auch der Gymnasiallehrer in Stuttgart, Prof. Dr. Reuschle, um die Stelle des Mathematikers in Heidelberg bewarb, gab es auch hierzu kontroverse Diskussionen (18.4). Nach Meinung von Schweins war Reuschle als „der würdige Mann unter die Bewerber der Lehrstelle aufzunehmen“ (18.5) und auch Jolly bezeichnete Reuschle als „strebsam und tüchtig“ und war zunächst für empfehlende Beförderung des Gesuches an das Ministerium (18.6). Doch beantragte er dann, dem Bericht an das Ministerium den Zusatz beizufügen,

„daß der Fakultät über die Lehrfähigkeit des H. Reuschle authentisch nichts bekannt sei, u. daß nach den, von ihm selbst gemachten, Angaben derselbe nicht als ein, im akademischen Unterricht erprobter, Lehrer betrachtet werden könne“. (18.7)

(Seite 19) Unter Beifügen des Votums von Schweins wurde dieser Antrag an die vorgesetzte Behörde weitergeleitet, worauf die Fakultät auf weitere Anweisungen von dort warten wollte (19.1).

Die Verhandlungen um die Berufung eines Professors für die Mathematik wurden erst wieder im November 1855 aufgenommen, als das Ministerium der Philosophischen Fakultät den Professor Dr. Hesse in Königsberg als neuzuberufenden Mathematiker vorschlug und diese sich über dessen wissenschaftliche Befähigung, Lehrgabe und Verhalten äußern sollte (19.2). Schweins, der inzwischen ein Alter von 75 Jahren erreicht hatte, war in seinem Gutachten mehr besorgt um seine Stelle als daß er sich über die Fähigkeiten von Hesse äußerte. Dessen Position unter den Mathematikern sah Schweins zwar als eine „ehrenvolle“ an, doch war ihm dessen „Lehrerwirksamkeit ganz unbekannt“ (19.3). Ansonsten sah Schweins die Berufung eines Mathematikers als „kein dringendes Bedürfnis“ an und unterstrich dies durch seine Zusicherung, in den Jahren seines Wirkens in Heidelberg noch keinen Tag ausgesetzt zu haben und

„daß ich mich noch immer kräftig fühle, die mathematischen Vorlesungen wie bisher zu holten, und daß ich meine bisherige Stellung an der Universität behaupten kann und werde. (19.4)
Der inzwischen für Jolly berufene Kirchhoff hingegen war selbst Schüler von Hesse, als er in Königsberg studierte, und konnte daher aus eigener Erfahrung Hesses Vortragsstil als von „ausgezeichneter Klarheit“ bezeichnen; er verstünde es, „das Interesse seiner Zuhörer zu fesseln“ (19.5). Umgekehrt war Hesse Schüler von (Seite 20) Jacobi, des „berühmtesten deutschen Mathematikers unseres Jahrhunderts“ (20.1). Letztendlich sprächen auch Hesses Abhandlungen, die sich mit verschiedenen Gebieten der Mathematik, vornehmlich Algebra und Geometrie beschäftigten, für dessen Berufung nach Heidelberg. Die Fakultät beschloß, beide Gutachten als von ihr „adoptirt“ an das Ministerium zu schicken und „die Berufung des Professor Hesse als zweckmäßig zu bezeichnen“; sie tat dies jedoch unter „ausdrücklicher Anerkennung der großen Verdienste und der Lehrthätigkeit des Geh. Rath Schweins“ (20.2).

Am 28. April 1856, kurz vor dem Tode von Schweins, wurde Hesse der Lehrstuhl für Mathematik in Heidelberg übertragen (20.3).


(Seite 21)

II.2     Die Phase des Aufschwungs: 1856 - 1884

II.2.1     Das Ordinariat Ludwig Otto Hesse (1856 - 1868)

Die Berufung Hesses fiel in die Zeit, als der Aufschwung der Naturwissenschaften eine rund 20 Jahre dauernde Blüte der Ruperto-Carola mit sich brachte. Mit dem Chemiker Robert Bunsen, dem Physiker Gustav Robert Kirchhoff und Hermann Helmholtz (21.1), der einen Lehrstuhl in der medizinischen Fakultät innehatte, sind wissenschaftliche Leistungen von großer Bedeutung verbunden: Die von Kirchhoff und Bunsen entdeckte Spektralanalyse, Kirchhoffs Arbeiten über Verzweigungen elektrischer Ströme, woraus die Kirchhoffschen Regeln resultierten, oder auch das Kirchhoffsche Strahlungsgesetz, Helmholtz' Augenspiegel und seine Arbeiten aus der physiologischen Optik und der Akustik zeugen noch heute von der großen Bedeutung ihrer Entdecker (21.2). Auf ähnliche Weise ist der Name Hesse bis in die Gegenwart mit wichtigen Errungenschaften für die Mathematik verbunden: Die Hessesche Determinante und die Hessesche Kurve sowie die Hessesche Normalform der Gleichung einer Geraden und Ebene sind wichtige Hilfsmittel in der analytischen Geometrie (21.3).

Ludwig Otto Hesse wurde am 22.4.1811 in Königsberg geboren, wo er bei G. J. Jacobi, F. W. Bessel, Franz Neumann und F. J. Richelot Mathematik und Physik studierte (21.4) und Anfang 1840 mit (Seite 22) einer Dissertation über die acht Durchschnittspunkte dreier Oberflächen zweiter Ordnung promoviert wurde (22.1). In Königsberg hielt er nach seiner Habilitation Vorlesungen über Analysis, Geometrie und Mechanik, wechselte 1855 als ordentlicher Professor nach Halle und folgte schließlich 1856 einem Ruf an die Universität Heidelberg, wo inzwischen auch Kirchhoff, einer seiner Schüler der Königsberger Zeit, Physik lehrte (22.2). Mit Hesse hielt, wie an vielen anderen deutschen Universitäten, die „Königsberger Schule“ in Heidelberg ihren Einzug und brachte neue Formen des Unterrichts aber vor allem auch neue Inhalte mit sich (22.3).

Inhalt und Stil von Hesses Vorlesungen beschreibt Heinrich Weber, der sein Studium in Heidelberg gerade zu dieser Zeit begann, in seinen Erinnerungen (22.4):

„Seine Vorlesungen hielt Hesse vollkommen frei ohne geschriebenes Heft, sie waren aber außerordentlich klar und leicht verständlich. Er las in zwei Semestern Differentialrechnung und Integralrechnung, wobei auch die Grundzüge der Theorie der Differentialgleichungen berücksichtigt wurden und außerdem analytische Geometrie der Ebene und des Raumes, Vorlesungen, in denen der von Hesse so geliebte Geist der Symmetrie und Eleganz sehr gut zur Geltung kam und uns eingeprägt wurde. Außerdem las er noch abwechselnd Mechanik, (Seite 23) Variationsrechnung und ein Kolleg unter dem Titel ,Encyklopädie der Mathematik', in dem uns die Grundlehren der sogenannten ,algebraischen Analysis', Combinatorik, Reihen, höhere Gleichungen, beigebracht wurden. Von besonderem Interesse waren uns die Übungen, die Hesse einmal wöchentlich eingerichtet hatte, in denen hauptsächlich geometrische Fragen behandelt wurden.“ (23.1)
Hesse hatte wohl während seiner ganzen Amtszeit in Heidelberg mit der Stellung der Mathematik an den Universitäten gegenüber den Gymnasien zu kämpfen. So sollte sich Hesse im Jahr 1861 dazu äußern, wenigstens ein Semester pro Jahr eine Vorlesung über „Reine Mathematik“ zu halten (23.2). Die hierauf erfolgten Diskussionen in der Fakultät zeugen davon, daß die Universität auf diese Weise Aufgaben übernehmen würde, die eigentlich eher den Gymnasien oblagen (23.3). Es sei weder Hesses Beruf noch Pflicht, „die Lücken der Schulbildung seiner Zuhörer soweit als thunlich auszufüllen“ (23.4). Hesse sah seine Aufgabe vielmehr darin,
„Schüler zu bilden, die einst als Lehrer den mathematischen Unterricht auch an Mittelschulen mit besserem Erfolge erteilen können, als dies im Allgemeinen gegenwärtig in unserem Lande der Fall ist.“ (23.5)
So versuchte Hesse in seinen Vorlesungen beidem gerecht zu werden, d.h. sowohl schwierige Teile der Mathematik zu lehren als auch grundlegende Elemente zu vermitteln. Eine Zunahme des Unterrichts in den elementaren Gebieten der Mathematik hieß für (Seite 24) die Fakultät eine Reduzierung der anspruchsvolleren Teile, obwohl „die eigentliche Wissenschaft der Mathematik erst in ihren höheren Theilen beginnt“ (24.1). Das Ministerium müßte dafür Sorge tragen, daß der Mathematikunterricht an den Schulen mehr Berücksichtigung fände, die Universität hätte die Aufgabe, zukünftigen Lehrern Kenntnisse in der höheren Mathematik zu vermitteln, da nur solcherart ausgebildeten der Schulunterricht anvertraut werden sollte (24.2). Von Anfang an hatte Hesse dieses Problem erkannt und daher bereits in seinem ersten Semester eine Vorlesung „Encyklopädie der gesamten Mathematik“ gehalten, und derlei Elementarvorlesungen immer wieder wiederholt (24.3).

Hesses Forschungsgebiet umfaßte die Algebra, Analysis und die analytische Geometrie, wobei er eine Verbindung zwischen Algebra und Geometrie herzustellen suchte und damit ein neues Teilgebiet der Mathematik bearbeitete (24.4). Dies schlug sich auch in seinem literarischen Werk nieder, wobei Hesses neue und wichtige Entdeckungen in seiner Königsberger Zeit zu finden sind, während er in seiner Heidelberger und Münchner Periode seine Erkenntnisse in Lehrbüchern der Geometrie sammelte (24.5).

Einen Eindruck von der Bedeutung eines Lehrers geben auch seine Schüler; in dieser Hinsicht ist auffallend, daß die Zahl der Habilitationen nach dem Ruf Hesses nach Heidelberg sprunghaft anstieg: 1859 habilitierte sich Georg Zehfuß, 1863 wurde Heinrich Weber promoviert, der sich dann 1866 habilitierte, Jakob Lüroth wurde 1865 promoviert, seine Habilitation erfolgte im Jahr 1867, ebenfalls 1865 habilitierte sich Paul Du Bois-Reymond und Max (Seite 25) Noether wurde noch während Hesses Amtszeit 1868 promoviert (25.1). Zusätzlich zu dieser Gruppe von Mathematikern — Friedrich Eisenlohr und Moritz Cantor lehrten ebenfalls unter Hesses Ordinariat — beantragte die Fakultät nur noch, den Lycealprofessor Rummer unter Ernennung zum außerordentlichen Professor zu ermächtigen, elementarmathematische Vorlesungen an der Ruperto Carola zu halten (25.2)

Am 7. August 1868 übergab Hesse der Fakultät sein Abschiedsgesuch, da er einen Ruf an das Polytechnikum in München erhalten hatte (25.3). Bei der Nachfolgefrage differierten die Meinungen Hesses und Kirchhoffs. Während beide noch Prof. Richelot in Königsberg favorisierten, schlug Hesse noch Siegfried Aronhold in Berlin vor sowie Durège, Richard Baltzer und H. Hanckel (25.4). Zwar nannte Kirchhoff an zweiter Stelle ebenfalls Aronhold, doch weiterhin empfahl er wärmstens Professor Königsberger in Greifswald; diese letzteren Vorschläge — 1) Richelot, 2) Aronhold und 3) Königsberger — (Seite 26) wurden schließlich von der Fakultät übernommen (26.1). Am 2. Januar 1869 teilte das Ministerium der Fakultät mit, daß Leo Königsberger in Greifswald an die Universität Heidelberg berufen worden sei, wobei er ein Gehalt von jährlich 2000 Gulden erhalten sollte, zusätzlich seine Umzugskosten und das Einkaufsgeld für die Generalwitwenkasse erstattet und bei seiner Pensionierung die außerhalb Badens zugebrachten Dienstjahre als „in badischem Staatsdienste zugebracht“ angerechnet werden sollten (26.2).

II.2.2     Das erste Ordinariat Leo Königsberger (1869 - 1874)

Leo Königsberger hatte auch durch sein langes Wirken in Heidelberg — auf das zweite Ordinariat 1884 bis 1914 soll noch eingegangen werden — den größten Einfluß auf die Heidelberger Mathematik, insbesondere auch im institutionellen Bereich; in seiner Amtszeit entstand das mathematisch-physikalische Seminar, die eigenständige naturwissenschaftlich-mathematische Fakultät, es wurden planmäßige Extraordinarien und nach langem Mühen auch das zweite Ordinariat für Mathematik eingerichtet.

Am 15. Oktober 1837 in Posen geboren, schloß Leo Königsberger sein Studium in Berlin mit der Promotion durch Karl Weierstraß, der bei ihm den nachhaltigsten Eindruck hinterlassen hatte und mit dem er seinen Lebenserinnerungen zufolge in ständigem Briefkontakt lebte, ab (26.3). 1866 wurde Königsberger in Greifswald ordentlicher Professor und folgte im Jahr 1869 einem Ruf an die Universität Heidelberg (26.4).

Königsbergers Vorlesungen waren breit gefächert, wobei sein damaliges Forschungsgebiet — die Theorie der elliptischen Funktionen — (Seite 27) den Schwerpunkt bildete (27.1); desweiteren las er „Algebraische Analysis“, „Differential- und Integralrechnung“, „Höhere Algebra“, „Zahlentheorie“, „Synthetische Geometrie“, „Theorie der Kurven und Flächen“, „Variationsrechnung“, „Funktionentheorie“ und „Analytische Mechanik“. Im mathematischen Seminar wurden teilweise die „Analytische Geometrie“ und die „Theorie der Invarianten und Kovarianten“ behandelt (27.2). Dabei konnte er seine Zuhörer durch seinen Vortragsstil für die Wissenschaft begeistern.

„Königsberger trug bei virtuoser Beherrschung des Stoffes rasch, klar, den Hörer mitreißend, vor. Sein frisches, selbstbewußtes, kräftiges Wesen, sowie seine Liebenswürdigkeit und Kulanz sicherten ihm die Zuneigung der akademischen Jugend.“ (27.3)
Königsbergers Forschungstätigkeit in dieser ersten Heidelberger Zeit widmete sich zum Teil noch den „Abelschen Transzendenten“, desweiteren war aber auch sein Lehrbuch der elliptischen Funktionen in Vorbereitung (27.4). Als Forscher war Königsberger, dem Urteil seines Lehrers und Freundes Weierstraß zufolge, immer bestrebt, unvollständig gelöste Aufgaben einem „befriedigenden Abschluß entgegenzuführen“ (27.5).

(Seite 28) In dieser kurzen, nur sechsjährigen Schaffensperiode in Heidelberg wurden fast jedes Jahr zwei Schüler Königsbergers promoviert, unter ihnen später so bekannte Mathematiker wie Alfred Pringsheim (28.1), weiterhin erlangte Martin Krause den Doktorgrad (28.2) und Max Noether erwarb sich die Venia legendi (28.3). Schließlich hörte auch Sofia von Kowalewskaja bei Königsberger Vorlesungen (28.4), dagegen verließ Heinrich Weber die Universität und wechselte nach Zürich, Paul Du Bois-Reymond erhielt einen Ruf nach Freiburg.

Für die Mathematik in Heidelberg selbst dürfte aber die Errichtung des mathematisch-physikalischen Seminars mit am bedeutsamsten gewesen sein.

Schon früh hatten Mathematiker erkannt, daß für das Studium der Mathematik die Vorlesungen allein nicht ausreichten, sondern daß die Kenntnisse der Studenten in Übungen vertieft und ihr selbständiges Arbeiten herangebildet werden sollten (28.5). Obwohl in Freiburg schon im Jahr 1846 ein solches Seminar gegründet worden war, dauerte es noch bis zum Jahr 1869, bevor — vermutlich — das Innenministerium in Karlsruhe die Errichtung eines (Seite 29) „mathematisch-physikalischen Seminars“ an der Ruperto Carola anregte (29.1). Die Fakultät erkannte sofort die Bedeutung einer solchen Institution (29.2).

„(...) sehen auch wir in der Errichtung eines mathematisch-physikalischen Seminars eine Bürgschaft mehr für die gedeihliche und erfolgreiche Entwicklung der mathematischen und physikalischen Studien unserer Universität, und empfehlen angelegentlichst in diesem Sinne für die Errichtung eines solchen Seminars sich aussprechen zu wollen.“ (29.3)
Die Statuten definierten zuerst den Zweck dieser neuen Institution:
„Das mathematisch-physikalische Seminar in Heidelberg hat den Zweck, die Studierenden der Mathematik und Physik
  1. zu selbstständigen und wissenschaftlichen Arbeiten anzuleiten und
  2. sie im Vortrage, sowie in der schulmäßigen Behandlung wissenschaftlicher Gegenstände aus den genannten Disciplinen zu üben.“ (29.4)

(Seite 30) Die Leitung oblag den beiden Ordinarien für Physik und Mathematik, als „ordentliche Mitglieder“ galten nur die Studenten, „welche sich vorzugsweise der Mathematik und Physik“ widmeten (30.1). Die Aufnahme erfolgte mit Beginn, der Austritt mit Ende des Semesters, wobei dann ein Seminarzeugnis erteilt wurde (30.2).

„Alle Mitglieder haben die Verpflichtung an den sämtlichen Uebungen ihrer Abtheilung regelmäßig und selbstthätig sich zu betheiligen“ (30.3).
Die mathematische Abteilung zerfiel wiederum in ein Unter- und ein Oberseminar; dabei zählten alle „ordentlichen Mitglieder“ zum Unterseminar, der Eintritt in das Oberseminar konnte nur nach erfolgreich bestandenem Kolloquium genehmigt werden (30.4). Die Übungen waren 14-tägig angesetzt, die Teilnehmer hatten schriftliche Arbeiten abzugeben, wovon die besten mit einer Prämie honoriert werden sollten (30.5).

Weniger die Differenzen innerhalb der Professorenschaft (30.6) als vielmehr die Haltung des Ministeriums, das keine Anstalten machte, ihn in Heidelberg zu halten, waren nach Königsbergers Angaben (Seite 31) der Grund, daß er 1875 einem Ruf nach Dresden folgte (31.1). Die Fakultät sah einen Weggang Königsbergers als „schweren Verlust“ und sandte deshalb ihren Dekan, Hofrath Ribbeck, und Kirchhoff nach Karlsruhe, um sich für einen Verbleib Königsbergers in Heidelberg einzusetzen (31.2). Dennoch bewilligte das Ministerium Königsbergers Entlassung zu Ostern 1875 (31.3). Die Philosophische Fakultät äußerte ihr Bedauern darüber, übernahm jedoch die von Königsberger und Kirchhoff gemachten Vorschläge für die Nachfolge. Diese nannten zuerst den Professor an der Gewerbeakademie in Berlin Siegfried Heinrich Aronhold, an zweiter Stelle den ordentlichen Professor an der Universität Göttingen Lazarus Fuchs und zuletzt den außerordentlichen Professor in Erlangen Paul Albert Gordan (31.4). Mit Schreiben vom 11. Januar 1875 teilte das Ministerium der Philosophischen Fakultät mit, daß Professor Fuchs als ordentlicher Professor der Mathematik und Mitdirektor des mathematisch-physikalischen Seminars nach Heidelberg berufen worden sei, wobei ihm ein Gehalt von 7500 Mark, der Wohnungsgeldzuschuß, die Umzugskosten in Höhe von 2000 Mark sowie der Ersatz des Einkaufsgeldes in die „Staatsdienerwitwenkasse“ zugesichert wurden (31.5). So folgte Fuchs zum zweitenmal Königsberger im Ordinariat, nachdem er schon 1869 den mathematischen Lehrstuhl in Greifswald übernommen hatte, als Königsberger nach Heidelberg gegangen war.

(Seite 32)

II.2.3     Das Ordinariat Immanuel Lazarus Fuchs (1875 - 1884)

Am 5. Mai 1833 in Moschin, Provinz Posen, geboren, studierte Fuchs in Berlin, wo er nicht nur bei E. E. Kummer Schüler war, sondern insbesondere — wie Königsberger — durch Forschung und Lehre von Karl Weierstraß beeinflußt war. 1858 wurde Fuchs promoviert und hielt von 1867 bis 1869 Vorlesungen an der Berliner Artillerie- und Ingenieurschule. Zuvor hatte er sich 1865 noch mit einer „aufsehenerregenden Arbeit über die linearen Differentialgleichungen mit veränderlichen Koeffizienten“ habilitiert, auf Grund derer er ein Jahr darauf auch zum außerordentlichen Professor an der Berliner Universität ernannt wurde (32.1). 1869 erhielt Fuchs schließlich einen Ruf als ordentlicher Professor an die Universität Greifswald, und gelangte über Göttingen — 1874 — nach Heidelberg, wo von der großen Anzahl an Lehrern der Mathematik unter Königsberger noch Cantor, Friedrich Eisenlohr, Rummer und der soeben habilitierte Martin Krause mathematische Vorlesungen hielten.

In seiner Vorlesungstätigkeit scheint Fuchs doch einen großen Wert auf anspruchsvollere Themen aus der höheren Mathematik gelegt zu haben. Neben der häufig wiederkehrenden Vorlesung „Differential- und Integralrechnung“ und den geometrischen Vorlesungen — „analytische Geometrie“, „synthetische Geometrie“ — bildeten besonders funktionentheoretische Vorlesungen und Kollegien über elliptische Funktionen Schwerpunkte seiner Lehrtätigkeit (32.2). Die Vorlesungen über die „Integration der Differentialgleichungen“ (Seite 33) oder über „Fouriersche Reihen und Integrale“ hingen eng mit dem Forschungsgebiet von Fuchs zusammen, dem er sich im Jahr 1865 zugewandt hatte: die „Theorie der linearen Differentialgleichungen n-ter Ordnung im Komplexen“ (33.1). Auch hier war Fuchs besonders von Weierstraß beeinflußt, der neben Riemann und Cauchy einer der Begründer der Funktionentheorie — der Analysis im Komplexen — gewesen ist. Fuchs stieß bei seinen Forschungen auf eine spezielle Klasse linearer Differentialgleichungen, die heute seinen Namen trägt, die „Fuchssche Klasse“; sie prägt noch in unserer Zeit die Theorie der Differentialgleichungen im Komplexen und bereitete „den Weg für die Bildung von automorphen Funktionen durch Poincaré“ (33.2).

Zwar konnte Fuchs keine so berühmten Schüler wie Königsberger zu seinen Hörern zählen, doch sollten sich Hermann Schapira und vor allem Karl Köhler, die von Fuchs promoviert wurden und sich unter dessen Ordinariat auch habilitierten, für die Ruperto Carola noch als besonders wertvoll erweisen. Auch wenn der Name Fuchs eine Reihe von Studenten der Mathematik nach Heidelberg zog, so dürften seine Leistungen doch bei weitem mehr in seinen Forschungsergebnissen liegen.

„Mit aufrichtigstem Bedauern“ vernahm die Philosophische Fakultät am 20. Februar 1884 die Kunde von dem „unabwendbaren Verluste“, den sie durch den Weggang von Fuchs erfahren sollte (33.3). Eine Kommission — diese setzte sich aus Bunsen, Kopp, Fuchs, Quincke und dem Dekan Rosenbusch zusammen — wurde beauftragt, hierauf Vorschläge für die Nachfolge von Fuchs auszuarbeiten (33.4). Den einzigen Namen, den die Kommission nannte — Leo Königsberger in Wien —, übernahm die philosophische Fakultät in voller Ubereinstimmung über dessen „hervorragende wissenschaftliche Bedeutung und die eminente Lehrbegabung“, und sie blieb auch bei diesem Beschluß trotz der Erinnerung an die Gründe für sein früheres Ausscheiden aus der Fakultät und an das damalige gespannte (Seite 34) kollegiale Verhältnis (34.1). Unter Verleihung des Charakters eines „Geheimen Hofraths“ wurde dem „österreichischen Hofrath Professor Dr. Leo Königsberger in Wien“ die ordentliche Professur für Mathematik und die Mitdirektion des mathematisch-physikalischen Seminars übertragen; seine Besoldung belief sich auf 8000 Mark jährlich, zuzüglich des Wohnungsgeldzuschusses, des Ersatzes der Umzugskosten in Höhe von 2500 Mark, der Übernahme des Einkaufgeldes in die Witwenkasse durch die Universitätskasse und der Anrechnung der im — nichtbadischen — Ausland absolvierten Dienstzeit (34.2).

Auch der Weggang von Fuchs an die Universität in Berlin — Helmholtz und Kirchhoff waren ihm ja schon vorausgegangen — war ein Hinweis auf die Verlagerung des wissenschaftlichen Zentrums deutscher Universitäten von Heidelberg nach Berlin. Dies zeigt sich auch in seinem Dankschreiben an den Dekan der Philosophischen Fakultät Rosenbusch, worin Fuchs die wissenschaftliche Bedeutung Berlins andeutet:

„Mein Entschluß dem Rufe an die Berliner Universität Folge zu leisten, ist mir lediglich durch das Gebot meiner Pflichten gegen meine Wissenschaft und gegen meinen Beruf eingegeben worden.“ (34.3)
Wie Königsberger berichtet, hatte ihm gegenüber Fuchs mehrmals geäußert, daß er in Heidelberg „die glücklichsten Jahre seines Lebens verbracht“ habe (34.4), und Lazarus Fuchs selbst beschrieb die Arbeitsbedingungen in Heidelberg.
„Wo ist die schöne Zeit hin, wo ich noch in der Lage war, ruhig zu arbeiten, ruhig einen Gedankenfaden für längere Zeit abzuspinnen!“ (34.5)

(Seite 35)

II.3     Die Phase der Konsolidierung und der institutionellen Verankerung — Das zweite Ordinariat Leo Königsberger (1884 - 1914)

II.3.1     Die Zeit des Übergangs (1884 - 1890)

Das zweite Ordinariat Königsberger war vor allem durch das aktive Hinarbeiten auf die Abtrennung der naturwissenschaftlichen Fächer und der Mathematik von der Philosophischen Fakultät und damit der Bildung einer eigenständigen naturwissenschaftlich-mathematischen Fakultät sowie die Errichtung eines zweiten Ordinariates für Mathematik geprägt.

Die Philosophische Fakultät zählte am Ende der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts ungefähr doppelt so viele Ordinarien wie die übrigen Fakultäten und fühlte sich schon daher im Engeren Senat unterrepräsentiert (35.1). Die zunehmende Spezialisierung in den einzelnen Fächerbereichen der Philosophischen Fakultät, insbesondere in den Naturwissenschaften, förderten Probleme innerhalb der Fakultät zutage (35.2). Neben Königsberger beantragten noch der Professor für Zoologie und Paläontologie Otto Bütschli, der Chemiker Viktor Meyer, der Botaniker Ernst Pfitzer, der Physiker Georg Quincke, der Professor für Mineralogie und Geologie Harri Rosenbusch, der Ordinarius für die Landwirtschaftslehre Adolf Stengel sowie der Chemiker Hermann Kopp am 4. März 1890 die Einsetzung einer Kommission, die

„mit den Vorbereitungen zur Abtrennung der naturhistorischen und mathematischen Fächer und deren Zusammenfassung zu einer selbständigen Facultät zu beauftragen wäre.“ (35.3)
Da auch die Vertreter der „philologischen Abteilung“ für eine Trennung waren, wurden neben Pfitzer und Rosenbusch der (Seite 36) Professor für Klassische Philologie Fritz Schöll, der Historiker Bernhard Erdmannsdörffer und der damalige Dekan, Königsberger, in diese Kommission berufen, die sich mit der Frage auseinandersetzen sollte, ob eine vollständige Trennung in zwei Fakultäten oder nur eine Aufteilung in zwei Sektionen durchzuführen sei (36.1) Die Beschlüsse der Kommission wurden von der Fakultät angenommen und am 10. Mai 1890 dem Engeren Senat übermittelt (36.2). Demnach sollten die Fächer Physik, Chemie, Botanik, Zoologie, Mineralogie, Mathematik und Landwirtschaftslehre von der bisherigen Philosophischen Fakultät abgetrennt „und zu einer neuen — naturwissenschaftlich-mathematischen — Facultät vereinigt werden“, „jede unter einem selbständigen Decan mit allen Rechten und Pflichten des bisherigen Decan“ (36.3). Während das Inventar, Siegel und Mappen bei der alten Philosophischen Fakultät verbleiben sollten, wollte man die Fakultätskasse zur Hälfte aufteilen. Weiterhin wurden die Tagungsräumlichkeiten und die Promotionsangelegenheiten geregelt (36.4). Die bestehenden Fakultätsakten sollten „zur gemeinsamen Benutzung verbleiben“, die früheren Generalakten würden „ihrem (Seite 37) Inhalte entsprechend“ je einer der Fakultäten zugewiesen.
„Die Facultät erlaubt sich, es dem hohen Ministerium als aeusserst wünschenswerth zu bezeichnen, daß die beantragte Trennung der Facultät mit dem Beginn des nächsten Decanatsjahres (October 1890) vollzogen werde.“ (37.1)
Die Gründe, die die Fakultät für diesen Antrag beifügte, waren in ihren Augen nicht mit der Aufgabe der Fakultät vereinbar.
„Die Thätigkeit der philosophischen Facultät, als einer selbständigen Körperschaft besteht im Wesentlichen darin, einerseits der Universität neue Lehrkräfte, als Privatdocenten, Extraordinarien und Ordinarien zuzuführen, andererseits nach Maßgabe der Promotionsordnung die Doctorprüfungen abzunehmen; (...).“ (37.2)
Dagegen vollzog sich noch vor der eigentlichen Trennung bei Berufungsverhandlungen für neue Professoren schon eine Teilung der Fakultät, da in eine zu diesem Zweck gebildete Kommission „mit Ausnahme des Decans nur Sachverständige oder wenigstens solche Facultätsmitglieder, deren Fächer in irgend einem Zusammenhange mit dem Fache des neu zu berufenden stehen“, gewählt wurden. Dabei würde sowohl in dieser Kommission als auch in der Gesamtfakultät der Meinung der Sachverständigen Folge geleistet werden (37.3), obwohl die eine Seite eine Sache vertreten müßte, „deren Motivierung sich ihrer Beurtheilung entzieht“ (37.4).
„In Hinsicht auf die beiden wesentlichsten Geschäfte der Facultät [Promotionen und Habilitationen] würde also durch eine Theilung derselben in zwei selbständige Facultäten eine bedeutende Vereinfachung der Geschäfte erzielt und (Seite 38) ein häufig durch die Verhältnisse gebotenes, aber stets bedenkliches Hinübergreifen in die Wirkungssphäre der Vertreter fremder Fächer gänzlich vermieden werden.“ (38.1)
Neben diesen aus den „Verhältnissen unserer Hochschule hergenommenen Gründe“ sprachen auch „Gründe, die der stetig wachsenden Ausdehnung und Specialisierung der einzelnen Wissenschaftszweige entspringen und für alle Universitäten in gleicher Weise bestehen“, für die beantragte Trennung. Es sei daher eine Notwendigkeit,
„die Vertreter nur derjenigen Wissenschaften zu einer Facultät zu vereinigen, welche sich wenigstens im Allgemeinen ein gegenseitiges Verständnis für die Gegenstände ihrer Forschungen entgegenbringen und somit auch ein Verständnis dafür, welche Universitätseinrichtungen für die Erreichung der von ihnen erstrebten Ziele am förderlichsten sein werden; (...). (38.2)
Nachdem das Ministerium am 22. Juli 1890 die Trennung „in der vorgeschlagenen Form“ genehmigt hatte, wurden Winkelmann und Knies für das Dekanat bzw. Prodekanat der Philosophischen Fakultät für das Jahr 1890/91 gewählt, Quincke übernahm das Dekanat der naturwissenschaftlich-mathematischen Fakultät, und Königsberger wurde sein Stellvertreter (38.3). In der letzten Sitzung der Gesamtfakultät hegte Königsberger die Hoffnung, daß die Trennung im Interesse der beiden gesonderten Fakultäten sei und sie dem Ansehen der gesamten Hochschule zugute kommen würde. Winkelmann hob die Bedeutung der Trennung für die Ruperto Carola hervor (38.4).

(Seite 39) Zwei Aspekte verdeutlichen noch das Bild von Königsberger, zum Teil auch von der Stellung der Mathematik an der Universität gegenüber den Gymnasien und den Technischen Hochschulen. So setzte sich Königsberger sehr für eine Beförderung seiner Mitarbeiter Karl Köhler und Hermann Schapira zu außerordentlichen Professoren ein (39.1), war aber entschieden gegen die Anstellung eines Professors des Polytechnikums in Karlsruhe, der in Heidelberg mathematische Vorlesungen hätte halten sollen. Am 31. Dezember 1886 war das Ministerium an die Philosophische Fakultät herangetreten, es sei wünschenswert, „Darstellende Geometrie“ in einem dreistündigen Kolleg pro Semester zu lesen, was nach einem Bericht des „oberschulräthlichen Kommissärs“ für die Kandidaten des höheren Lehramtes von Wichtigkeit wäre; dabei wurde ebenfalls die Bedeutung der „Synthetischen Geometrie“ hervorgehoben, und das Ministerium bat den Engeren Senat und die Philosophische Fakultät, sich über eine Anstellung des Professors Schell vom Polytechnikum Karlsruhe zu äußern (39.2). Bezugnehmend auf die früheren Berichte zu diesem Problem (39.3) übernahm die Fakultät in ihrem Antwortschreiben die Argumentation ihres Fachmannes Königsberger. Dieser verwies auf die Vorlesungen über „Synthetische Geometrie“, die sowohl sein Vorgänger Fuchs als auch er selbst und (Seite 40) Dr. Köhler regelmäßig gehalten hätten (40.1) und wehrte sich in Bezug auf die darstellende Geometrie vehement dagegen, „daß etwa hier eine solche Vorlesung von einem ausserhalb der Universität stehenden Gelehrten gehalten werden soll“ (40.2). Die Beschäftigung mit mathematischen Physik gäbe „hinreichende Gelegenheit“, sich den Anwendungen der Mathematik vertraut zu machen (40.3)

„(...) — wer das gewaltige Gehiet der Mathematik auch nur annähernd zu überschauen im Stande ist, wird gewiß erkennen, daß der Studirende in den 6-8 Semestern, in denen er sich auch noch in dem mathematischen Seminar in wissenschaftlicher und pädagogischer Beziehung ausbilden soll, vollauf zu thun hat, um sich auch nur mit den Elementen der wichtigsten Disciplinen bekannt zu machen.“ (40.4)

(Seite 41)

II.3.2     Die Mathematik innerhalb der naturwissenschaftlich-mathematischen Fakultät — Das Streben nach dem zweiten Ordinariat (1890 - 1914)

Die ersten zwei Jahrzehnte nach der Loslösung von der Philosophischen Fakultät waren für die Mathematik gekennzeichnet durch das Streben Königsbergers, ein zweites Ordinariat für die Mathematik errichten zu können. Es zeigte sich dabei auch, wie sehr er sich für seine Mitarbeiter und für die Mathematik selbst einsetzte. In diesen Jahren reihten sich durch ihre Habilitation Georg Landsberg, Karl Böhm, Karl Bopp und Paul Hertz in den mathematischen Lehrkörper ein, dem zu dieser Zeit neben Königsberger noch Cantor, Eisenlohr, Schapira und Köhler angehörten (41.1).

Führend in Heidelberg war die Chemie, die gerade unter den Nachfolgern Bunsens — Viktor Meyer und Theodor Curtius (41.2) — eine personelle Ausweitung erfuhr: Paul Jannasch hatte seit 1892 ein planmäßiges Extraordinariat inne, 1898 wurde Ludwig Gattermann, 1901 Georg Bredig jeweils ein neugeschaffenes planmäßiges Extraordinariat der Chemie übertragen (41.3). Dazu erhielt die Paläontologie nach Abspaltung von der Mineralogie einen eigenen Lehrstuhl, ebenso wurde der Astronom Max Wolf 1902 zum ordentlichen Professor ernannt (41.4). Um schließlich Philipp Lenard in Heidelberg zu halten, wollte die naturwissenschaftlich- mathematische Fakultät ein zusätzliches Ordinariat für Physik schaffen (41.5). Dagegen blieb die Mathematik weit zurück und verfügte bis 1913 (Seite 42) als vermutlich einzige an deutschen Universitäten über nur ein Ordinariat (42.1).

Dennoch arbeitete Königsberger permanent auf sein Ziel hin: Zunächst löste sich die Mathematik endgültig auch von der Physik; in der Fakultätssitzung am 23. Januar 1900 stellte der Vertreter der Mathematik den an das Ministerium gerichteten Antrag

„dasselhe wolle mit Rücksicht auf die bevorstehende Berufung eines Professors der mathematischen Physik seine Zustimmung dazu geben, daß, so wie es an allen übrigen Universitäten der Fall sei, das mathematische und das physikalische Seminar völlig getrennt werden.“ (42.2)
Zum Sommersemester 1900 erhielt dann Georg Landsberg einen Lehrauftrag über „Darstellende Geometrie“ (42.3), und schon im Jahr darauf stellte Königsberger den Antrag, daß ein etatmäßiges Extraordinariat „speciell für das Fach der projectivischen und analytischen Geometrie“ geschaffen werde (42.4). Da er als Ordinarius die einzige etatmäßig besoldete Stelle in der Mathematik einnehme und die zehn Vorlesungsstunden wöchentlich seine Arbeitskraft (Seite 43) „vollauf in Anspruch“ nehmen wurden, sein Antrag wohlbegründet (43.1). Obwohl die Fakultät diesen Antrag einstimmig annahm, lehnte ihn das Ministerium am 1. April 1902 ab mit der Begründung, wegen der Finanzlage sei ein etatmäßiges Extraordinariat im Budget nicht zu berücksichtigen (43.2). Dafür wurde auf einen weiteren Antrag Königsbergers ab dem Wintersemester 1902/03 ein zweiter Lehrauftrag für Landsberg über höhere Mathematik gewährt (43.3). Erst im Sommer 1905 hatten die Bemühungen Königsbergers Erfolg: am 18. Mai 1905 teilte das Ministerium der naturwissenschaftlich-mathematischen Fakultät mit, daß nun eine Stelle für ein planmäßiges Extraordinariat frei sei, worauf die Fakultät auf Antrag Königsbergers beschloß, den außerordentlichen Professor Koehler für diese planmäßig besoldete Stelle für analytische und synthetische Geometrie in Vorschlag zu bringen (43.4). Mit Wirkung vom 1. Oktober 1905 wurde Koehler die zweite planmäßige Stelle der Mathematik in Heidelberg übertragen (43.5), womit Koehler hauptsächlich verpflichtet wurde, Vorlesungen über analytische, synthetische oder darstellende Geometrie zu halten. Um nun auch regelmäßige Vorlesungen über Elementarmathematik zu gewährleisten, erhielt (Seite 44) der a.o. Prof. Karl Boehm ab dem Wintersemester 1906/07 hierfür einen Lehrauftrag (44.1). Doch das Ziel, ein zweites Ordinariat einrichten zu können, erreichte Königsberger erst im Sommer 1912 (44.2). Die Fakultät erhielt am 15. Juli 1912 vom Ministerium die Zusicherung, daß im Budget dem Antrag gemäß eine zweite ordentliche Professur für Mathematik berücksichtigt sei und daß die Fakultät Vorschläge für deren Besetzung machen solle (44.3). Hinsichtlich dieser Vorschläge standen sich die Meinungen Königsbergers und des Physikers Lenard gegenüber. Der Mathematiker nannte „primo loco“ den Professor Edmund Landau in Göttingen, danach „secundo et aequo loco“ Kurt Hensel, Professor in Marburg, Ludwig Schlesinger, Professor in Gießen sowie Paul Stäckel, Professor an der Technischen Hochschule in Karlsruhe (44.4). Schlesinger wurde aus der Vorschlagsliste gestrichen und dann dem Ministerium berichtet.

(Seite 45) An erster Stelle nannte die Fakultät Landau und bat die vorgesetzte Behörde,

„wenn es irgend möglich ist, vor allem diesen hervorragenden Mann für unsere Universität zu gewinnen. “ (45.1)
An zweiter Stelle und „aequo loco“ wurden Hensel und Stäckel vorgeschlagen (45.2), von denen schließlich Paul Stäckel mit Wirkung vom 1. April 1913 als ordentlicher Professor für die Mathematik an die Universität Heidelberg berufen wurde (45.3).

Während dieser Verhandlungen hatte Königsberger auch Briefkontakt mit Hilbert gehalten, dem er bereits am 22. September 1912 seinen bevorstehenden Rücktritt für Ostern 1914 ankündigt hatte (45.4). Nachdem schon im Sommer 1913 der Lehrauftrag für politische Arithmetik von Cantor an Karl Bopp übertragen worden war, bat nun auch Karl Köhler um Entlassung aus dem badischen (Seite 46) Staatsdienst (46.1). Zu gleicher Zeit nun gab auch Königsberger sein Amt in der Fakultät auf (46.2), die ihm ihren Dank ausdrückte,

„nachdem er so lange Jahre mit unermüdlicher Thatkraft und bewundernswerther Frische als Forscher, Lehrer und Persönlichkeit zum Ruhm unserer Facultät gewirkt hat. (...) Mit dem Gefühl der Wehmut mischt sich das Gefühl des allerwärmsten Dankes für alles das, was Herr Kollege Koenigsberger für unsere Facultät geleistet hat. Er kann ueberzeugt sein, daß sein Wirken in den Annalen unserer Facultät unvergeßlich eingeschrieben ist.“ (46.3)
In seinem Schreiben an den Dekan Klebs bedauerte Königsberger sein Ausscheiden, doch habe er die höchste Blüte der Fakultät in den Naturwissenschaften erlebt und er freue sich,
„daß von Neuem eine Epoche der Blüthe auf den verschiedensten Gebieten der Mathematik und Naturwissenschaften an unserer Universität begonnen hat.“ (46.4)
Am 1. April 1914 begann eine neue Epoche der Mathematik an der Ruperto Carola.


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