Jakob Christmann

S. 79-85 aus:
Christmann, Erwin: Studien zur Geschichte der Mathematik und des mathematischen Unterrichts in Heidelberg : von der Gründung der Universität bis zur combinatorischen Schule. - 1924. - 164 S.
Univ. Heidelberg, Diss., 1924
UB-Signatur: W 3461

Jakob Christmann (149), geb. 1554 zu Johannisberg im Rheingau (Erzstift Mainz) liess sich unter dem Rektorat des Thomas Erast (1. Nov. 1873) immatrikulieren. Der Zögling des Dionysianums wurde 1575 Baccalaureus und erhielt unter dem Dekanat des Timoth. Mader durch den Huldreich Faber die Magisterwürde im Jahr 1578 (150). Bald zum Professoren ernannt zwang ihn der Widerstand gegen die Konkordienformel, die Schule Joh. Casimirs in Neustadt zu beziehen. Nach seiner Rückkehr war er dritter Lehrer im Sapienzkollegium, mehrmals Dekan der philosophischen Fakultät und bekleidete 1602 das Rektorat. Nicht unbedeutender als seine Stellung im Heidelberger Hochschulleben ist seine geistige Regsamkeit und sein gelehrtes Schaffen. Auf der einen Seite erfüllte ihn das philosophische Studium und das humanistischer orientalischer Sprachen, er versah den Lehrstuhl der hebräischen Sprache, seit 1590 den der aristotelischen Logik und erreichte durch den eifrigen Hinweis auf den Nutzen der arabischen Sprache für die Philosophen und auch für andere Wissenschaften beim Kurfürsten Friedrich IV. (1592-1610) die Gründung des ersten arabischen Lehrstuhles in Europa, den er als ausserordentlicher Professor seit 1609 (6. Juni) bis zu seinem im Jahr 1613 erfolgten Tode selbst bekleidete (151). Andererseits haben seine Persönlichkeit, seine Studien und Schriften durch ihre Verwandtschaft mit Koppernikus, Jos. Scaliger, Joh. Werner, Rheticus, Otho und Barthol. Petiscus, d.h. durch ihre Beziehungen zur Mathematik im allgemeinen und zur Astronomie und Cyklometrie, Trigonometrie im spezielleren, wesentliches Interesse gewonnen.

In seinen wissenschaftlichen Arbeiten hat Jakob Christmann manche Züge mit Xylander gemein. Neben dem Philologen sehen wir in ihm den Mathematiker und Astronomen, dem keine Gelegenheit sich bot, seine Kenntnisse auf dem Lehrstuhle zu verwerten. Für die Form und den Inhalt alter Literaturdenkmäler und der antiken, sowie nachantiken Geisteswelt ist er gleichmäßig begeistert. So ist zu nennen von den arabischen Werken, die er herausgab "Muhamedis Alfragani Arabis chronologica et astronomia elementa Frankfurt 1590" (152), eine Uebersetzung aus dem hebräischen, in das Lateinische. Daneben spürt man bei ihm auch einen merklichen Unterschied in den Auffassungen von den Aufgaben und der Richtung wissenschaftlicher Betätigung. Xylander, durch das Studium der klassischen Sprachen, vor allem des Griechischen, von ihrer Schönheit ergriffen, lauschte inbrünstig den Lehren der Alten, aus der Liebe zur Sprachwissenschaft war ihm die Sehnsucht und das Verlangen in ihr Wissen einzudringen gewachsen. Aber es ist eine Beschränkung gelehrten Schaffens, wenn Xylander und die humanistische Welt des 16. Jahrhunderts zu ihrem grössten Teile von einer abgeschlossenen und vollendeten Gelehrsamkeit der Alten überzeugt waren, und wenn sie allein die Notwendigkeit des Erfassens, der möglichst vollendeten Reproduktion und - nicht zu vergessen - der Lehre sahen, die bei den Humanisten als die höchste Pflicht des geistig hochstehenden Menschen gegenüber der Gemeinschaft galt. Ein anderes Zeitalter war allmählich heraufgezogen, eine Zeit, die anfangs stark negiert wurde und schwer um ihre Entwicklung ringen musste, jetzt aber sich schon so sehr durchgesetzt hatte, dass immer mehr die althergebrachten Bahnen, in denen sich die Wissenschaften bewegten, verlassen wurden, dass eigenes Forschen immer mehr versucht, die Fesseln der Antike zu sprengen, und die mittelalterlichen und humanistischen Begriffe von den Wissenschaften schwer ins Wanken geraten. Bei dem forschen Aufgreifens mathematischer und naturwissenschaftlicher Probleme zeigten sich die ersten Regungen einer modernen Wissenschaft.

Mitten in dieser Bewegung standen Christmann, Otho, B. Petiscus und sie bekannten sich durch ihr Schaffen zu ihr. Im Jahre 1603 hielt Christmann des Nik. Koppernikus gewaltiges Werk "de revolutionibus orbium coelestium" in seinen Händen (153). Koppernikus hatte zwar schon 1506 mit der Aufzeichnung seiner Lehre begonnen, in seinem Todesjahre 1543 war sie zum ersten Male gedruckt erschienen, aber von einer allgemeinen Verbreitung konnte man noch nicht sprechen. Man übersah sie, verspottete sie und versuchte sie mit Gewalt zu unterdrücken. Ihre bekanntesten Verfechter Maestlin, Galilei und Kepler standen noch ziemlich allein auf weiter Flur. Christmann beschäftigte sich eingehend mit dem Werke und empfang aus ihm mache wertvolle Anregung. Ein rein äusseres Kennzeichen ist seine unten näher zu besprechende "theoria lunae ex novis hypothesibus et observationibus Heidelberg 1611". Die Ausgabe, deren sich Christmann bediente, war keine gewöhnliche, es war die Originalhandschrift, die letzte Reinschrift, die gleichmässig in Schrift und mit sorgfältigen, ausgearbeiteten Figuren von Koppernikus selbst zu Papier gebracht worden war. Dieses Manuskript erlangte später für die Herstellung eines kritisch gereinigten Textes (154) die grösste Bedeutung, zumal da es der editio princeps nicht zu Grunde lag, sondern diese nach einer nicht wenig vom Urtexte abweichenden Copie hergestellt wurde. Das Schicksal der Originalhandschrift ist sehr verwickelt gewesen und heute noch nicht vollkommen geklärt. Als teure Reliquie seines hochverehrten Lehrers (Koppern.) hatte sie Rheticus sorgfältig aufbewahrt, von ihm bekam sie sein Schüler Val. Otho, der mit seinen trigonometrischen Arbeiten sich vertraut gemacht hatte, und brachte sie nach Heidelberg, wo sie nach seinem Tode (1603) mit den gesamten Nachlass des Rheticus und des Otho an Christmann überging (155). Von ihm rührte die Aufschrift auf dem Rücken des Pergamentbandes "Nicolai Copernick opus de revolutionibus". Sonst wissen wir nur noch, dass Christmanns Witwe die Handschrift im Jahre 1614 an Joh. Amos Comenus veräusserte, dem sie nach der Schlacht am weissen Berge (1620) mit seiner ganzen Bibliothek geraubt wurde, und dass sie erst nach zwei Jahrhunderten in der Majoratsbibliothek des Grafen Hostitz wiederauftauchte.

Die "theoria lunae" spielt insofern in der Geschichte der Trigonometrie eine bemerkenswerte Rolle, als sie in einem Anhange Angaben über den Erfinder der prosthaphaeretischen Methode machte. Bis zur Auffindung der beiden Werner'schen Schriften, "de triangulis sphaericis" und "de meteoroscopiis" durch A. Björnbo in der vatikanischen Bibliothek (1902) zu Rom (156), war die "theoria lunae" eine der wenigen Quellen, um in dieser lange Zeit umstrittenen Frage Klarheit zu schaffen und für von Braunmühl ist noch 1899 in seinen "Vorlesungen zur Geschichte der Trigonometrie" die Christmann'sche Schrift die hervorragendste Stütze für seine Beweisführung von der Erfindung der prosthaphaeretischen Methode durch Joh. Werner. Christmann teilte hier mit, das Manuskript jenes Werkes sei ihm bekannt (157), - ohne dass in Erfahrung zu bringen ist, ob ihm das später verlorene Originalmanuskript oder das Druckmanuskript aus der vatikanischen Bibliothek zur Verfügung stand -. Werner habe darin die Prosthaphaeresis entwickelt und an Figuren erläutert (157). Er verteidigte diesen gegen Tycho Brahe, der mit seinem Schüler Wittich allgemein für die Erfinder gehalten wurden. Christmann spricht wohl von Transcriptoren, bleibt aber sonst auf dem Boden rein sachlicher Ausführung. Eine bewusste Irreführung stellt er nicht fest. Auch heute sind ja diese Zusammenhänge durchaus nicht so geklärt, wie es wünschenswert wäre. Man erkennt zwar Werner die Erfindung der Methode zu, d.h. eigentlich mehr die Wiederentdeckung der prosthaphaeretischen Formeln, denn sie waren ja schon den Arabern bekannt, und die Möglichkeit ihrer praktischen Verwendung, andererseits muss man aber so objektiv sein und dem verdienstvollen Mathematiker und Astronomen Kreis um den Landgrafen Wilhelm von Hessen, also vor allem Wittich und Tycho Brahe das ausschliessliche Verdienst der allgemeinen Einführung in die Rechnung zusprechen. Die Bedeutung ihrer Tätigkeit muss um so mehr anerkannt werden, als diesem schaffensfreudigen Saeculum die Erfinder der Logarithmen und ihrer Verwendung für die Praxis noch nicht zu gute kam. Ferner konnte nicht einmal eine Entnahme der Formeln durch Wittich und Tycho Brahe durch vergleichende Forschung nachgewiesen werden (159). Neben den genannten Angaben in der "theoria lunae" bringt Christmann eine volle Entwicklung der Methode und die wichtigsten Sätze aus der Dreieckslehre, soweit er sie benötigt. Diese hatte er schon vorher in seinem Werke "observationum solarium libri tres, in quibus explicatur versus motus Solis in sodiaca et universa doctrina triangulorum ad rationes apparentius coelestium accomodatur Basel 1601" zusammenfassen lassen. In einer anderen Arbeit betitelt "nodus Cordinis ex doctrina sinum explicatus 1612" lehrte er geomeetrische Aufgaben anstatt auf algebraische Weiese mit Hilfe der Sinusse lösen (160). Wenn auch heute durch die Wiederauffindung der trigonometrischen Arbeiten des Werner die "theoria lunae" mit ihren Angaben in den Hintergrund getreten ist, so ist ihre Existens historisch bemerkenswert, besonders da ihre Behauptungen duch die neueren Untersuchungen als richtig anerkannt wurden und da sie zusammen mit den beiden Schriften aus den Jahren 1601 und 1612 von den trigonometrischen Interesse des heidelberger Professoren ein beredtes Zeugnis ablegt.

Die regste Anteilnahme seiner Person erweckte aber auch die Cyklometrie des Kreises. Allgemeines Aufsehen und einen alten Streit hatte im Jahre 1609 das Erscheinen der "cyclometria elementa" des Joseph Scaliger (1540-1609) verursacht (161). In einer glänzend ausgestatteten Leidener Ausgabe stellte der durch sein bahnbrechendes Werk "opus de emendatione temporis" mit recht Vater der Chronologie genannte Gelehrte von neuem den Satz von der Möglichkeit der Kreisquadratur auf. Bedeutende Mathematiker widerlegten durch ihre Tractate seine Theorie, ohne ihn zu belehren. In Jak. Christmann erstand Scaliger gleichfalls ein starker Gegner, in seiner "tractatio geometrica de quadratura circuli Frf. 1595" bekämpft er Scaligers Ausführungen und setzt seine eigene Ansichten auseinander (162). Historischen Betrachtungen in den ersten Kapiteln folgt die eigentliche Widerlegung der Scaligerschen These, das sechste Kapitel zeigt die Uebereinstimmung des Verfassers mit der Auffassung des Aristoteles von der Unmöglichkeit der Quadratur. Sodann spricht er von Irrationalverhältnissen der Hypothenuse gegenüber den Seiten, von der Nichtexistenz eines Verhältnisses der krummen Linien zur Gerade und seine Abhandlung klingt aus im Ergebnis, der Raum eines Kreises kann nicht einer gradlinigen Figus gleichgesetzt werden, während eine sehr grosse Annäherung jedoch erzielt werden kann. Durch seine Aktivität trug also auch ein Heidelberger Professor dazu bei, dass die Ueberzeugung von der Unmöglichkeit der Quadratur des Kreises immer grössere Verbreitung fand.


Fussnoten
  1. Allgemeine deutsche Biographie. Friedrich Hautz. Geschichte der Universität. Töpke. Die Matrikel der Universität Heidelberg. Poggendorf. Biographisch-literarisches Handwörterbuch
  2. Joh. Friedrich Mädler. Geschichte der Himmelskunde. I. S. 184. berichtet, Christmann habe auch um 1577 einige Zeit als Gehilfe des Landgrafen Wilhelm von Hessen in Kassel bei seinen astronomischen Arbeiten unterstützt.
  3. Winkelmann. Urkundenbuch der Universität. II. S. 180. No. 1466. No. 1469
  4. Rudolf Wolf. Geschichte der Astronomie. S. 204. Vergleiche auch Houzean - Lancaster. Bibliographie générale de l'astronomie. S. 465. Christmann benutzte die hebräische Uebersetzung des Mohamed Alfraganus durch J. Antoli.
  5. Leopold Prowe. Nicolaus Coppernikus.
  6. Sein Herausgeber ist Maximilian Curtze, der auch einen genauen Vergleich der Ausgaben anstellte. Der Druck fand zu Thorn anlässlich des 400 jährigen Jubiläums der Geburt des Verfassers statt.
  7. Auch Moritz Cantor. Vorlesungen zur Geschichte der Mathematik. II. S. 603.
  8. A. A. Björnbo. Abhandlungen zur Geschichte der mathematischen Wissenschaften... Heft XXIV.
  9. Das Manuskript ist wohl über einen gewissen Hartmann aus Nürnberg, über Rheticus und Otho in seine Hände gelangt. A. A. Björnbo. Abhandlungen zur Geschichte der mathematischen Wissenschaften... Heft XXIV. I. S. 158. 165.
  10. Vergleiche auch A. von Braunmühl. Vorlesungen über Geschichte der Trigonometrie. I. S. 136.
  11. A. A. Björnbo. Abhandlungen zur Geschichte der mathematischen Wissenschaften... Heft XXIV. I. S. 169.
  12. A. von Braunmühl. Vorlesungen über Geschichte der Trigonometrie. I. S. 236. Houzean - Lancaster. Bibliographie générale de l'astronomie. I. S. 216.
  13. Moritz Cantor. Vorlesungen zur Geschichte der Mathematik. II. S. 296. A. von Braunmühl. Vorlesungen über Geschichte der Trigonometrie. I. S. 174. Abr. Gotthelf Käastner. Geschichte der Mathematik. I. S. 482. S. 487 u. folgende.
  14. Abr. Gotthelf Kästner. Geschichte der Mathematik. I. S. 463. S. 497. S. 498.

Literaturverzeichnis [Auswahl für diesen Abschnitt mit Bestandsnachweis]


Informationen zu Personen und Problemen aus dem Internet

Tycho Brahe
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Johann Amos Comenius
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Nicolaus Copernicus
St. Andrews, Scotland
Friedrich IV.
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Galileo Galilei
St. Andrews, Scotland
Johannes Kepler
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Michael Maestlin
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Valentin Otho
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Bartholomäus Pitiscus
Homo Heidelbergensis mathematicus
St. Andrews, Scotland
Prosthaphaereische Formeln
mathworld.wolfram.com.
Quadratur des Kreises
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Regiomontanus
St. Andrews, Scotland
Rheticus
St. Andrews, Scotland
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Johannes Werner
Wikipedia.
Xylander
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Letzte Änderung: 11.12.2008   Gabriele Dörflinger Kontakt

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