Studien zur Geschichte der Mathematik ... / Erwin Christmann |
Abschrift: Gabriele Dörflinger
Da die Vorlesungen nach einem Lehrbuch benannt und der Unterricht im engsten Anschluss daran durchgeführt wurde, läuft eine Besprechung des mittelalterlichen mathematischen Unterrichtsstoffes hinaus auf eine Aufzählung und Erläuterung im Gebrauch gewesener mathematischer Bücher. Die scholastische Unterichtsmethode hatte zwar die akroamatische Lehrweise, aber der freie — im System freie — Vortrag war unbekannt. Die Studierenden hatten nach Möglichkeit eine Textausgabe des vom Dozenten zu interpretierenden Autors mit in die Vorlesung zu bringen, in der dieser, das Verbot des Diktierens respektierend, nur wenig unter Einfügung der notwendigen Erklärungen, deren wesentlichste Bestandteile als Randglossen von den Studierenden dem Texte einverleibt wurden, von der Vorlage abwich. Auf der einen Seite war es die grosse Achtung und Ehrfurcht vor den Autoren, die zu dieser Haltung Anlass gab, andererseits waren aber auch diese Lehrer der freien Künste kaum imstande anders zu handeln, da die notwendige Beschäftigung mit der grossen Zahl von Teilgebieten speziellere Studien und das nur durch diese erreichbare Hinausgehen über den Text selten ermöglichte.
Die im Kostenverzeichnisse enthaltenen Bücher oder die nach ihnen benannten Vorlesungen und die für das Belegen zu entrichtende Geldbeträge lauten: de perspectiva due grossi, de quatuor libris Euclidis tantum et consequenter de tractatu sphere materialis unus grossus cum medio, de algorismo unus grossus, de computu cyrometricali tantum, de theoriae planetarum unus grossus cum medio, und als Zusatz finden wir item de bona fortuna unus grossus, de proporcionibus tantum [Korrigiert nach Winkelmann](13).
(Seite 25) Der Algorismus lehrte die indisch-arabische Rechenkunst, die Positionsarithmetik. Er enthielt nur die gewöhnlichen Rechenoperationen, war nüchtern und kurz gefasst, musste oft gänzlich der Beweise entbehren und auch an Zahlenbeispielen war er nicht reich. Dafür war er aber ausgezeichnet geeignet, mit dem Karakter eines Leitfadens des Unterrichts die Notwendigkeit einer breiteren Erklärung des Lehrers zu verbinden.
Der computus cyrometricalis unterwies im Rechnen mit den sechziger Zahlen und diente vor allem astronomischen Beobachtungen. Der an dieser Stelle nicht figurierende computus ecclesiasticus, eine Anleitung zur Bestimmung kirchlicher Feste wird sicherlich in Heidelberg auch gelesen worden sein, als cursorische Lektion an Ferientagen, die für solche untergeordnete Vorlesungen frei gehalten wurden.
Eine weit grössere Bedeutung für die Einführung in das mathematische und astronomische Studium errang sich die sphaera materialis oder auch die sphaera mundi, die Vorlesung über die Weltkugel. Sie ist das karakteristischste Beispiel eines mittelalterlichen Hochschulbuches geworden. Sie kehrt immer und immer an sämtlichen Universitäten wieder und bewahrte ihren Glanz bis tief in das 16. Jahrhundert hinein. Johannes Sacrobosca (nicht lat. Joh. de. Holywood) nannte sich sein Verfasser, den Inhalt seines Werkes hatte er aus dem Almagest des Ptolomaeus und einigen arabischen Astronomen gezogen, nach Cantors Urteil "ein ganz unselbständiges Werk"(24), das ihm jedoch nichtsdestoweniger die Unsterblichkeit seines Namens sicher stellte. Der traité de la sphère des berühmten Lehrbuchschreibers Nicolaus Oresme (um die Mitte des 14. Jahrhunderts (Seite 26) in Paris) war in Heidelberg sicherlich nie herangezogen worden, gegen ihn sprechen nicht nur die französische Sprache, sondern auch die weniger ausgeprägte Popularität seines Werkes. Auch Marsilius von Inghen hatte sich offenbar eingehender mit der sphaera materialis befasst. Unter den Büchern, die er nach seinem Tode (1396) der Universität zur Fortbildung der Universitätsangehörigen vermachte, befand sich ein tractatus de sp[h]era, quam scripsit propriamanu, d. h. den er mit eigener Hand niedergeschrieben hatte(25). Ob Marsilius eigene Wege der Bearbeitung gegangen ist, oder ob es sich nur um eine Abschrift der sphaera des Sacrobosco oder einer Uebertragung der des Oresme, von dem er in seinem Bildungsgange zahlreiche Anregungen empfangen hat, handelte, können wir heute nicht mehr sagen. Es wäre noch hinzuzufügen, dass die eingangs genannten Vorlesungen sich mit ziemlicher Gewissheit ebenfalls auf Abhandlungen des Sacrobosco stützten.
Die Arithmetik ist weder in dem Vorlesungsverzeichnis, wie es durch die Kostenangabe dargestellt wird, noch in den Prüfungsbestimmungen zu finden. Was der Algorismus von ihr brachte, konnte nur das Notdürftigste sein und als Ersatz jedenfalls nicht bezeichnet werden. Ab und zu wurde sie von jüngeren Magistern offenbar doch gelehrt(26). Da die Stelle auf die wir uns beziehen durften, keine näheren Angaben macht, möge erwähnt werden, dass an anderen Universitäten nachweisbar die Arithmetik des Boethius und das mit ihr naheverwandte Kompendium des Joh. de Muris herangezogen wurde.
Geometrie trieb man im Anschluss an eine der zahlreichen Euklidausgaben und Euklidkommentare, studierte besonders das erste und vier ersten Bücher (vergl. Kostenverzeichnis(27).)
(Seite 27) Die Grundbegriffe und Lehren der geometrischen Optik bot die Vorlesung de perspectiva, für die die perspectiva communis des Peckham tonangebend war. Die Perspektive des Vitello zeichnete sich ihr gegenüber durch eine selbständige Bearbeitung des Stoffes aus, stellte grössere Anforderungen an die Studierenden und wurde eigentlich nur in Oxford traktiert(28), ein günstiges Zeichen für die Bewertung mathematischer Disciplinen an dieser englischen Universität.
Die proportiones und die latitudines formarum sind in Bezug auf ihre in Heidelberg benutzten Autoren nicht näher bestimmbar. Man weiss nur, dass für die ersteren, die Operationen mit Verhältnissen und auch unsere heutigen Proportionen behandelten, der liber proportionum des Albert von Sachsen (gedruckt Venedig 1480, 1494 und Padua 1482), der tractatus proportionum des Nicolaus Oresme (gedr. Venedig 1505) in Frage kommen, während der tractatus de proportionibus des Thomas Bredwerdin (gedr. Paris 1495 und Venedig 1505) eine grössere Wahrscheinlichkeit, gebraucht worden zu sein, in Anspruch nimmt, da er in dem Wiener Vorleseverzeichnis von 1399/1400 aufgeführt wurde.(29).
Aehnlich ist es mit den latitudines formarum, im gewissem Sinne einer Vorläuferin unserer Koordinatengeometrie, die zur Betrachtung physikalischer Vorgänge in gesteigertem Masse herangezogen wurde. Für eine allgemeinere Verwendung und für einen grösseren Lehreinfluss der latitudines formarum des Nicolaus Oresme sprechen die rasche Aufeinanderfolge ihrer Druckausgaben (1482, 1486, 1505, 1515(30).) jedoch ist es nicht ausgeschlossen, dass Albert von Sachsen als Autor oder der Kommentator zu den latitudines formarum des Nicolaus Oresme von Plasius von Parma (gedr. Padua 1482.(31)) (Seite 28) den Vorzug erhielt. Man darf übrigens annehmen, dass die Wahl eines Lehrbuches innerhalb des vorgeschriebenen Lehrstoffes in der Hand des Dozenten lag, da die namentliche Angabe von Autoren für das Heidelberger Studium grösstenteils vermieden wird.
Planetentheorik, eine astronomische Hauptdisciplin, wurde nach den liber de theoria planetarum des Gerhard von Cremona, des fruchtbaren Uebersetzers arabischer Werke, vorgetragen.
Eine Wissenschaft, die gleichfalls in dieser Zeit zum mathematischen Studium gerechnet wurde, war die musica, die bei den Vorlesungen von geringerer Bedeutung in der Ordnung des Collegium sancti dionysii ohne Nennung eines entsprechenden Lehrbuches auftaucht. Bekannt sind uns die in Betracht kommenden Abhandlungen die Musik von Boetius, der Auszug aus dieser von de Muris und die Gwidonie musica, die sich unter den durch die Universität von Konrad von Worms käuflich erworbenen Büchern befand(32).
Die Kette der Vorlesungen kann im allgemeinen durch die musica als abgeschlossen gelten. Im übrigen war man sich in Heidelberg bewusst, dass das Angebot mathematischen Wissens reich und mannigfaltig sein müsse und dass eine zeitgemässe Berücksichtigung und Auswahl des Lehrstoffes mitentscheidend für die Stellung der Heidelberger Universität im Kreise der Hochschulen war, aber auch das Ansehen der die Pflege der Wissenschaften leitenden Geistlichkeit beeinflusse(33). Die Universität sollte das Zentrum geistigen Lebens sein, ausserhalb ihr keine Wissenschaften geben, deshalb auch die Mathematik zu ihrem Rechte kommen. Wie weit man aber diese Tendenz befolgte oder befolgen konnte, ist eine Frage, die durch die Gesamtdarstellung der scholastischen (Seite 29) Periode gelöst werden soll. Bei der langsamen Entwicklung der Mathematik im Mittelalter blieben die Universitäten, ohne grössere Aenderungen einführen zu müssen, im wesentlichen die mathematischen Bildungsanstalten, an denen neben dem Unterricht durch die Gründung von Bibliotheken mit reicher mathematischer Literatur für Aneignung mathematischer Erkenntnisse Gelegenheit geboten wurde.
Verzeichnisse für die ersten mathematischen Bücher, die die Heidelberger Universität ihr eigen nennen durfte, und deren Aufstellung für den Gebrauch der Universitätsmitglieder betont wurde(34), finden wir in Töpkes Matrikel der Universität Heidelberg. Teils in der 1396 gegründeten Universitätsbibliothek teils in der Büchersammlung der Artistenfakultät, der sogenannten libraria collegii artistarum, hatten die Bücherschätze, die man grösstenteils durch Stiftungen und Hinterlassenschaften, weniger durch Kauf erworben hatte(35), Unterkunft gefunden. An mathematischem Wissen mag hier kaum mehr vorhanden gewesen sein, als auch wirklich in den Bereich des damaligen Studiums gezogen wurde. Und wenn auch eine Differenz bestanden hätte, so ist diese sicherlich nicht gross gewesen. Die hohen Herstellungs- und Anschaffungskosten veranlassten nur die Berücksichtigung der notwendigsten und bedeutendsten Werke. Dass es darunter natürlich auch solche gab, die ihren Standort als eine dauernde Abkehr des öffentlichen Interesses ansehen mussten, soll damit nicht angezweifelt werden. Der starke Konex einer Büchersammlung, die die Eigenart in sich barg, sich aus Stiftungen und sicherlich auch in Gebrauch gewesener Bücher zusammenzusetzen, mit einer Universitätsgemeinde rechtfertigt uns, nach dem mathematischen Lehrstoff auch auf die mathematische Literatur der beiden Heidelberger (Seite 30) Bibliotheken dieser Zeit näher einzugehen(36).
Der erste Kanzler der Universität Gelnhausen hinterliess einen Algorismus, einen computus ecclesiasticus, einen tractatus de spere, eine expositio spere, eine perspectiva communis, Schriften, die ausschliesslich Vorlesungsstoff enthielten, und eine Abhandlung, die sich auf Tafelwerke bezog(37). Durch Ankauf wurden erworben aus der Hinterlassenschaft des Konrad von Worms(38): Thebit de motu spere. Thebit de hiis, qui indigent expositione cum introitu almagesti. Die arabischen Werke des Thebit (Tabit ben Kurre) waren von Gerhard von Cremona, der auch die Algebra des Alschwarismi und den Almagest der Ptolomaeus übertragen hatte, übersetzt worden. Den Almagest als Vorlesung hatten wir in Heidelberg nicht angetroffen, aber auch in Wien scheint er nicht seinen Einzug gehalten zu haben. Als die nächsten Nummern im Verzeichnisse figurieren: ein tractatus de spera, eine Theoria planetarum, ein algorismus persaycus de integria, ein algorismus de minutiis, d.h. eine Anleitung zur Rechnung mit Sexagesimalbrüchen, und ein tractatus de latitudinibus formarum des Joh. de Ligneriis (de Lignère), der als ein Zeitgenosse des de Muris um 1330 mit grossem Erfolge in Paris Philosophie und Mathematik lehrte. Der algorismus persaycus des Verzeichnisses ist nach Korrektion eines Schreibfehlers in Uebereinstimmung zu bringen mit dem bei Cantor besprochenen algorismus prosaycus des Prager Magisters Christian [Christian von Prachatitz (1368–1439)] (1400)(39), wenn man sich auf die ungewisse Entstehungszeit des letzteren stützen darf. Die Reihe beschliessen ein tractatus de numeris, bei dem wir kaum datis ergänzen und in dem wir kaum das Werk des Jordan Nemorius" de numeris datis quartuor libri" erblicken können. Weitab und angebunden an ein "scriptum sper priorum" erkennen wir in der geometria Bregwardini die in der Geschichte (Seite 31) der Mathematik bekannte geometria speculativa des Bredwardin.
Die umfangreichste mathematische Büchersammlung wurde von Marsilius von Inghen der Universität vermacht, dessen Gesamtbibliothek nicht nur die grösste, sondern auch die mannigfachste Professorenbibliothek des 14. und 15. Jahrhunderts gewesen sein mag. Nach einigen in einem Bande zusammengefassten mathematischen Abhandlungen folgen ein commentatum de spere, eine arithmetica Bregwardini, die sonst unter dem Namen arismetica speculativa bekannt ist(40), questiones perspective communis magistri Henrici von Hessen, des Heinrich von Langenstein, von dem eigentlich sonst keine mathematischen Schriften verfasst worden sind(41). Das direkte Anschliessen der verschiedenen Tractate über die Judicialastrologie lässt vermuten, dass wir es hier mit dem gleichen Verfasser zu tun haben. Wir wissen ja auch sonst, dass hervorragende Nominalisten wie Heinrich von Langenstein, Nicolaus Oresme, und Albert von Biggensdorf sich eingehend mit diesem Thema beschäftigt haben und mit zu den ersten zählten, die sich gegen die mittelalterliche Astrologie, von der sich bisweilen noch Kepler betören liess, erhoben haben. Die nächsten Stellen nehmen ein ein tractatus de instrumento directorii, eine Abhandlung über die Quadratur des Kreises, eine Hyginus — der enfache Name des Verfassers bezeichnet ein poetisches Einführungswerk in die Astronomie, das poeticon astronomicon — eine theoria planetarum demonstrata und Abhandlungen aus dem Gebiete der Astronomie mit Tafeln des Königs Alfons el Sabis, des Astronomen auf dem Königsthrone (Mitte des 13. Jahrhunderts.(42))
Der tractatus de spera des Marsilius von Inghen ist schon erörtert und wir kommen zu einer in Versen gekleideten (Seite 32) Bearbeitung der Arithmetik des Bredwardin, der expositio super arismetica metrificata Bregwardini, die auf ihre Art den Wissensstoff weniger geschmackvoller als leichter erlernbar machen wollte, ein Bestreben, das in dieser Zeit gar nicht selten gewesen ist. Die nicht nach Disciplinen geordnete Reihenfolge führt uns wieder auf astronomisches Gebiet zu den alfonsischen Tafeln (tabulas Alphonciicum canonibus), zu einer Planetentheorik mit einer Erklärung des astronomischen Messgeräts Astrolabium, zu zwei Schriften über die Weltkugel, die eine ohne Angabe des Verfassers, die andere herausgegeben von einem Stephan Herrandus, unter welchem Namen uns nur der gelehrte Bischof von Halberstadt bekannt ist(43). Im übrigen sind noch beachtenswert ein Auszug aus den 15 Büchern des Euklid (extractus de quindici libris Euklidis), der in dieser Gestalt, wie im 16. Jahrhundert, auch schon jetzt Vorlesungszwecken gedient haben mag, und ein Teil von Euklids Werken, der bei der Aufstellung des Verzeichnisses von dem Artistenmagister Wolther entliehen worden war(44). Als Kuriosum kann man noch das in einer Zeit, wo die Gottesgelehrtheit alle Wissenszweige für sich zu gebrauchen wusste, leicht verständliche Vorhandensein einer arismetica subtiliter misticata in sermonibus theologici applicata(45) einfügen, die Anwendung arithmetischer Geheimnisse auf die Gespräche des Theologen(46).
Von dem in Frage kommenden zeitgemässen mathematischen Wissensstoffe vermisst man eigentlich in der scholastischen Zeit Heidelbergs nur den Almagest und den algorismus proportionum des Nicolaus Oresme. Die befinden sich weder unter den Vorlesungen noch in den Bibliotheken. Aber der Almagest war allein in Oxford zu einer regelmässig wiederkehrenden Vorlesung geworden und hatte auch in Paris, Wien u.s.w. keine dauernde Pflegestätte erhalten können.(47) (Seite 33) Was den algorismus proportionum anbelangt, so überstieg er so sehr das Niveau arithmetischen Wissens an den Universitäten, dass man sich mit ihm vorerst nicht abzugeben gedachte.
Letzte Änderung: Februar 2024 Gabriele Dörflinger Kontakt
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