Studien zur Geschichte der Mathematik ... / Erwin Christmann

Stellung des mathematischen Studiums im Universitätsleben

S. 15-22 aus:
Christmann, Erwin: Studien zur Geschichte der Mathematik und des mathematischen Unterrichts in Heidelberg : von der Gründung der Universität bis zur combinatorischen Schule. - 1924. - 164 S.
Univ. Heidelberg, Diss., 1924
Signatur Univ.-Bibl. Heidelberg: W 3461

Abschrift: Gabriele Dörflinger


Kapitel I.  Die Mathematik an der Hochschule zu Heidelberg zur spätscholastischen Zeit.

Abschnitt B.  Stellung des mathematischen Studiums im Universitätsleben.

Rupprechts Initiative und die Tätigkeit des durch den Fürsten berufenen und für die Einrichtung des Studiums verantwortlichen Marsilius von Inghen liessen die bisher in Heidelberg als Lehre und Wissenschaft unbeachtete Mathematik ihren Einzug halten. Den mathematischen Wissenschaften wurde im Universitätsleben eine Stelle zugewiesen, die wenn auch nicht mit derjenigen in Paris identisch genannt werden mag, doch die mannigfachsten Berührungspunkte besass. (Seite 16) Die Mathematik hatte ihre ersten Anfänge schon überwunden, ihre Zugehörigkeit zum Verband der Wissenschaften schon erkämpft und als ein Glied des Ganzen ihre bestimmten Aufgaben zugeteilt bekommen, als sie an die deutschen Universitäten verpflanzt wurde und von hier aus wiederum ein Ausgangspunkt mathematischer Bildung wurde.

Für den Geist, der den mathematischen Unterricht an der neugegründeten Universität beleben sollte, war es von Bedeutung, dass durch Marsilius von Inghen, der in Paris längerer Zeit als hervorragender Lehrer der freien Künste tätig war, die nominalistische Richtung der Philosophie oder besser ausgedrückt ockhamistische (Wilhelm Ockham, Erneuerer des Nominalismus um 1300&mnash;1350) zur Einführung gelangte. Gegenüber der realistischen bewahrte diese einen freieren, mehr empirischen philosophischen Standpunkt. Für die mathematischen und naturwissenschaftlichen Disciplinen ergab diese Tendenz einen nicht zu unterschätzenden Vorteil, sie stärkte das Interesse an ihnen und hatte besonders in Paris, als durch das Verbot der Lehre des Ockham (1339) ihre Anhänger auf Gebiete gedrängt wurden, die keine Angriffspunkte den Gegnern bieten konnten, gesteigertes mathematisches Schaffen gezeitigt(5). Und in der Tat, die bedeutendsten Lehrer der Mathematik an der Pariser Universität waren Nominalisten gewesen. Für mehrere Jahrzehnte gaben ihre Ideen der jungen Heidelberger Universität das Gepräge.

Was Heinrich v. Langenstein für die Universität Wien geworden war, das wwude Marsilius von Inghen für Heidelberg. Wir fühlen uns berechtigt, das bekannte Urteil des Peter Ramus in seinen Scholae mathematicae (1567) dahin zu (Seite 17) ergänzen(6), dass neben Heinrich von Langenstein dem Marsilius von Inghen ein Teil des Verdienstes zukommt, für die Verbreitung der Mathematik in Deutschland den Grundstock gelegt zu haben und gefestigt oder allgemeiner an der folgenreichen Verschiebung mathematischer Kenntnis nach dem Osten mitgewirkt zu haben, wenn auch aus seiner Saat kein der berühmt gewordenen Wiener Schule ähnliches Gebilde hervorgegangen ist.

Mag das Verhältnis der mathematischen zu den sonstigen Wissenschaften an einer Hochschule, ihre beiderseitige Einschätzung und Abhängigkeit zu allen Zeiten beachtenswert sein, so ist seine Darstellung bei einer geschichtlichen Abhandlung zur mittelalterlichen Hochschulmathematik eine gegebene Notwendigkeit. Zu eng sind ja das Studium der Einzelwissenschaften miteinander verknüpft, zu sehr bedingt die Pflege des einen die Pflege des andern. Wie sämtliche Erscheinungsformen mittelalterlicher Kultur die karakteristischen Eigenschaften der Abgeschlossenheit und der zunftmässigen Organisation besassen, war auch die mittelalterliche Universität eine in ihre Zeit passende Genossenschaftliche Korporation mit bestimmten Interessen, Lebenszielen und Rechten, die gemäass dem allgemein geltenden, obersten Gewerbsgesetze von der Verteilung der Arbeit in Fakultätem zerfiel. Den Kern des damaligen Studiums bildete die Artistenfakultät. Da durch sie der Weg zu den oberen Fakultäten, zur Theologie, Medicin und Jurisprudenz ging, besass sie dem Karakter einer Vorschule, was um so mehr notwendig war, als gediegene Vorkenntnisse, erworben durch Selbststudium oder auf einer Elementarschule, äussert selten, zum mindesten aber so lückenhaft und uneinheitlich (Seite 18) waren, dass ein Aufbau auf diesen unmöglich war. Die Artistenfakultät befasste sich mit einer grossen Anzahl von Einzeldisciplinen, ursprünglich mit den sieben freien Künsten, den septem liberales artes, Grammatik, Dialektik, Rhetorik, dem Trivium, Geometrie, Arithmetik, Astronomie, Musik, dem Quadrivium. Um die Zeit der Gründung der Univesität war die Steife dieses Schemas schon gebrochen, man lehrte ausser den mathematischen Fächern den ganzen Umkreis aristotelischer Logik, Naturphilosophie, Psychologie, Ethik, Oekonomik und Metaphysik, wobei man auch allerhand Erweiterungen zuliess.

Innerhalb der Artistenfakultät besassen die einzelnen Wissenschaften keine selbständige Stellung, von einer gleichmässigen Bewertung konnte keine Rede sein. Es gab keine Professoren der Mathematik, die Magister der Philosophie, die sich mit dem ganzen Schwall der zur Fakultät gehörenden Einzelgebiete beschäftigen mussten, behandelten auch, was damals zur Mathematik gerechnet wurde, die Unterabteilungen des oben genannten Quadriviums. Ein weiteres Hemmnis erstand in der alles beherrschenden Dialektik, die wie an den anderen Universitäten so auch in Heidelberg eine grössere Hingabe an die mathematischen Disciplinen nicht gestattete. Und doch hätte dieses Verhältnis noch ungünstiger ausfallen können, wenn nicht die von Marsilius von Inghen in Heidelberg eingeführte nominalistische Richtung unseren Wissenschaften grössere Beachtung geschenkt hätte. Man blieb jedenfalls für die nächste Zeit nicht untätig, die Mathematik auf eine zeitgemässe Stufe zu stellen, und verschloss sich vor allem nicht Anregungen, die aus Wien kamen(7), wo durch Heinrich von Langenstein jene hervorragende mathematische Periode (Seite 19) eingeleitet worden war.

Die Bewertung mathematischer Kenntnisse ersieht man aus den an die Ausübung der akademischen philosophischen Lehrtätigkeit geknüpften Bedingungen. Massgebend sind hier die Prüfungsbestimmungen für das Lizentiat und der damit verbundenen Magisterwürde, daneben sind die des Baccalaureats, des niedersten akademischen Grades, bemerkenswert. Das Baccalaureatsexamen setzte in Heidelberg kein mathematisches Wissen voraus(8), während in Wien für diese Prüfung der Algorismus, das erste Buch Euklids, die Sphaere des Sacro-Bosco verlangt wurden. Dies entspricht auch der Annahme, dass die ersten Statuten im engsten Anschluss an Paris hergestellt wurden. Auch dort wurden in mathematischer Hinsicht für diesen Grad keine Bedingungen gestellt. Die Wiener Statuten waren trotz der früheren Universitätsgründung (1365) erst im Jahre 1389 vollendet worden und konnten deshalb auch nicht von Einfluss sein(9). Die im 15. Jahrhundert gegründeten Universitäten haben hierin ziemlich einheitlich Wien zum Vorbild genommen(10).

Für das Lizentiat gilt ebenso wie in Paris der Nachweis mathematischer Studien durch einen Eid erbracht und zwar heisst es in den Statuten(11): "Item iurabunt, se audivisse aliquos distinctos libros totales mathematice et non solum plures partiales eiusdem et presertim, quod audiverint tractatum de sp[ha]era mundi in isto vel alio studio privilegiato". Hervorheben muss man, dass hier einige bestimmte Bücher vorgeschrieben sind, dass sie vollständig und nicht nur teilweise gehört worden sein sollen. Wir können gegenüber Paris, wo nur "aliquos libros"(12), einige Bücher die Studierenden gehört haben mussten, dies als Fortschritt buchen. Auf der anderen Seite (Seite 20) wiederum erhebt sich die Frage, ob wir es in Paris, wo durch die Tätigkeit eines Heinrich von Langenstein, eines Albert von Sachsen und eines Nicolaus Oresme eine grosszügige Pflege mathematischer Wissenschaften hinlänglich bewiesen ist, nicht in diesem strittigen Punkte nur mit einer Unterlassungssünde zu tun haben und ob nicht in Wirklichkeit die schärferen Bestimmungen sich Geltung verschafft hatten. Wie die Sache sich auch verhalten mag, die von Marsilius von Inghen eingeführte Neuerung entbehrte, auch wenn es sich nur um eine statuarische Festlegung handeln sollte, nicht eines besondern Wertes. Die für das Lizentiat notwendigen mathematischen Vorlesungen sind an dieser Stelle der Statuten namentlich nicht angezeigt, sie ergeben sich aus einem uns erhaltenen Kostenverzeichnis(13), auf das wir bei der Besprechung des Lehrstoffes ausführlicher zurückkommen müssen und das nach der Reihe Perspective, die vier Bücher Euklids, die sphaera materialis, den Algorismus, den computus cyrometricalis und die theoriae planetarum aufführt. Später wurde die Zahl der Pflichtvorlesungen durch die Hinzunahme der proportionae und der latitudines formarum vermehrt. In einem Zusatz zu den Prüfungsbestimmungen, der deutlich verrät, dass er von späterer Hand eingefügt wurde, heiss es: "Item iurabunt se audivisse latitudines formarum, yconomicorum, polliticorum, proporciones, si saltem legerentur.(14)." Aus dem Wortlaut geht hervor, dass man damit gerechnet zu haben scheint, dass diese Vorlesungen nicht immer zustande kommen werden. Diese Verschärfung der Prüfung ist dem Einfluss Wiens zuzuschreiben, dessen Statuten von 1389 diese Disciplinen enthielten und die Heidelberger (Seite 21) nach und nach korrigierten (Seit 1434.)(15).

Pflichtmässige Teilname an mathematischen Disputationen wurde nur für die sphaera materialis von den Bewerbern um das Lizentiat verlangt(16), ob überhaupt andere mathematische Gebiete in diesen einen so wesentlichen Teil des mittelalterlichen Hochschulunterrichts ausmachenden Disputationen zur Debatte standen, entzieht sich unserer Kenntnis.

Hatte ein Baccalaureus das Lizentiat erworben und zu seiner weiteren Ausbildung in den obern Fakultäten im Dionysiamum Aufnahme gefunden, so musste er für einige Zeit mathematische und astronomische Vorlesungen halten(17). Die jüngeren Kräfte übernahmen also in der Regel die Mathematik, während den bewährteren und älteren Magistern Dialektik, Rhetorik und Grammatik vorbehalten wurde oder der Weg zu den oberen Fakultäten offenstand. Die ersten Anfänge der akademischen Lehrtätigkeit suchte man auch möglichst bald zu überwinden und mit einer angeseheneren einzutauschen, ein Bestreben, das so allgemein war, dass sogar die bedeutendsten Mathematiker dieser Zeit weniger mathematische Vorlesungen als solche über Philosophie und Theologie hielten und nur in literarischer Beziehung sich in den Dienst der Mathematik stellten(18). Für so nebensächlich betrachtete man den mathematischen Unterricht, dass wir nicht annehmen dürfen, Marsilius von Inghen, als Professor der Philosophie nach Heidelberg gerufen, habe eine Ausnahme gemacht(19). Daran ändert auch schwerlich etwas die Tatsache, dass sein mathematisches Interesse, wie aus seiner viele mathematische Werke und Schriften enthaltenden Büchersammlung hervorgeht, nicht unbedeutend gewesen sein kann. (Seite 22) Aus dem Vorausgegangen lassen sich leicht die Gründe ableiten, warum es sich erübrigt, für diese erste, die scholastische Zeit, Lehrer der Mathematik zu nennen; wir erhielten nur eine Aneinanderreihung zahlreicher und nichtssagender Namen, ohne dass sich der gemachte Aufwand lohnen dürfte.

Ein anderes Moment, das das Verhältnis der Mathematik zu den übrigen Wissenschaften in das rechte Licht rückt, ist die Einteilung des Studienjahres in den magnus ordinarius (10. Oktober &mnash; 28. Juni) und in dem parvus ordinarius (25. August &mnash; 9. Oktober) und die Zugehörigkeit der mathematischen Vorlesungen zu den letzteren. Nur dieser kurze Zeitraum stand ihnen zu ihrer Behandlung zur Verfügung. Ausserdem fanden in den Oster- und Pfingstferien nebensächlichere Vorlesungen statt, unter denen sich auch wohl manche aus unserem Gebiete stammende befunden haben mag(20).

Ganz allgemein ausgesprochen kann man sagen, dass die unselbständige Stellung und die Bewertung der Mathematik und des mathematischen Unterrichtes im Heidelberger Universitätsleben des Scholastizismus einer raschenren Entwicklung durchaus nicht günstig erscheint, dass aber die Universität nicht nur Gelegenheit zum mathematischen Studium bot, sondern auch mit Hilfe der Statuten darauf bestand, dass von dieser Gelegenheit trotz der in die Augen springenden Fächern der Dialektik, der Logik, Physik, Metyphysik und Ethik Gebrauch gemacht wurde.


Fussnoten

  1. H. Suter. Die Math. auf d. Universitäten d. Mittelalters. S. 82. 90.
  2. M. Cantor. Vorlesungen zur Geschichte d. Math. II. S. 150. Petrus Ramus. Scholae mathematicae. S. 61.
  3. Das Nähere später unter Lizentiatsprüfung und mathematischer Lehrstoff.
  4. Winkelmann. Urkundenbuch der Universität Heidelberg. I. S. 33.
  5. H. Suter. Die Math. auf den Universitäten des Mittelalters. S. 99.
  6. Vergl. die älteren Statuten verschiedener deutscher Universitäten.
  7. Winkelmann. Urkundenbuch der Universität. I. S. 38.
  8. H. Suter. Die Mathematik auf den Univesitäten des Mittelalters. S. 74.
  9. Winkelmann. Urkundenbuch der Universität. I. S. 42.
  10. Winkelmann. Urkundenbuch der Universität. I. S. 38.
  11. Ausführlicheres später unter Lehrstoff.
  12. Winkelmann. Urkundenbuch der Universität. I. S. 38.
  13. Winkelmann. Urkundenbuch der Universität. I. S. 168.
  14. Habe hier im Auge die Tätigkeit Alberts von Sachsen, Heinrichs von Langenstein in Wien als Professor der Theologie (H.v.L.) und als Rektor der Universität (A.v.S. 1365). Selbst Peurbach las keine nennenswerte mathematische Vorlesungen (nur das sogen. Horarium) und Johannes von Gmunden, der besonders lange Mathematik in Wien lehrte, ging 1420 zur Theologie über, deren Lehramt er bis zu seinem Tode 1442 ausübte.
  15. In Paris hielt er logische und physikalische Lehrvorträge, für die er auch Handbücher schrieb, die dem Heidelberger phylosophischen Unterricht zu Grunde lagen.
  16. Ueber Einteilung des Studienjahres August Thorbecke. Die älteste Zeit der Universität Heidelberg.

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