Günter Kern:
Die Entwicklung des Faches Mathematik
an der Universität Heidelberg

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V.     DIE STELLUNG DER HEIDELBERGER MATHEMATIK IN DEUTSCHLAND — EIN VERGLEICH MIT DEN UNIVERSITÄTEN IN GIEßEN UND BERLIN

Es erscheint doch bemerkenswert, daß sich auch bezüglich der Universitäten Berlin und Gießen eine ähnliche Zeiteinteilung wie für die Heidelberger Hochschule im Fach Mathematik feststellen läßt. Auch hier ist es möglich, nach einem Drittel des 19. Jahrhunderts mit den Untersuchungen einzusetzen, ebenso lassen sich um die Mitte des vorigen Jahrhunderts entscheidende Einschnitte erkennen und nicht zuletzt bildet der Vorabend des Ersten Weltkrieges einen möglichen Endpunkt für eine Untersuchung (116.1). Letztendlich hielt aber auch auf diesen beiden Hochschulen wie in Heidelberg die Königsberger Schule Jacobis ihren Einzug.

V.1     Die Universität Gießen

V.1.1     Die Zeit von Hermann Umpfenbach (1824 - 1862)

Eher noch für die Gießener Hochschule denn für die deutsche Mathematik war Hermann Umpfenbach wichtig, der am 25. November 1825 das mathematische Ordinariat in Gießen erhielt (116.2). Umpfenbach betonte „vor allem den formalen Bildungswert der Mathematik, einer medicina mentis“ (116.3). Seine Lehrtätigkeit läßt sich Lorey zufolge in zwei Arten unterscheiden: eine vierstündige Vorlesung über reine Mathematik war für Studierende aller Fakultäten gedacht, dagegen kündigte Umpfenbach auch Vorlesungen über analytische Geometrie, Differential- und Integralrechnung, Mechanik, (Seite 117) Wahrscheinlichkeitsrechnung und über die „Lehre von den krummen Linien mit einfacher und doppelter Krümmung und von den krummen Flächen“ an, die in erster Linie für Mathematiker bestimmt waren. Bemerkenswert waren aber auch seine praktischen Übungen (117.1). Die Arbeiten, die Umpfenbach veröffentlichte, waren einerseits „für seine Zeit“ recht gute Bücher; andererseits blieben die im Crelleschen Journal in den vierziger Jahren erschienenen Abhandlungen nur „saubere Arbeiten ohne große Tragweite“ (117.2).

Die mathematische Abteilung der Gießener Hochschule dürfte sehr klein gewesen sein, zumal sich während Umpfenbachs Zeit nur zwei Privatdozenten habilitierten. Dies war zum einen Friedrich Zamminer, der sich 1842 die Venia legendi erwarb und zu dessen Vorlesungen Trigonometrie, analytische Geometrie, Differential- und Integralrechnung sowie politische Arithmetik zählten (117.3); der zweite war 1851 der in seiner Bedeutung höher einzustufende Christian Wiener, der aber schon ein Jahr nach seiner Habilitation nach Karlsruhe wechselte, wo ihm später die ordentliche Professur für darstellende Geometrie übertragen wurde (117.4).

Zwar sind die Anforderungen an der Gießener Universität zu dieser Zeit insgesamt niedriger einzuordnen als die an preußischen Hochschulen, doch strebte Umpfenbach nach Anpassung an das preußische Niveau und an den Fortschritt der Mathematik (117.5).

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V.1.2     Der Aufschwung an der Gießener Universität — Das Ordinariat Alfred Clebsch (1863 - 1868)

Der gebürtige Königsberger Alfred Clebsch war zwar kein direkter Schüler Jacobis mehr, doch hatte er durch Hesse, Franz Neumann und Richelot während seines Studiums in seiner Heimatstadt die Einwirkungen der dortigen Schule erfahren (118.1). Als er im Frühjahr 1863 Nachfolger von Umpfenbach auf dem Gießener Lehrstuhl für Mathematik wurde, fand er
„eine mathematisch verwahrloste Zuhöhrerschaft vor, die aus Studierenden der Architektur und der Ingenieur-Wissenschaften, Forstleuten, Kameralisten, zwei oder drei Lehramtskandidaten bestehend, sich in Scharen zu seiner Vorlesung über analytische Geometrie der Ebene drängten, die sie aber wegen mangelhafter Vorbildung nicht verstanden.“ (118.2)
Clebschs Vorlesungen brachten ein neues, gehobenes Niveau nach Gießen. Neben schon von Umpfenbach gehaltenen Kollegien wie „Differential- und Integralrechnung“, „Analytische Geometrie der Ebene“ und „Analytische Geometrie des Raumes“ las Clebsch auch über „Elliptische Funktionen“, „Abelsche Funktionen“, „Differentialgleichungen“ und über „Theorie der nicht linearen partiellen Differentialgleichungen“. Übungen zu Clebschs grundlegenden Vorlesungen oblagen Paul Gordan, der sich schon im September 1863 in Gießen habilitiert hatte und selbst elementare Vorlesungen hielt (118.3). Nachfolger Zamminers im Extraordinariat für Mathematik (Seite 119) und Physik wurde 1862 Johann Bohn, der bis zu seinem Ausscheiden 1866 neben Geodäsie Vorlesungen aus der Elementarmathematik hielt (119.1).

Ebenso bedeutend dürfte das unter Clebschs Ordinariat 1863 nach Königsberger Muster eingerichtete mathematische Seminar gewesen sein, das schon bei seinen Berufungsverhandlungen eine entscheidende Rolle spielte (119.2). So studierten in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts zwar wenige, aber „für die Wissenschaft wirklich Begabte und Begeisterte Mathematik als Hauptfach“ (119.3).

V.1.3     Das Ordinariat Baltzer und die Errichtung des zweiten Ordinariates (1869 - 1888)

Als Clebsch zum Wintersemester 1868/69 nach Göttingen ging, blieb auch dessen Lehrstuhl für ein Vierteljahr verwaist, ehe Richard Baltzer, Professor am Dresdener Kreuzgymnasium, am 28.4.1869 berufen wurde (119.4). Bekannt war Baltzer schon früher durch seine Werke „Theorie und Anwendung der Determinanten“ und „Elemente (Seite 120) der Mathematik“ (120.1). Seine Vorlesungen, die „von musterhafter Klarheit und Verständlichkeit im Vortrag“ und „fesselnd“ waren (120.2), umfaßten für die Anfänger „Algebra und Determinanten“, „analytische Geometrie der Ebene“ und „Differentialrechnung“, für die Fortgeschrittenen las Baltzer „Integralrechnung“, „analytische Geometrie des Raums“, „Differentialgeometrie“ und „analytische Mechanik“ (120.3).

Im Jahr 1870 habilitierte sich in Gießen Moritz Pasch, der funktionentheoretische und geometrische Vorlesungen hielt. 1874 trat er die Nachfolge Gordans im Extraordinariat an, 1876 wurde ihm das neugeschaffene zweite Ordinariat übertragen (120.4).

Neben diesen beiden Dozenten lehrte in Gießen in der Nachfolge Bohns im Extraordinariat für Physik und Mathematik seit 1867 Karl Jakob Zöppritz (120.5), 1880 wurde diese Lehrstelle in eine ausserordentliche Professur für mathematische Physik und Geodäsie umgewandelt und dem Göttinger Privatdozenten der Physik, Karl Fromme übertragen (120.6).

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V.1.4     Die Ordinarien Moritz Pasch und Eugen Netto (1876 - 1913)

Moritz Pasch gehörte fast sechzig Jahre ununterbrochen der Universität Gießen an. Seine Forschungstätigkeit umfaßte im wesentlichen die Geometrie, wobei sein Hauptwerk „Vorlesungen über neuere Geometrie“ (1882) eine wichtige Vorstufe zu Hilberts „Grundlagen der Geometrie“ (1899) bildete (121.1). Dabei scheint Pasch die großen Anforderungen, die er an seine Arbeiten stellte, auch auf seine Vorlesungen übertragen zu haben, weshalb er „als akademischer Lehrer nur den Fortgeschrittenen etwas bot“ (121.2). Neben Pasch wirkte seit dem 1. April 1888 Eugen Netto, der als Nachfolger Baltzers das erste Ordinariat für Mathematik in Gießen innehatte und dessen Arbeitsgebiet kombinatorische und gruppentheoretische Fragen betraf, was sich auch in seinen Vorlesungen niederschlug (121.3).

In den Jahren bis zum Ausscheiden von Pasch und Netto — 1911 bzw. 1913 — habilitierte sich nur Lothar Heffter 1888 (121.4). Als Schüler von Lazarus Fuchs brachte er dessen Theorie der linearen Differentialgleichungen nach Gießen mit (121.5). 1891 wurde er zum außerordentlichen Professor ernannt und erhielt anschließend einen Lehrauftrag für darstellende Geometrie. Ihm folgte 1897 Robert Haußner, wobei die Gießener außerordentliche Professur in (Seite 122) ein planmäßiges Extraordinariat umgewandelt wurde (122.1). 1902 übernahm Josef Wellstein diese Stelle, 1909 schließlich Hermann Graßmann (122.2).

In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg gab es auch an der Gießener Hochschule einen Einschnitt. Pasch trat 1911 in den Ruhestand, sein Nachfolger wurde Ludwig Schlesinger, ein Schüler von Fuchs. Im Jahr 1913 wurde Netto emeritiert, dessen Nachfolge trat Friedrich Engel an (122.3).


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V.2     Die Berliner Universität

Die Universität in Berlin, die erst im Jahr 1810 gegründet wurde, zählte zwar schon zu Beginn eine größere Anzahl an Dozenten, doch sollten diese ihr „keinen Ruhm bringen“ (123.1). Seit 1821 lehrte Martin Ohm, der 1839 Ordinarius wurde; 1820 hatte sich Enno Dirksen habilitiert, der 1824 die Nachfolge Tralles im ersten Ordinariat antratt, für die angewandte Mathematik hatte Jabbo Oltmanns eine Professur seit 1824 inne. Die außerordentlichen Professuren belegten Johann Eytelwein seit 1810 und Johann Gruson seit 1816; Samuel Lubbe hatte sich 1818 als Privatdozent für Mathematik habilitiert (123.2). Das Niveau der Berliner Mathematik wird dabei in einem Schreiben Crelles deutlich, das er am 11. Januar 1832 dem preußischen Kultusminister Karl Frh. v. Altenstein übersandte:
„In der Masse ist man noch gewöhnt, unter den Worten: „Reine Mathematik“ nicht viel anders als die Elemente der Geometrie und Trigonometrie und höchstens der Analytischen Geometrie, der Algebra bis zu den Gleichungen zweiten Grades, allenfalls etwas mehr davon und einiges aus dem Differential- und lntegralrechnen, wie es zu verschiedenen Anwendungen gebraucht wird, nebst den Elementen der Mechanik zu verstehen.“ (123.3)

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V.2.1     Die 1. Berliner Schule: Dirichlet - Steiner - Jacobi (1828 - 1855)

Von entscheidender Bedeutung für ein Aufblühen waren der Einfluß Alexander von Humboldts und August Leopold Crelles, der 1826 das „Journal für die reine und angewandte Mathematik“ gründete und als Mathematikexperte im Kultusministerium an Einfluß gewann (124.1). Humboldt hatte wesentlichen Anteil daran, daß Dirichlet, der sich 1827 in Breslau habilitiert hatte, seit dem Wintersemester 1828/29 Vorlesungen an der Universität Berlin hielt (124.2). Zwar konnte Dirichlet anfangs nur wenige Hörer verzeichnen — die Zahlen schwanken zwischen drei und sieben —, wofür der Grund auch in den gehobenen Themen seiner Kollegien zu vermuten ist, doch steigerte sich dann die Hörerzahl auf bis zu 40 Studenten in einigen Veranstaltungen. Während die Themen in erster Linie über partielle Differentialgleichungen, über bestimmte Integrale und über das Potential, sowie über Anwendungen der Analysis handelten (124.3), las Dirichlet zu einer für die Studenten ungünstigen Zeit;
„aber wohl keiner von uns würde ohne die zwingendsten Gründe eine Stunde versäumt haben, und sein klarer Vortrag und die Sicherheit, mit der er die schwierigsten Rechnungen elegant durchführte, ließen eine Ermüdung oder Abspannung nicht aufkommen.“ (124.4)
(Seite 125) Schließlich veranstaltete Dirichlet seit 1834 auch eine Art Seminar, um seine Hörer „im mündlichen Vortrag und in der Lösung von Aufgaben“ zu üben (125.1).

Dirichlet hatte bei seinem Antritt in Berlin nicht alle durch die Fakultät von ihm geforderten Leistungen erfüllt, so daß diese ihn trotz seiner Beförderung zum ordentlichen Professor 1839 nur als „Professor designatus“ betrachtete und er somit nicht in den Genuß aller Rechte eines Ordinarius kam. Daher blieb er bis zur Erfüllung des Verlangten — er sollte ein lateinisches Programm aufstellen und eine lateinische Antrittsvorlesung halten — auch als Gutachter von Promotionen ausgeschlossen, außer die Fakultät beschloß, ihn eigens dafür hinzuzuziehen (125.2).

Als Dirichlet 1855 einem Ruf nach Göttingen als Nachfolger von Gauß folgte, geschah dies zum einen, um dem Unterricht an der Kriegsschule zu entgehen, zum anderen aber auch, da ihm in Berlin bis zum Schluß das Gehalt eines Ordinarius verwehrt geblieben war (125.3). Mit denselben Problemen hatte auch sein Nachfolger Kummer zu kämpfen.

In Forschung und Lehre vor allem auf die synthetische Geometrie festgelegt war Jakob Steiner, der seit 1834 als außerordentlicher Professor an der Universität Berlin Vorlesungen hielt und regelmäßig geometrische Übungen anbot (125.4).

(Seite 126) An dieser Stelle ist noch Ferdinand Minding zu nennen, der zusammen mit Dirichlet und Steiner das „Ansehen der Mathematik“ in Berlin bestimmte. Minding habilitierte sich 1830 in Berlin und scheint ein „außerordentlich vielseitiges Talent“ gewesen zu sein (126.1). In seinen Vorlesungen behandelte er die Geschichte der Mathematik, die Politische Arithmetik, Zahlentheorie, Variationsrechnung, Wahrscheinlichkeitsrechnung und analytische Mechanik, „nirgends flach, immer von einem gehobenen Standpunkt umfassender Allgemein- und tiefer mathematischer Bildung ausgehend“ (126.2). Im Jahr 1843 folgte er einem Ruf an die Universität Dorpat, und Jacobi, der aus Krankheitsgründen nach Berlin versetzt worden war, trat im Sommersemester 1845 dessen Nachfolge an.

Es wurde schon darauf hingewiesen, daß die von Jacobi in Königsberg begründete Schule von bedeutendstem Einfluß auf die Mathematik in Deutschland war, dennoch wurde er nicht zum Ordinarius an der Berliner Universität ernannt, sondern er erhielt lediglich eine Stelle an der Berliner Akademie, die ihm das Recht gab, an der Universität Vorlesungen zu halten (126.3). Diese charakterisierte Dirichlet:

„Es war nicht seine Sache, Fertiges und Überliefertes von neuem zu überliefern, seine Vorlesungen bewegten sich sämtlich ausserhalb des Gebietes der Lehrbücher und umfassten nur diejenigen Theile der Wissenschaft, in denen er selbst schaffend aufgetreten war, und das hiess bei ihm, sie boten die reichste (Seite 127) Fülle der Abwechslung. Seine Vorträge zeichneten sich nicht durch diejenige Deutlichkeit aus, welche auch der geistigen Armuth oft zu Theil wird, sondern durch eine Klarheit höherer Art. Er suchte vor allem die leitenden Gedanken, welche jeder Theorie zu Grunde liegen, darzustellen, und indem er alles, was den Schein von Künstlichkeit an sich trug, entfernte, entwickelte sich die Lösung der Probleme so naturgemäss vor seinen Zuhörern, dass diese Ähnliches schaffen zu können die Hoffnung fassen konnten.“ (127.1)
Von denen, die sich während des Wirkens von Jacobi in Berlin habilitierten, sind noch Karl Wilhelm Borchardt, „dessen Probevortrag vor der Fakultät ganz Jacobischen Geist atmete“, und Max Eisenstein zu nennen (127.2). Hinzu kommt noch Ferdinand Joachimsthal, der noch in Königsberg ein Schüler Jacobis war, aber in Berlin trotz seines Talentes neben den genialen Mathematikern keine „rechte Entfaltungsmöglichkeit“ hatte (127.3).

In den Jahren 1855/56 gab es einen tiefen Einschnitt in die Geschichte der Berliner Mathematik: Dirichlet folgte einem Ruf nach Göttingen, Crelle starb, Kronecker ließ sich als Privatgelehrter (Seite 128) in Berlin nieder und schließlich erhielt Weierstraß im Juni 1856 ein Extraordinariat an der Berliner Universität (128.1).

V.2.2     Die 2. Berliner Schule: Kummer - Weierstraß - Kronecker (1855 - 1892)

Auf Vorschlag Dirichlets wurde Ernst Kummer als sein Nachfolger berufen (128.2). In Berlin forschte er vor allem auf geometrischen Gebieten, während seine größten Erfolge aus früherer Zeit in der Zahlentheorie liegen (128.3). Bis zur Gründung des mathematischen Seminars in Berlin 1864 las er in seinen Vorlesungen über seine eigenen Forschungsergebnisse, danach wurden dergleichen Fragen im Seminar besprochen, in den Vorlesungen dagegen wurden nun nur „vollständig abgeschlossene Gebiete der Mathematik“ behandelt (128.4). „Klar, ruhig, sorgfältig vorbereitet“ trug Kummer vor und sein Ruhm als „glänzender Lehrer“ zog immer mehr Mathematikstudenten nach Berlin (128.5).

Mit Kummer lehrte Karl Theodor Weierstraß als etatmäßig außerordentlicher Professor in Berlin, und war damit bis zu seiner Ernennung zum Ordinarius 1864 ähnlich wie Dirichlet „allen Einschränkungen unterworfen, die den außerordentlichen vom ordentlichen (Seite 129) Professor trennten“ (129.1). In seinen Vorlesungen behandelte er Gebiete, „die er gerade zum Zeitpunkt der Lektionen selbst bearbeitete“ (129.2).

„Weil Weierstraß in seinem Streben nach einem immer höheren Grad der Vollendung wenig publizierte, waren seine Vorlesungen als Spiegel seiner fortschreitenden Untersuchungen von unschätzbarem Wert; (...).“ (129.3)
Dabei bildete sich ein regelmäßiger Zyklus heraus, der folgende Kollegs umfaßte: Einleitung in die Theorie der analytischen Funktionen, Theorie der elliptischen Funktionen, Anwendungen der elliptischen Funktionen auf Probleme der Geometrie und Mechanik, Theorie der Abelschen Funktionen, Anwendung der Abelschen Funktionen zur Lösung ausgewählter geometrischer Probleme und Variationsrechnung (129.4).

Als dritter dieser „2. Berliner Schule“ ist Leopold Kronecker zu nennen, ein Schüler Kummers und Dirichlets. Er zog 1855 „finanziell völlig unabhängig“ nach Berlin, „um dort im Kreise kongenialer Freunde seine Gedanken zu entwickeln und seine Ideen auszutauschen“ (129.5). Seit dem Wintersemester 1861/62 hielt er auf Anregung Kummers Vorlesungen an der Berliner Universität, wobei (Seite 130) er wie Weierstraß „gerade erst im Entstehen begriffene Gedanken“ vortrug (130.1). Dabei lag seine Bedeutung und Größe in seiner Vielseitigkeit und in der Verbindung seiner Forschungsgebiete.

Bemerkenswert an dieser Zeit der „vieljährigen Wirksamkeit“ von Kummer, Weierstraß und Kronecker ist der häufige Wechsel der außerordentlichen Professoren (130.2). So sind Lazarus Fuchs, Wilhelm Thomé, Georg Ferdinand Frobenius, Albert Wangerin, Ernst Heinrich Bruns, Leo Pochhammer, Georg Hettner, Eugen Netto, Carl Runge, Johannes Knoblauch und Kurt Hensel zu nennen, zu den Habilitanden zählen Emil Christoffel, Alfred Clebsch, Ernst Kötter, Ludwig Schlesinger und Paul Günther (130.3), die einander in den beiden Extraordinarien folgten.

Nicht nur in der Zahl ihrer Schüler oder in der Errichtung des ersten rein mathematischen Seminars 1864 war die Universität in Berlin anderen deutschen Universitäten weit voraus, sie besaß bereits 1824 zwei Ordinariate, davon eines für angewandte Mathematik, und seit 1839 mit Ohm sogar ein zweites Ordinariat für reine Mathematik. Als nun Kummer 1882 seinen Rücktritt ankündigte, regte er gleichzeitig die Errichtung eines dritten Ordinariates an, unter Hinweis auf die sehr große Zahl an Mathematikstudenten und darauf, daß in Leipzig und Göttingen ebenfalls drei Ordinarien bestünden (130.4). 1883 wurde daraufhin Kronecker zum ordentlichen Professor ernannt, ein Jahr darauf Fuchs als Nachfolger (Seite 131) Kummers aus Heidelberg berufen (131.1). Als 1891 Kronecker starb und Weierstraß auf Grund seiner Krankheit kaum mehr Vorlesungen halten konnte, wurden Frobenius in Zürich als Nachfolger Kroneckers und Schwarz für das „Weierstraßsche Ersatzordinariat“ berufen (131.2), womit die „große klassische Ära“ beendet war (131.3). Die Bedeutung Berlins wird auch aus einer Äußerung von Weierstraß deutlich:

„Durch das Zusammenwirken von Kummer, Weierstraß und Kronecker wurde es möglich, nach einem umfassenden (...) Plan, dem sich später auch heran gezogene jüngere Kräfte willig und erfolgreich anschlossen, den mathematischen Unterricht in der Weise zu organisieren, daß den Studirenden Gelegenheit gegeben ist, in einem zweijährigen Cursus eine beträchtliche Reihe von Vorträgen über die wichtigsten mathematischen Disciplinen in angemessener Aufeinanderfolge zu hören, darunter nicht wenige, die an anderen Universitäten gar nicht oder doch nicht regelmäßig gelesen werden. Dies hat denn auch den Erfolg gehabt, daß seit Jahren schon, zumal seit der Zeit, wo auch Vorlesungen über mathematische Physik hier in größerer Vollständigkeit wie anderwärts gehalten wurden, nicht nur aus allen Gegenden Deutschlands Studirende der Mathematik, die eine höhere Ausbildung in ihrer Wissenschaft erstreben, sondern auch aus dem Auslande, aus Oesterreich-Ungarn, Italien, aus der Schweiz, Schweden, Dänemark, Rußland, Amerika und in den letzten Jahren selbst aus Frankreich junge Männer, die sich für den akademischen Beruf vorbereiten, (Seite 132) in nicht geringer Zahl, zum Theil von ihren Regierungen geschickt, sich hier in Berlin zusammenfinden und größtentheils einen vollständigen Cursus absolviren.“ (132.1)

V.2.3     Ein zeitweiser Abstieg der Berliner Mathematik: Schwarz - Frobenius - Schottky (1892 - 1917)

Hermann Amandus Schwarz hatte seine Ausbildung bei eben jenen drei großen Mathematikern erhalten, die die Berliner Universität von 1855 bis 1890 geprägt und sie zu einem mathematischen Zentrum gemacht hatten (132.2). Seine über viele Themen sich erstreckenden Vorlesungen lassen sich in Anfänger- und in Spezialvorlesungen einteilen und waren ebenso durch „Klarheit“ wie durch „Schönheit, durchsichtigste, reinlichste Logik und Anschaulichkeit“ geprägt, weniger dadurch, daß „die Fülle des Stoffes überwältigend groß gewesen wäre oder überraschend die Neuheit des Gedankens (132.3).

Georg Frobenius war Schüler und Nachfolger Kroneckers und sollte die Geschicke der Berliner Mathematik für 25 Jahre prägen (132.4). Wie (Seite 133) ein unbekannter Hörer mitteilt, zeichneten sich seine Vorlesungen — Zahlentheorie, Algebra, Determinanten, analytische Geometrie — durch ihre „Abrundung, Reichhaltigkeit und Vertiefung“ aus und zogen so oftmals 250 Hörer an (133.1). Doch gelang es ihm nicht, „die Zeiten von Weierstraß, Kummer und Kronecker auch in ihren äußerlichen Kennzeichen unverändert zu erhalten“ (133.2).

Im Jahr 1902 starb plötzlich Lazarus Fuchs im Alter von 68 Jahren. Seine Nachfolge trat zum Wintersemester 1902/03 Friedrich Hermann Schottky (133.3) an mit dem Auftrag, vornehmlich Vorlesungen „aus den höchsten Gebieten der Mathematik, wie der Lehre von den Abelschen Funktionen, von den automorphen Funktionen, den Grundproblemen der Funktionentheorie“ zu halten (133.4).

Die Anfängervorlesungen hielten in Berlin weiterhin vor allem die Extraordinarien und Privatdozenten. Neben einigen aus der Weierstraß-Ära, — Hettner, Knoblauch und Hensel — kamen nur noch vier Habilitanden bis 1917 hinzu, E. Landau, I. Schur, Konrad Knopp und Robert Jentzsch (133.5), was zeigt, wie die Zahl an Dozenten der Berliner Universität in dieser Zeit abnahm (133.6).

(Seite 134) Im Jahr 1917 wurde diese „postklassische Ära“ beendet (134.1). Für den zum 31. März emeritierten Schwarz wurde Erhard Schmidt berufen, die Nachfolge des am 3. August 1917 verstorbenen Frobenius trat Constantin Carathéodory an.

„Mit dieser Berufung endet die Ära Schwarz - Frobenius - Schottky, und es beginnt eine kurze Übergangsperiode. die bereits im Zeichen der kommenden neuen Blütezeit der Mathematik an der Universität Berlin steht.“ (134.2)
Und weiter urteilt Biermann über die Nachfolger von Kummer, Weierstraß und Kronecker:
„Zusammenfassend ist zu sagen, daß die neuen Männer bei all ihrer unbestrittenen Bedeutung und ihren Vorzügen, bei aller engen Bindung, der eigenen und der ihrer Kollegen, an Geist und Buchstaben der Vorgänger, einen vorübergehenden Abstieg Berlins auf mathematischem Gebiet nicht haben aufhalten können.“ (134.3)
Das „Mekka“ der Mathematiker wurde Ende des 19. Jahrhunderts mit der Berufung Hilberts 1895 wieder Göttingen (134.4).


(Seite 135)

V.3     Berlin - Heidelberg - Gießen: Ein Vergleich

Die Stellung der Heidelberger Mathematik im Vergleich zu anderen deutschen Universitäten muß nun auf Grund der bisherigen Untersuchungen von verschiedenen Aspekten her betrachtet werden.

Bezüglich der Anzahl der Dozenten hatte die Berliner Universität schon seit ihrer Gründung, insbesondere seit Beginn des Untersuchungszeitraums im Jahr 1835, gegenüber Heidelberg und Gießen einen großen Vorsprung: Seit dem Jahr 1839 leiteten zwei ordentliche Professoren für reine Mathematik sowie einer für Angewandte Mathematik, zwei außerordentliche Professoren und ein Privatdozent den mathematischen Unterricht an der Berliner Hochschule. Dahingegen hielten in Gießen gerade zwei Mathematiker — ein Ordinarius und ein Extraordinarius — den mathematischen Lehrbetrieb aufrecht (135.1). An der Ruperto Carola schließlich hatte Ferdinand Schweins die einzige ordentliche Professur inne, ihm standen nur drei Privatdozenten zur Seite und Philipp Jolly als außerordentlicher Professor für angewandte Mathematik (135.2). Dies war von entscheidender Bedeutung, da der Ordinarius alle Rechte im akademischen Lehrbetrieb besaß und somit sowohl auf Forschung und Lehre wie auch auf die Berufung neuer Lehrer, insbesondere eines möglichen Nachfolgers, massiven Einfluß nahm (135.3).

Seit etwa der Jahrhundertmitte läßt sich dann auf allen drei angesprochenen Hochschulen eine Zunahme der Lehrkräfte feststellen (135.4). In Gießen hielten neben dem Ordinarius Clebsch noch ein Extraordinarius und ein Privatdozent Vorlesungen, in (Seite 136) Heidelberg ist eine Zunahme der Habilitationen zu erkennen (136.1). Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wiederum ist die Zahl der Habilitationen wieder rückläufig (136.2). An der Gießener Hochschule habilitierte sich zwischen 1880 und 1913 nur Lothar Heffter, in Berlin sind dies für die Jahre 1890 bis 1917 nur fünf Mathematiker (136.3). Über die gesamte Zeitspanne von 1835 bis 1914 hinweg zeigt ein Vergleich Heidelbergs mit Berlin, daß sich viele auch von der Neckarmetropole anziehen ließen, um in Heidelberg die Venia legendi zu erlangen (136.4). Dagegen lassen die im Verhältnis zu Berlin geringen Zahlen der Promotionen auf eine geringere Studentenzahl in Heidelberg schließen (136.5).

Ein entscheidendes Moment für die Rückständigkeit der Heidelberger Mathematik im institutionellen Bereich ist jedoch die sehr späte Errichtung eines zweiten Ordinariates; Universitäten wie Berlin, Leipzig und Göttingen konnten schon seit 1883 eine dritte ordentliche Professur aufweisen, die meisten deutschen Universitäten (Seite 137) verfügten über zwei Ordinariate für Mathematik (137.1).

Im Hinblick auf Forschung und wissenschaftliches Ansehen der einzelnen Dozenten kann die Ruperto Carola sicher als eine bedeutende Universität in Deutschland angesehen werden. Ein Ausgangspunkt des Aufschwungs der deutschen Mathematik war — wie bereits erwähnt — die in Königsberg begründete Schule Jacobis; durch sie war Alfred Clebsch beeinflußt (137.2), der ebenso wie Moritz Pasch in Gießen produktiv wirksam war. Die für Heidelberg bedeutenden Ordinarien Königsberger und Fuchs hatten als dessen Schüler den Einfluß von Karl Weierstraß erfahren und dies wohl auch an ihre Studenten weiterzugeben versucht, Hesse wiederum war durch die Jacobische Schule in Königsberg geprägt (137.3). Vor allem seine Schüler konnten sich im Vergleich zu den anderen in Heidelberg habilitierten Mathematikern einen Ruhm erwerben: Paul Du Bois-Reymond, Jacob Lüroth und besonders Heinrich Weber (137.4). Königsberger hingegen konzentrierte sich mehr auf institutionelle Verbesserungen am mathematischen Seminar der Ruperto Carola. Andererseits wurden von diesen drei Professoren nun auch mathematische Themen in Heidelberg gelehrt, die zuvor zum Forschungsgebiet von Weierstraß zählten: elliptische und Abelsche Funktionen. Letztendlich lag jedoch der Forschungsschwerpunkt deutscher Universitäten im Bereich der Mathematik seit etwa 1850 in Berlin, wo mit Weierstraß, Kummer und Kronecker Wissenschaftler lehrten, die zu den bedeutendsten Mathematikern zu zählen sind. Desweiteren zählte die Universität Göttingen zu dieser Zeit zu (Seite 138) den führenden Hochschulen Deutschlands im Bereich der Mathematik (138.1).

Ein letzter zu beachtender Aspekt sind die äußeren Einflüsse, denen die Universitäten ausgesetzt waren. Gerade für Berlin war dabei der Einfluß und das erstrebte Ziel Alexander von Humboldts entscheidend, der in Berlin eine preußische Renomier- und Reformuniversität und die führende Hochschule Deutschlands aufbauen wollte (138.2). Dieses Streben wurde bei den zuständigen Behörden sicher dadurch gefördert, daß Berlin nach 1870 das politische Zentrum der neuen mitteleuropäischen Großmacht Deutschland geworden war. Hier sollte auch der kulturelle und wissenschaftliche Schwerpunkt liegen (138.3).

Dahingegen unterstand die Ruperto Carola in Heidelberg ganz anderen äußeren Einflüssen. Das liberale Großherzogtum im Südwesten hatte immerhin drei Hochschulen aufzuweisen, das Polytechnikum in Karlsruhe, die Landesuniversitäten in Freiburg und Heidelberg. In den Augen des Ministeriums lag dabei eine wesentliche Aufgabe der Mathematik darin, Lehrkräfte für die Schulen des Landes heranzubilden (138.4) oder auch die Studenten der Kameralwissenschaften in elementarer Mathematik zu schulen. Dies bedeutete (Seite 139) sicher eine Einschränkung der mathematischen Forschung (139.1). Andererseits profitierte die Mathematik indirekt von der fortschreitenden Industrialisierung, die einen Aufschwung der Naturwissenschaften — insbesondere der Physik und Chemie — mit sich zog und für die die Mathematik eine nicht zu gering einzuschätzende Bedeutung hatte (139.2).


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