Studien zur Geschichte der Mathematik ... / Erwin Christmann

Vorwort.

S. 2-4 aus:
Christmann, Erwin: Studien zur Geschichte der Mathematik und des mathematischen Unterrichts in Heidelberg : von der Gründung der Universität bis zur combinatorischen Schule. - 1924. - 164 S.
Univ. Heidelberg, Diss., 1924
Signatur Univ.-Bibl. Heidelberg: W 3461

Abschrift: Gabriele Dörflinger


Vorwort

(Seite 2) Das Zustandekommen einer wissenschaftlichen Tat ist bedingt durch das dem Menschen innewohnenden Streben nach dem Erfassen alles Erfassbaren. Hindernisse werden durch Menschengeist und Kraft überwunden. Wenn wir auf hoher Warte stehen und für einen objektiven Ueberblick über die Ergebnisse der Arbeit vieler Generationen eine gewisse Distanz gewonnen haben, so sehen wir in grösseren oder kleineren Zwischenräumen die Marksteine der fortschreitenden menschlichen Erkenntnis, ohne dass man ein bestimmtes Entwicklungsgesetz nachweisen könnte, das gerade diese oder jene Grösse des Intervalles rechtfertigen liesse. Verständlicher wird uns die Entwicklung, wenn wir auf die Intervalle selbst eingehen, auf ihre Eigenheiten, die Untergrund und das Milieu für epochemachende Fortschritte erst schufen. Es ist eine andauernde geistige Regsamkeit und eine einzige Kleinarbeit, die fortwährend das geistige Streben nähren und ohne deren Existenz und Pflege neuere Erkenntnisse undenkbar sind.

Die hohe Warte, von der aus die einzelnen Leistungen der Wissenschaften, ihre Grundlagen und die beiderseitigen Wechselbeziehungen betrachtet werden, ist die historische Forschung. Sie ist bei der politischen und allgemeinen Kulturgeschichte nicht stehen geblieben, sodass man heute für jede Wissenschaft Männer anführen kann, die ihren früheren Zustand und ihren Werdegang zu schildern und zu begründen suchten.

(Seite 3) Die mathematische Geschichtsforschung ehrt ihre Vorkämpfer Ramus, Vossius, Montucle, Heilbronner, Kästner und M. Cantor nennt die berühmt gewordenen Namen Curtze, Günther, Tannery, Zeuthen und stützt sich neuerdings auf eine grosse Zahl tatkräftiger Mitarbeiter und bedeutender Zeitschriften. Die Fülle des Materials, das die Entwickelung der Mathematik von den ersten Anfängen menschlicher Kultur bis in unsere Zeit bietet, regte nicht nur an, einzelnen mathematischen Disciplinen bestimmten Erkenntnissen und grösseren Mathematikern Aufmerksamkeit zu schenken, sondern man ging auch dann dazu über, die Grundlagen und Ursachen der Fortschritte dieser Wissenschaft zu suchen und allgemeinere Zusammenhänge zu klären. So erwachte das Interesse für die historische Behandlung des mathematischen Unterrichtswesens, die wiederum Abspaltungen und ihre gesonderten Darstellungen zuliess. Es entstanden eine Geschichte der Mathematik an der Universität Prag, Studien zur Geschichte der Mathematik in Göttingen, Arbeiten die sich auf den örtlichen Unterricht und die örtliche Pflege der Mathematik beziehen und von Uebereinstimmungen und Abweichungen von der allgemeinen Entwicklung sprechen sollen.

Gleichen Zweck verfolgen die vorliegenden Studien zur Geschichte der Mathematik und des mathematischen Unterrichts in Heidelberg. Als untere Grenze wurde natürlicher Weise die Gründung der Universität gewählt, mit der das Anheben der Wissenschaftspflege in Heidelberg identisch genannt werden kann, nach oben soll die Arbeit beschlossen werden mit dem ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts und einem Hinweis auf die nun einsetzende (Seite 4) combinatorische Schule des Heidelberger Professoren Ferdinand Schweins, dem zugleich mit seinem Nachfolger Hesse M. Cantor in seiner Abhandlung "Ferdinand Schweins und Otto Hesse" für die Festschrift der Universität zur Zentenarfeier ihrer Erneuerung durch Karl Friedrich, Grossherzog von Baden, ein Denkmal gesetzt hat.

Bei der Gliederung des Stoffes wurde der am besten gangbare und der Uebersicht dienlichste Weg beschritten, die Entwicklungsphasen nach den auf die Mathematik einflussreichen Zeitströmungen, Tendenzen und inneren Zuständen der Hochschule zu unterscheiden. Scholastizismus, Humanismus, das Zeitalter der Reformationen, Rationalismus, Aufklärung und die Lehrtätigkeit der Jesuiten und Lazaristen, das Aufblühen der Universität im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts sind die wesentlichsten Erscheinungen geworden, von denen die unterschiedliche Beachtung und Einschätzung der Mathematik und des mathematischen Unterrichtes abhängig war.

Die Darstellung soll nicht auf eine vollständige, bis in jedes Einzelne gehende Erschöpfung des Themas Anspruch erheben, das würde den Rahmen der vorgenommenen Arbeit sprengen, um so mehr als sie sich über vier Jahrhunderte erstreckt. Sie soll uns durch diese lange Zeit hindurch führen, zur Orientierung dienen, einen Untergrund schaffen, der wieder zu besonderen Studien anweisen könnte, und im übrigen auseinandersetzen, wie und was gelehrt wurde, wer die Vertreter der mathematischen Wissenschaft waren.


Letzte Änderung: Januar 2024   Gabriele Dörflinger Kontakt

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