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Hellmuth Kneser / Antrittsrede 10.5.1958
Heidelberger Akademie der Wissenschaften

Quelle: Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. - Jahresheft 1957/58, S. 25-27
UB-Signatur: H 95-6::1957-58
Hellmuth Kneser

Für die ehrenvolle Wahl zum Mitglied sage ich der Akademie meinen tiefempfundenen Dank. Pflichtgemäß bericht ich über meine Entwicklung und in Auswahl über meine Arbeiten, so wie ich sie sehe und beurteile.

Die ersten stärkeren Einflüsse auf mein wissenschaftliches Werden gingen von meinen akademischen Lehrern Adolf Kneser und Erhard Schmidt aus. Adolf Kneser, mein Vater, hat meine Hinwendung zur Mathematik vor sich gehen lassen, aber nicht anregend gefördert, und zwar, wie ich vermute, aus einem wohlerwogenen Grundsatz heraus. Im Studium gab er mir die Grundlagen; in der allgemeinen Haltung zur Wissenschaft und zu akademischen Angelegenheiten hat sein lebendiges Vorbild und die Erinnerung daran bestimmend auf mich eingewirkt. In Erhard Schmidts Vorlesungen bekam ich den ersten Eindruck von der Eleganz und der Tragweite der modernen begrifflichen Methoden in der Mathematik

Auf die Frage, wem unter meinen Lehrern ich meine weitere Formung zu verdanken habe, wäre die Antwort zu vielfältig für die heutige Gelegenheit. In Göttingen, wo ich die zweite Häfte meiner Studienzeit zubrachte, herrschte in den Jahren nach dem ersten Weltkrieg ein mathematisches Leben von einer Fülle, wie sie damals nur an ganz wenigen Orten zu finden war. Das war eine Gefahr für einen werdenden Mathematiker, in dem sich der verwegene Wunsch entwickelte, über alle Teile seiner Wissenschaft und ihr System Übersicht und Urteil zu gewinnen, in jedes Teilgebiet forschend selbst eingreifen zu können. Diese jugendliche Einstellung hielt mich davon zurück, mich einem der dort tätigen Arbeitskreise, dem um Landau etwa oder um Emmy Noether anzuschließen; zu deutlich bemerkte ich die Einseitigkeit, die ein solcher Anschluß bei manchen meiner Altersgenossen mit sich brachte.

So kann ich mich nicht eines Mannes Schüler nennen; auch bei Hilbert kommt mir dieser Titel nicht zu, obwohl ich, nach Vorarbeiten auf geometrischen Gebieten, die Anregung zu meiner Doktorarbeit von ihm erhielt. In Hilbert bereitete sich damals seine letzte große Leistung vor: die Beweistheorie; sie war zur Heranziehung von jungen Mitarbeitern noch nicht genügend entwickelt. Aber aus seinem immer regen Interesse an den Prinzipien der Physik heraus forderte er mich auf, zu sehen was eine gewisse briefliche Mitteilung von Carathéodory über periodische Felder in der Variationsrechnung für die Quantentheorie zu bedeuten habe. Meine Arbeit, auf die Hilbert keinen Einfluß nahm, stellte in ihrer schließlichen Gestalt die überraschend engen Grenzen fest, in denen die mathematischen Formulierungen der damaligen Quantentheorie überhaupt nur anwendbar waren; sie bestärkte von der mathematischen Seite her das bei Physikern schon bestehende Verlangen nach neuen Formulierungen, die denn auch nach wenigen Jahren von den Erneuerern der Quantentheorie aufgestellt wurden.

Die Wahl meiner weiteren Arbeitsgebiete stand unter dem Einfluß des Strebens nach allseitiger Pflege der Mathematik. Den Vorrang erhielten, nebst kleineren Beiträgen zu verschiedenen Gebieten, die Topologie und die Theorie der analytischen Funktionen mehrerer Veränderlicher. Beide faßte ich früh ins Auge; beide schienen mir hinter hoch ausgebildeten Nachbargebieten in der Entwicklung zurückzustehen und lebhafte Fortschritte in naher Zukunft in Aussicht zu stellen, eine Erwartung, die sich bestätigt hat. An der Topologie fesselte mich dazu die Spannung zwischen der schwer greifbaren gestaltllichen Gegebenheit und der erstrebten quantitativen Kennzeichnung. Von meinen Leistungen auf diesem Gebiet erwähne ich eine. Als es mir gelang, die regulären Kurvenscharen auf geschlossenen Flächen vollständig anzugeben, ergab sich gewissermaßen von selbst die Existenz einer geschlossenen Kurve in jeder Schar auf dem Kleinschen Schlauch. Die Methode ist seitdem nicht wieder angewandt worden, doch kann man, so meine ich, noch weitere Erfolge von ihr erwarten.

Unter meinen funktionentheoretischen Arbeiten möchte ich die Theorie der ganzen und meromorphen Funktionen mehrerer Veränderlicher herausheben. Nach den grundlegenden Leistungen von Poincaré, Cousin, Hahn und Gronwall hatten S. Bergmann, H. Cartan und andere gezeigt, daß man Teile der bei einer Veränderlichen hoch ausgebildeten Theorie auf mehrere Veränderliche übertragen kann. Die Ergebnisse befriedigten unter anderem deshalb noch nicht, weil sie keinen expliziten Ausdruck einer ganzen Funktion durch ihre Nullstellen lieferten, so wie es bei einer Veränderlichen die durch Hadamard vervollständigte Produktformel von Weierstraß tat. Meine Idee war einfach, ja naiv: bei Weierstraß wird der Logarithmus der Funktion ausgedrückt durch eine Summe über die isolierten Nullstellen der Funktion; bei mehreren Veränderlichen muß ein geeignetes Integral über die stetig ausgedehnte Nullstellenmannigfaltigkeit dasselbe leisten. Mein hartnäckiges Suchen nach einem solchen Integral führte zum Ziel, nachdem ich das Hilfsmittel einer Kähler-Metrik herangezogen hatte. Der gehörige Ausbau der dabei ausgebildeten Methoden ergab ferner die erste Stufe im Aufbau einer Theorie, die als die natürliche Übertragung von Rolf Nevanlinnas Theorie der meromorphen Funktionen auf das Gebiet mehrerer Veränderlicher angesprochen werden darf. Mein Schüler W. Stoll baute die Theorie aus und erweiterte ihren Gültigkeitsbereich in hohem Maße.

Nach dem zweiten Weltkrieg widmete ich einen Teil meiner Arbeitskraft der Theorie der Spiele. Es waren nur in zweiter Linie die mathematischen Reize der Theorie, die mich dazu antrieben. Stärker wirkte die Überzeugung, daß dieser neue Zweig der Mathematik der Wirtschaftswissenschaft, ja sogar der Soziologie wesentliches zu sagen habe. In Deutschland wurde er damals noch nicht gepflegt; mir schien es nötig, daß auch die deutsche Forschung auf diesem Gebiet den Anschluß gewönne. Durch werbende Vorträge und ein paar Veröffentlichungen habe ich diesen Anschluß fördern können.


Redaktion:   Gabriele Dörflinger

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