Hans Maaß / Antrittsrede
Heidelberger Akademie der Wissenschaften

Quelle: Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. - Jahresheft 1974, S. 132-136
UB-Signatur: ZSA 889 B::1974
Antrittsrede des Herrn Maaß Heidelberg:

Herr Präsident, meine Herren!

Einem gebürtigen Hamburger dürfte es schwerfallen, seine Herkunft zu verleugnen, auch dann, wenn er nicht mehr »über spitze Steine stolpert«. Ihm sind eine gewisse Geradlinigkeit und Nüchternheit in der Betrachtung eigen, die sich auch nach 35 Jahren Aufenthalt in süddeutschen Landen nicht verlieren. Überflüssig zu sagen, daß die muntere Stadt an der Elbe mein Geburtsort ist. Mein Vater hatte sich hier zu einer Zeit niedergelassen, als sein Gewerbe, die Photographie, noch als Kunstgewerbe angesprochen werden konnte. Seine Neigungen waren vielfältig, besonders in musischen Bereichen. Da von hier zur Mathematik leicht ein Brückenschlag vollzogen werden kann, so ließe sich unschwer umreißen, von welcher Art mein väterliches Erbteil gewesen ist. Die Vorfahren meiner Eltern waren, so weit dies im einzelnen feststellbar ist, Bauern und Handwerker. Beheimatet waren sie in Mecklenburg und in Bayern. Meine Erinnerung an Dinge aus der Hand meines Vaters sind stärker als an seine Person. Ich war drei Jahre alt, als er zum Kriegsdienst eingezogen wurde. Er starb an einer Kriegsverletzung und kehrte nicht heim. Was ich nun geworden bin, verdanke ich meiner Mutter, die als Sozialgehilfin unseren Lebensunterhalt bestritt und mir ein Studium ermöglichte, obwohl sie es anfänglich lieber gesehen hätte, wenn ich nach meinem Schulabschluß gleich in staatliche Dienste getreten wäre.

Ich folgte meinen Neigungen und immatrikulierte mich an der Hamburger Universität in den Fächern Mathematik, Astronomie und Physik, zunächst in der Absicht, Astronom zu werden. Diesen Plan ließ ich bereits im ersten Semester fallen, nachdem sich beim Studium von Gaußens Theoria Motus Schwierigkeiten ergeben hatten. Ich war auf Kettenbrüche gestoßen, von denen ich nichts verstand, Im Bemühen diese Wissenslücke zu schließen, griff ich zu Perrons schönen Lehrbuch über Kettenbrüche, das mich schließlich so faszinierte, daß ich darüber den Anlaß, der mich zu den Kettenbrüchen geführt hatte, völlig vergaß. Das zur Zeit älteste Mitglied der Heidelberger Akademie hat demzufolge einen nennenswerten Einfluß auf meinen Werdegang genommen. Im übrigen hatte ich insofern Glück, als mein Studium in eine Zeit fiel, in der das Mathematische Seminar der Hamburger Universität dank der Wirkung hervorragender Mathematiker wie Artin und Hecke zu einer Forschungsstätte ersten Ranges aufstieg. Ich siedelte mich in geistiger Nachbarschaft Heckes an. Seinem damaligen Assistenten, Hans Petersson, verdanke ich das Thema meiner Dissertation aus dem Bereich der analytischen Zahlentheorie, die mich Zeit meines Lebens beschäftigt hat. Das Ende der Weimarer Republik erlebte ich im vierten Semester. Der allgemeine Terror, der nach der Machübernahme durch die Nationalsozialisten über deutsche Lande hereinbrach, warf seine Schatten auch auf das Mathematische Seminar und setzte dem unbeschwerten fröhlichen Wissenschaftsbetrieb ein abruptes Ende. Furcht vor Denuntiantentum sorgte dafür, daß die Kommunikation in größerem Kreise zum Erliegen kam. Mein Studium konnte ich mit dem Staatsexamen für das höhere Lehramt nach 14 Semestern beenden. Erwägungen wirtschaftlicher Art zwangen mich, eine Stellung als Statiker in der Flugzeugindustrie anzunehmen. Da mir der Leiter der Abteilung, in der ich beschäftigt war, freundlich gesonnen war und bemerkte, daß mir die Arbeit nicht zusagte, so war er damit einverstanden, daß ich diese Tätigkeit wenige Monate vor Ausbruch des zweiten Weltkrieges aufgab, um eine Assistentenstelle am Mathematischen Institut in Heidelberg anzunehmen. Ich ahnte damals nicht, daß Heidelberg die Endstation meiner akademischen Laufbahn sein würde.

Nach meiner einjährigen Tätigkeit in der Industrie empfand ich dankbar, wieder über meine Zeit verfügen und mich mit Problemen beschäftigen zu können, die mich interesssierten. Ich stürzte mich mit großem Elan in die Arbeit und konnte mich nach Ablauf eines Jahres mit einer Arbeit habilitieren, in der ich mit Hilfe einer Siegelschen Idee die Struktur gewisser Körper automorpher Funktionen bestimmt habe. Die Erfordernisse des Krieges führten zwangsläufig zu stärkerem Einsatz in allen Arbeitsbereichen. In den ersten Kriegsjahren war es mir noch möglich, meine eigenen Arbeiten voranzutreiben. In der Hauptsache übte ich eine intensive Vorlesungstätigkeit aus, gelegentlich bis zu 16 Stunden in der Woche. Das Verbleiben in der Heimat wurde mit Rechnungen im Auftrag der Luftwaffe gerechtfertigt. Während meiner Ausbildung für den Wetterdienst in der Luftwaffe, zeichnete sich die militärische Katastrophe bereits ab. Zur Zeit der Kapitulation befand ich mich wieder in Heidelberg. Infolge Unachtsamkeit geriet ich jetzt noch für ein halbes Jahr in amerikanische Gefangenschaft. Die ersten drei Monate waren entbehrungsreich. Sodann wurde ich als Transportarbeiter in einem amerikanischen Lebensmitteldepot eingesetzt. Angesichts der katastrophalen Lage, in der sich die Bevölkerung damals befand, ging es mir hier vergleichsweise gut. Ich hatte wieder ein Dach über dem Kopf und die Mathematik begann mich wieder zu beschäftigen. Als ich im Begriff stand, mich über die Heidelberger Kliniken aus der Gefangenschaft abzusetzen, kam mir urplötzlich die entscheidende Idee, mit der ich eine fühlbare Lücke in Heckes Untersuchungen über Modulformen und Dirichletsche Reihen schließen konnte. Es erwies sich als sinnvoll, den Begriff der nicht-analytischen automorphen Form einzuführen. Hecke hatte Gefallen an der Sache und beabsichtigte, über die Ergebnisse in der Mathematischen Gesellschaft in Kopenhagen zu berichten, solange sein Befinden ihm dies erlaubte. Wie es nun so geht: Eine breitere Resonanz stellte sich erst dann ein, als Siegel auf meine Arbeiten Bezug nahm. Heute gibt es eine umfangreiche Literatur über nicht-analytische automorphe Formen, die weit über das hinausgeht, was ich ursprünglich angestrebt habe.

Nach meiner Rückkehr ans Mathematische Institut konnte ich meine Vorlesungstätigkeit wieder aufnehmen. Es war ein beglückendes Gefühl, mit einer Jugend zusammenarbeiten zu können, die jahrelang nahezu alles hatte entbehren müssen und die nun in großer Erwartung mit dem Vorsatz, Versäumtes nachzuholen, zur Universität strömte. In den ersten Nachkriegsjahren wurde an dem relativ kleinen Mathematischen Institut mit unvergleichlicher Intensität gearbeitet.

Zu Beginn der fünfziger Jahre traf ich das erstemal mit Carl Ludwig Siegel zusammen, der durch sein Werk und die Ausstrahlung seiner Persönlichkeit wie kein anderer Einfluß auf meine Entwicklung genommen hat. Siegel war gerade von Princeton nach Göttingen zurückgekehrt, als ich ihn zu einem Vortrag nach Heidelberg einlud. Unsere erste Begrüßung glich der alter Freunde. Es wird unverständlich bleiben, warum ich einem Ruf nach Göttingen und damit einem Ruf Siegels nicht gefolgt bin. Der Gründe sind viele; sie sind komplex und können hier im einzelnen nicht dargelegt werden. Nur so viel sei gesagt: Das Mathematische Institut in Heidelberg war im Ausbau begriffen und es hatte sich ein überaus günstiges Arbeitsklima eingestellt. Schließlich zeigte auch das Kultusministerium in Stuttgart bei der Erfüllung bescheidener Wünsche ein großes Entgegenkommen.

In den nun folgenden Jahren war ich bemüht, einem Kreis von Mitarbeitern Anregungen zu vermitteln, während auf mich in zunehmendem Maße Aufgaben der akademischen Selbstverwaltung zukamen. Zweimal hatte ich die Ehre, als Dekan die Interessen der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät zu vertreten. Meine Möglichkeiten, als Amtsvertreter auf die Gestaltung der Grundordnung unserer Universität Einfluß zu nehmen, waren begrenzt; denn wesentliche Entscheidungen waren bereits gefallen, als ich der Grundordnungsversammlung beitrat. Die Politisierung der Universität erschien mir damals verhängnisvoll. Der rigorose Demokratisierungsprozeß hat dazu geführt, daß heute nur noch wenige bereit sind, Verantwortung an der Universität zu übernehmen.

Eine wertvolle Erweiterung meines Weltbildes verdanke ich wiederholten Einladungen an das Tata Institute of Fundamental Research in Bombay. Mit Chandrasekharam, dem Begründer der Mathematischen Schule dieses Instituts, fühle ich mich noch heute freundschaftlich verbunden. Es hat mich nachhaltig beeindruckt zu sehen, wie sich begabte junge Inder unter klimatisch ungünstigen Bedingungen um die Mathematik Siegelscher Prägung bemühten. Unwillkürlich drängt sich die Frage auf: Was gilt der Prophet in seinem Vaterland? Gastvorlesungen, die ich an der University of Maryland (USA) hielt, waren für mich selbst mathematisch ergiebig, aber anstrengend. Nach meinem letzten Dekanat war mir keine Zeit zur Erholung oder Vorbereitung auf diese meine letzte Reise geblieben. Der Rückschlag blieb nicht aus. Ungestraft treibt niemand Raubbau mit seinen Kräften.

Mit einer allgemeinen Bemerkung, die meinen Standort in der Mathematik betrifft, beschließe ich meine Ausführungen. Ein Mathematiker gilt als fortschrittlich, wenn er die Auffassung teilt, die in Bourbakis Werk entwickelten Methoden und Ideen seien notwendige Voraussetzung für einen in der Forschung tätigen Mathematiker. Den Herren Kollegen von der Zunft dürfte bekannt sein, daß ich diese Auffassung nicht uneingeschränkt teile. Daß sie mich trotzdem zur Wahl in die Akademie vorgeschlagen haben, hat mich außerordentlich ermutigt, weil ich glaube, daß eine Wissenschaft nur auf dem Boden großzügig geübter Toleranz gedeihen kann. Für die Ehre, die Sie mir mit der Aufnahme in die Akademie erwiesen haben, danke ich Ihnen.


Gesamtsitzung am 30. November 1974


Letzte Änderung: 24.05.2014     Gabriele Dörflinger   Kontakt

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