Studien zur Geschichte der Mathematik ... / Erwin Christmann |
Abschrift: Gabriele Dörflinger
Diese Gedankengänge lassen sich für eine allgemeinere Beurteilung der Mathematik zur scholastischen Zeit der Heidelberger Universität verfolgen. Durch eigene neue Leistungen hat sie zur Weiterentwicklungnichts beigetragen(48). Die vom Unterrichte benutzten Lehrbücher brachten keine besonderen Neuheiten, die nicht schon früher in der mathematischen Welt Eingang gefunden hatten. Aber darin machen auch andere Universitäten keine grosse Ausnahme und der langsame Fortschritt der Mathematik an und für sich lässt die Hochschule nicht so leicht Gefahr laufen die Fühlung mit ihm zu verlieren. Die überlieferte Menge spätantiker arabischer mathematischer Wissenschaft, die Lehrbücher, die grösstenteils aus ihr ihren Inhalt schöpften, bildeten offenbar einen Komplex, den man weder voll erfassen konnte noch zu korrigieren sich getraute.
(Seite 34) Kleine Anfänge und die ersten Zeichen einer selbständigeren Entwicklung der Mathematik an den Hochschulen waren die Wiener Schule und die Bestrebungen der Nominalisten und Ockhamisten, den realen Wissenschaften zu grösserer Entfaltung zu verhelfen, gewesen. Unwillkürlich ergibt sich daraus die Notwendigkeit, mathematische Erkenntnisse als Hilfsmittel heranzuziehen. Aber ihr empirisches Moment war zu schwach, zerrieb sich am Festhalten von Autoren, an einer folgerechten Unproduktivität des bevorzugten logischen Forschens, das z.B. physikalischen Begriffen meist mit Hilfe aristotelischer Weisheiten beizukommen versuchte, anstatt ausschliesslich die Exaktheit der Mathematik zu verwenden(49), um auf diese Weise wiederum dieser Wissenschaft neue Impulse zu geben. Erst das Erkennen der begrenzten Leistungsfähigkeit der nur nachdenkenden scholastischen Wissenschaften konnte eine Aenderung der Methode herbeiführen, die später im 16. und den folgenden Jahrhunderten eine so rasche Entwicklung der mathematischen Wissenschaften einleiteten.
All dem gegenüber ist aber die Bedeutung des mathematischen Unterrichts für die Zeitepoche selbst um so grösser geworden. Von Mathematikern, die in der Geschichte ihrer Wissenschaft einen ansehnlichen Namen besitzen, ist Nicolaus Cusanus aus dem Heidelberger Studium hervorgegangen und hat vielleicht hier schon die ersten Anregungen während seines seit 1416 datierenden Aufenthaltes empfangen(50. Fraglich ist, ob der im Jahre 1400 in Heidelberger immatrikulierte Johannes von Gmünd mit dem Wiener Magister, späteren Theologieprofessoren und bedeutenden Mathematiker Johannes von Gmunden identisch ist. Die Wahrscheinlichkeit, dass dieser in Heidelberg studiert hat, kann sich ergeben aus seinen ungewissen Lebensumständen, der (Seite 35) Tatsache, dass man als sein Geburtsjahr 1380 annimmt, dass manche Biographen Schwäbisch-Gmünd als den Ort seiner Geburt bezeichnen, dass er in Beziehung zu bringen ist mit einem 1404 in Ulm studierenden Joh. Wissbier, der von Ulm nach Wien übersiedelte, wo er 1406 das Magisterium bekleidete. Diese Combination, dieser Werdegang mag zutreffend sein und eine aus der langen Zeit des Studiums, 1400 – 1406, und seiner schon 1380 erfolgten Geburt resultierenden Schwierigkeit kann behoben werden durch den Umstand, dass damals die Studien zeitlich oft sehr lang ausgedehnt waren, dass besondere Unterbrechungen eingetreten sein könnten und dass nicht einmal das Geburtsjahr genau festliegt(51).
Dem Möglichen und nicht Unbedingten folge das Tatsächliche, das Unanfechtbare. Die Universitätsgründung hat die Wissenschaften in den heutigen Deutschen Landen heimisch gemacht, den kümmerlichen wissenschaftlichen Zuständen ein Ende bereitet, mit den Grund gelegt zu einer nationalen deutschen Gelehrtenwelt und der Mathematik die erste Möglichkeit gegeben gelehrt und erlernt zu werden. Das peinliche Festhalten an antiker Tradition und an antikem Stoffe war nicht unnütz. Man musste sich vorerst mit der ganzen Masse überkommender Mathematik befreunden, sie in sich aufzunehmen suchen. Manches mag fremd, unnahbar erschienen sein und bedurfte das schematischste Verfahren, um nicht aus dem Ganzen ausgestossen zu werden. Das notwendige Hochhalten der Autoren, die grosse Achtung vor ihrem Wissen liess allmählich den Wunsch aufkommen, ihre Wahrheiten auch im Urtext zu studieren, regte einen Forschungsdrang an, der noch manchen halbvergessenen Autoren wieder ans Tageslicht zog. Tendenzen wurden genährt, die besonders dem 16. Jahrhundert eigentümlich sind.
Was an Autorenwissen, an Mathematik der Hochschulunterricht (Seite 36) brachte, war für einen grösseren Kreis bestimmt, war Pflichtfach dem Studierenden, für jeden Magister ein Teil seiner Lehrtätigkeit, dem er mindestens in den ersten Jahren seiner Würde gerecht werden und mit dem er immer wieder rechnen musste. Die Angehörigen der oberen Fakultäten hatten sich mit dem gleichen Mass mathematischer Kenntnisse befasst, als sie noch der Artistenfakultät angehörten. Ein gewisses mathematisches Wissen war zum geistigen Eigentum eines wichtigen Volksbestandteiles geworden. Die von der Hochschule abgehenden Studenten, Magister und Geistliche trugen die Samen ihrer Kenntnisse in alle Ecken und Flecken, zu den geistig interessierten und uninteressierten, jenen gaben sie neue Anregungen und Ratschläge, diesen brachten sie die erste primitive Fühlung mit einer ihnen nicht alltäglichen Welt.
Von diesen Gesichtspunkten aus erkennt man den grossen Wert des mittelalterlichen mathematischen Hochschulstudiums und seine nicht zu unterschätzende kulturhistorische Aufgabe, die ihm gestellt war und von ihm erfüllt wurde. Eine gleichmässige Durchdringung breiter Volksschichten mit mathematischer Bildung und die Heranbildung eines gelehrten Körpers mit einem starken polyhistorischen Einschlage waren die Ergebnisse dieses Zeitabschnittes, aber auch die notwendigen Grundlagen einer auf eine weite Basis gestellten Entwicklung der Mathematik als Wissenschaft und als Unterrichtsfach. Es galt nur noch die Kompaktheit der mittelalterlichen Systeme zu sprengen, um der Mathematik eine freiere, selbständigere Pflege zu verschaffen, um ihre Emanzipation durchzusetzen, eine Aufgabe, die dem 16. Jahrhundert zufiel.
Letzte Änderung: Februar 2024 Gabriele Dörflinger Kontakt
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