Mecenseffy, Grete:
Evangelische Lehrer an der Universität Wien. - Graz [u.a.] :
Böhlau, 1967. - 274 S. : Ill.
Signatur der UB Heidelberg: 68 B 230
Dieser, als Sohn eines evangelischen Pfarrers im Jahre 1826 in Aken an der mittleren Elbe geboren, hatte zunächst in Halle Theologie studiert und war dann in Berlin zur Geschichte übergegangen. Infolge seiner demokratischen Betätigung während der Revolution 1848/49 mußte er Berlin verlassen. Mit einer Dissertation „Geschichte des Genter Aufstandes von 1378 - 1385“ wurde er am 16. August 1850 zum Dr. phil. in Halle promoviert. Dann verließ er, der als politisch unerwünscht in der Heimat kein Fortkommen finden konnte, Deutschland und suchte in Belgien seine burgundischen Studien weiterzutreiben, ging aber bald nach Paris, wo ihn die Ecole des Chartes besonders anzog. Hier wurde die historische Hilfswissenschaft der Paläographie und Diplomatik getrieben, die Sickel später in seine zweite Heimat Wien verpflanzen sollte, um ihr an der durch seine Tätigkeit berühmt gewordenen Stätte, dem Institut für österreichische Geschichtsforschung, dauerndes Heimatrecht zu schaffen.
Da sein Besuch in Deutschland im Jahre 1852 nicht zu der von ihm erstrebten Habilitation führte, kehrte er 1853 nach Paris zurück, wo der damalige Unterrichtsminister Fortoul die ungewöhnliche Begabung des jungen Mannes erkannte und ihn für die französische Wissenschaft zu gewinnen trachtete. Sickel arbeitete in den Archiven Südfrankreichs, der Schweiz und in Oberitalien. Hier hat er zum erstenmal österreichischen Boden betreten, ohne daß die Polizei ihm Hindernisse in den Weg gelegt hätte. Im September des Jahres 1855 war er zum erstenmal in Wien. Scharfsinnig witterte er einmalige Gelegenheiten zur Ausweitung seiner neu gewonnenen Arbeitsmethoden, aber das Haus-, Hof- und Staatsarchiv blieb ihm verschlossen, solange er in Berlin politisch nicht rehabilitiert war. Das setzte er noch im Jahre 1855 durch, kehrte nach Wien zurück, und nun begann eine Gelehrtenlaufbahn, wie man sie sich glänzender nicht hätte vorstellen können.
Um das Institut war es kläglich genug bestellt. Ein einziger Dozent war da, der aus Innsbruck von Thun nach Wien berufene Benediktiner Albert Jäger, der allgemeine Welt- und österreichische Staatengeschichte las, von Paläographie aber nicht viel verstand, wie er selbst zugab. Da kam Sickel. Mit einem der sechs Hörer des Institutes, Ottokar Lorenz, verband ihn bald innige Freundschaft. Dieser hatte von Sickel, der die Tafeln von Mabillons De re diplomatica mühelos lesen konnte, einen starken Eindruck empfangen, so daß Ottokar Lorenz sich nichts sehnlicher wünschte, als Sickel zum. Lehrer zu gewinnen. Dieser begann ein Privatkolleg am Institut zu lesen, dem auch Jäger beiwohnte. Er war es, der Thun die Anstellung Sickels empfahl. Am 19. September 1856 wurde er trotz seines evangelischen Glaubensbekenntnisses vom Kaiser zum Dozenten für Historische Hilfswissenschaften ernannt. Damit war er aber der Universität nicht eingegliedert, denn seine Vorlesungen fanden nicht im Rahmen der Hochschule statt. Vor Arneths Amtsantritt als Direktor des Staatsarchivs konnte Sickel keine Akten für die Herstellung seiner Monumenta graphica entlehnt erhalten. Den Sommer 1857 über wurde verhandelt, wie sein Verhältnis zur Universität zu regeln sei. Da Sickel, starr und unverbindlich, wie er oft sein konnte, von seinem Verlangen, zum außerordentlichen Professor ernannt zu werden, nicht abging, setzt Thun am 9. Oktober 1857 seine Ernennung durch. Vorlesungen über Geschichte aber durfte er nicht halten, wenn er sich auch außerhalb der Universität als erster Protestant in Wien an Geschichtsvorträgen im Landhaus beteiligte. Im Tullnerhofe in Oberdöbling, dem Hause Rudolf Arthabers, sprach er vor einer großen evangelischen Gesellschaft über Reformation und Gegenreformation. Indessen kränkte es seinen Ehrgeiz schwer, daß es ihm verwehrt war, Vorlesungen über allgemeine Geschichte zu halten. Eine Ankündigung, im Sommersemester 1861 ein Kolleg über Geschichte des 15. Jahrhunderts zu halten, wurde vom Ministerium gestrichen, weil es mit seinem Lehrauftrag nicht übereinstimmte. In der Presse erhob sich eine lebhafte Campagne über die Frage, ob ein Protestant geschichtliche Vorträge an der Wiener Universität halten dürfe oder nicht. Für Sickel erhob sich die Frage, ob er unter diesen Umständen in Wien bleiben solle. 1867 erhielt er eine Berufung nach Tübingen. Nun war der Augenblick gekommen, seine Ansprüche durchzusetzen. „Ich ging zu Beust, der das Unterrichtsministerium verwaltete“ (und als Sachse selbst evangelisch war). Gleich zu Anfang sagte der Minister: „Nun ist mir Bonitz weggegangen, ich kann Sie als zweiten Professor nicht auch scheiden sehen.“ Der Minister setzte beim Kaiser das Ordinariat für Sickel durch, mit dem Recht, auch historische Vorlesungen zu halten. Am 9. Mai 1867 erfolgte die Ernennung, mit der Sickels Laufbahn steil nach oben führte: 1869 übernahm er die Leitung des Institutes, 1870 wurde er wirkliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften, 1872 Dekan der philosophischen Fakultät, der zweite evangelische Dekan an der Wiener Universität nach Brücke.
Im Dezember 1872 erhielt Sickel einen Ruf als Ordinarius für Geschichte und Hilfswissenschaften nach Berlin. Man brauchte ihn dort für die Herausgabe der Monumenta Germaniae historica. Durch die Veröffentlichung der Acta regum et imperatorum Karolinorum digesta et enarrata (Die Urkunden der Karolinger gesammelt und herausgegeben) hatte er sich für diese Aufgabe bestens empfohlen. Die Arbeit lockte, aber sie konnte auch von Wien aus durchgeführt werden, falls die österreichische Regierung sich wieder an der Herausgabe des Quellenwerkes beteiligen würde, von der sie sich nach 1866 zurückgezogen hatte. Diese Beteiligung machte Sickel zur Bedingung seines Verbleibens in Wien. Carl von Stremayr, der damalige Unterrichtsminister, ging darauf ein, und so konnte Sickel Wien und dem Institut erhalten bleiben. Seiner Bedeutung, ja seiner Unentbehrlichkeit war er sich wohl bewußt. Die leidenschaftliche Hingabe an die Arbeit sicherte deren Erfolg; es winkte ein großes neues Betätigungsfeld, das Vatikanische Archiv in Rom.
Sein erster Versuch im Jahre 1876, Zutritt zu dessen Schätzen zu bekommen, mißlang. Aber als Leo XIII. zwei Jahre darauf am 20. Februar 1878 zum Papst gewählt wurde und die Öffnung des Archivs beschloß, „jubelte Sickel“. Josef Hergenröther, Kardinal und Archivpräfekt, war sein Schulkamerad. Er öffnete dem Forscher, der die Echtheit des Privilegiums Ottos I. für die römische Kurie vom Jahre 962 beweisen sollte, die bisher verschlossenen Türen. Für Sickel begann eine neue Periode intensivster Arbeit, die zu den schönsten Erfolgen führte. 1881 wurde das österreichische Institut in Rom gegründet, das er zugleich mit dem Wiener leitete. Äußere Ehren begleiteten den wissenschaftlichen Erfolg. Anläßlich der Vermählung des Kronprinzen wurde ihm 1881 der Leopoldsorden verliehen. 1889 wurde er Mitglied des Herrenhauses. 1891 trat er als Professor der Universität in den Ruhestand, Zeißberg wurde Vorstand des Institutes in Wien. Sickel übersiedelte nach Rom, wo er seine Schöpfung betreute, aus der bedeutende wissenschaftliche Arbeiten hervorgingen. 1901 zog er sich auch von dieser Tätigkeit zurück und lebte fortan in Meran.
Der Freundeskreis, dem er in Wien angehört hatte, umfaßte die geistige Elite der Stadt; in erster Linie waren es Hermann Bonitz, der Buchhändler Moritz Gerold und dessen Frau Rosa, in deren Salon sich das geistige Wien versammelte. Er erlebte auch die Ankunft des Geschichtsprofessors Max Büdinger in Wien, für dessen Berufung er sich tatkräftigst eingesetzt hatte. Er verkehrte auch im Hause des Wiener Armeekommandanten, des Feldzeugmeisters Graf Franz Wimpffen, der reformiert war. In zweiter Ehe war er mit Anna, der Tochter Gottfried Sempers, verheiratet.
Sickel fühlte sich alle Zeit als Protestant. Er hat dies auch dem Papst gegenüber betont, als er ihm 1883 seine Publikation über das Privileg Ottos I. überreichte. „Quoique Protestant“ habe er diese Arbeit gemacht, sagte er Leo XIII., der über diese Einstellung des protestantischen Forschers zur unbedingten wissenschaftlichen Wahrhaftigkeit nicht wenig erstaunt war. Seine protestantische Überzeugung hat Sickel durch die Mitarbeit in der evangelischen Gemeinde lutherischen Bekenntnisses in der Dorotheergasse kundgetan. Darüber besitzen wir die reizvolle Schilderung von J. K. Mayr im 67. Jahrbuch der Gesellschaft für die Geschichte des Protestantismus in Österreich. In die ersten Jahre seines Wiener Aufenthaltes fiel die Neuordnung des Verhältnisses der evangelischen Kirche zum Staat. Vom Ministerium des Grafen Thun vorbereitet, der in den Wirren der Nachkriegszeit 1859 und der Umwandlung Österreichs in einen konstitutionellen Staat 1860 anderen Ratgebern hatte weichen müssen, war unter der Ministerschaft Anton Ritter von Schmerlings am 8. April 1861 von Kaiser Franz Joseph das Protestantenpatent unterzeichnet worden, das von der Toleranz, wenn auch nicht zu praktischer, so doch zu theoretischer Gleichheit der evangelischen Bewohner des Kaiserstaates mit den katholischen führte. Auf Grund der unmittelbar darauf erlassenen ersten provisorischen Kirchenverfassung wurden in den evangelischen Gemeinden Gemeindevertretungen und Presbyterien gewählt. Diesen Körperschaften, die in der Gemeinde A. B. Wien-Innere Stadt im Sommer 1861 zustande kamen, gehörte neben Rudolf von Arthaber, Ernst von Brücke, Theodor von Hornbostel auch Sickel an. Bis 1869 ist er Gemeindevertreter, bis 1872 ist er mit Unterbrechungen Presbyter geblieben. Wie es seiner Wesensart entsprach, ist er nicht tatenlos in diesen Gremien gesessen, sondern hat darin manchmal den Vorsitz geführt, hat auch an der Gestaltung des Festkalenders, aus dem die nur in der katholischen Kirche sinnvollen Festtage weichen mußten, teilgenommen; ebenso war er an der Wahl des Nachfolgers des Pfarrers Ernst Pauer, Gustav Porubßky, an den Angelegenheiten der Gottesdienstordnung, der Schule, des Friedhofs, der Bauten und Finanzen lebhaft beteiligt. Dem Schulvorstand gehörte er bis 1872 an. 1876 kümmerte er sich um die Besetzung der Direktorstelle, deren Ausschreibung er in den Zeitungen mehrerer deutscher Länder veranlaßte. Die Folge davon war die Besetzung der Stelle mit einem Realschullehrer aus Sachsen- Weimar. 1871 verfaßte er die Jubiläumsadresse an die evangelisch- theologische Fakultät anläßlich ihres fünfzigjährigen Bestandes. Sickel ist mit Lorenz von Stein Mitglied der Senioratsversamrnlung gewesen und nahm 1867 an der Versammlung der Superintendenz in Graz teil. In dem Konflikt der Kirche mit der Regierung wegen staatlicher Übergriffe in Sachen der Kirchenverfassung hat er mit großer Sachkenntnis eingegriffen. Es überraschen nicht nur seine historischen, sondern auch seine theologischen Kenntnisse. Deshalb ist er immer wieder zur Mitarbeit gebeten worden, wenn auch sein schroffes, herrisches Wesen oft verletzend war und zu Zusammenstößen führte. Es ist dennoch zu bedauern, daß ihn die Ausweitung seiner akademischen Verpflichtungen zwang, die Tätigkeit für die Kirche einzustellen.
Werke:
Quellen:
Literatur:
Monumenta graphica medii aevi ex archivis et bibliothecis imperii Austrlaci collecta,
Wien 1859 - 1869. - Acta Regum et Imperatorum Carolinorum digesta et enarrata. (Die
Urkunden der Karolinger, gesammelt und bearbeitet.) 2 Teile, Wien 1867. - Das
Privilegium Ottos I. für die römische Kirche vom Jahre 962, Innsbruck 1883. - Zur
Geschichte des Konzils von Trient (1559 - 1563). Aktenstücke aus österr. Archiven, Wien
1872. - Monumenta Germaniae Historica. Diplomatum Regum et Imperatorum
Germaniae Tomus I, Conradi I. Heinrici I. et Ottonis I. Diplomata, Hannover 1879 - 1882.
- Beiträge zur Diplomatik, 8 Teile, Wien 1861 - 1882. - Römische Erinnerungen hg. v. L.
Santifaller. Veröffentlichungen d. IÖG 3, 1947.
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Die Anfänge Th. Sickels. MIÖG 62, 1954. - O. Redlich, Th. S. Werdezeit und
Persönlichkeit. MIÖG 42, 1927. - H. Steinacker, Th. v. S. Volk und Geschichte,
Ausgewählte Reden und Aufsätze, Brünn-München-Wien 1943. Alm. Ak. d. W. 58, 1908.
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