Studien zur Geschichte der Mathematik ... / Erwin Christmann

Einführung des mathematischen Studiums

S. 12-15 aus:
Christmann, Erwin: Studien zur Geschichte der Mathematik und des mathematischen Unterrichts in Heidelberg : von der Gründung der Universität bis zur combinatorischen Schule. - 1924. - 164 S.
Univ. Heidelberg, Diss., 1924
Signatur Univ.-Bibl. Heidelberg: W 3461

Abschrift: Gabriele Dörflinger


Kapitel I.  Die Mathematik an der Hochschule zu Heidelberg zur spätscholastischen Zeit.

Abschnitt A.  Einführung des mathematischen Studiums durch die Errichtung der Universität.

(Seite 12) Vor der Gründung der Universität (1386) wird schwerlich in Heidelberg, in seiner näheren und ferneren Umgebung, aber auch in den übrigen Gebieten des heutigen Deutschen Reiches eine derartige Pflege mathematischer Wissenschaften nachweisbar sein, wie sie auf ausländischen Universitäten üblich war. Der tiefere Stand des geistigen Lebens, verursacht durch das Zurückbleiben der deutschen Dom- und Stiftsschulen, die den erweiterten Kreis der Wissenschaften nicht mehr umfassen und lehren konnten(1), drückte auch auf die Entwicklung der Mathematik. Das Zeitalter des kirchlichen Universalismus, wo jede Lebensregung, besonders die des Geistes, zu seinem Dienste erschaffen schien, war ihr schon an und für sich nicht günstig. Das Barsein jeglicher Zusammenhänge der Mathematik mit irgendwelchen kirchlichen Lehren lag klar zu Tage und hätte ihr eine freie Fortentwicklung garantieren müssen, wenn nicht gerade die geringe Verwendungsmöglichkeit zur Befestigung der Dogmen und ihre Unbrauchbarkeit für die Entscheidung scholastischer Streitfragen in grossem Maasse die Abkehr des wissenschaftlichen Interesses verschuldet hätte.

Und doch hat es die einseitige Einstellung der gelehrten Welt nicht vermocht, die zugleich mit dem Aufstieg der übrigen Wissenschaften einsetzende Belebung der Mathematik und des mathematischen Studiums zu verhindern. Die Zeit vor der Gründung der deutschen Universitäten zählte bedeutende Mathematiker, die teils an den Universitäten des Auslandes tätig waren, teils im gewöhnlichen bürgerlichen Leben standen. Auf die deutschen Lande konnte die geistige Regsamkeit im Ausland nicht ohne Einfluss bleiben und bewirkte (Seite 13) zunächst ein Abströmen Studierender nach den Zentren geistigen Lebens, nach Paris, Bologna, Salerno. Dort erwarben sich im allgemeinen auch die Deutschen ihre mathematischen Kenntnisse, haben selbst mathematischen Unterricht erteilt und, was das Wesentlichste war, in beiden Erfahrungen gesammelt, die für die Gründung der deutschen Universitäten, für die Verpflanzung des mathematischen Studiums nach Deutschland grosse Bedeutung gewinnen mussten. Hier war es nicht möglich an vorhandene Einrichtungen direkt anzuknüpfen, und es galt die Unterschiede des Wissensstandes unter Zuhülfemahme erprobter Systeme zu überbrücken(2).

Während die ausländischen Universitäten nachweisbar auf eine Entwicklung ihres Organismus und ihrer Lehre aus kleinen Anfängen zurückblicken können, die geistlich oder auch weltlich waren — aus der Domschule Notre Dame entstand das alle damals bekannte Wissenszweige umspannende "studium generale" von Paris — tragen die deutschen mehr oder weniger das Kennzeichen eines plötzlichen Auftauchens. Die Heidelberger Hochschule wuchs sozusagen aus einem Nichts hervor. Keine Nachricht überliefert uns, dass sie sich an eine vorhandene Kloster- oder Stadtschule anlehnen konnte(3). Dagegen lassen Wien und Prag deutlich einen primitiven Grundstock erkennen, der einen ruckweisen Aufstieg im Gefolge haben musste(4). Bei der Gründung der deutschen Universitäten war deshalb auch eine Bezugnahme auf die älteren Hochschulen nicht zu umgehen. Im Laufe der Zeit waren deren Einrichtungen durch Aufnahme, Beibehaltung des Geeigneten und Ausmerzen des Ungeeigneten zu einem wohlfundierten Gebäude für die Lehre und die Pflege des (Seite 14) geistigen Lebens geworden. Nur durch Uebernahme des ganzen Systemes konnte das Gleiche bei den Neugründungen erreicht werden. Als ein wohl in das Gebäude eingefügter Teil des Ganzen verdanken die mathematischen Wissenschaften nicht wenig diesem das Zeichen der Unselbständigkeit aber auch die Notwendigkeit tragenden Vorgange ihre Verbreitung nach dem Osten und Norden.

Das Fehlen eines der Zeit entsprechen hochgestellten gelehrten Betriebes war nicht Grund genug die Wissenschaften in Deutschland heimisch zu machen. Zeitauffassungen und innerkirchliche Ereignisse, die in dem Aufkommen nationaler Gedanken und Gegensätze ihren Ursprung nahmen und von ihnen genährt wurden, spielten eine gleichwichtige, wenn nicht grössere Rolle. Der Geist der Dezentralisation hatte eingesetzt, der erste Akt des Zerfalles mittelalterlichen Hierarchien begonnen. Die deutschen Landesfürsten fanden allmählich Geschmack an geistigen Gütern und lernten sie schätzen. Das Abwandern Studierender auf fremde Hochschulen erschien ihnen deshalb auch bald als ein empfindlicher geistiger und materieller Verlust, dem eine Ueberwucherung und Abhängigkeit deutscher Bildung von dem Auslande, der Untergang der Eigenarten deutschen Wesens folgen musste. Nicht ausgeschaltet dürfen die wirtschaftlichen Vorteile werden, die man sich für das Land, den Glanz und den Ruhm, die man sich für das Fürstenhaus versprach, wenn die Residenz in ihren Mauern das belebende Moment der Geistesbetätigung und das für die damalige Zeit besonders wichtigen, mit der Gründung einer Hochschule automatisch gesteigerten Fremdenverkehrs fühlen durfte.

(Seite 15) Kann man für Rupprecht I. von der Pfalz (1353 – 1390) die vorerwähnten Punkte als die Gründung zur Errichtung der Hochschule bezeichnen, so gaben den äusseren Anlass und die Möglichkeit einer erspriesslichen Entwicklung erst die derzeitigen kirchlichen Streitigkeiten und Rupprechts einseitige Stellungnahme zu ihnen. Pabst Urban VI. und der von den Franzosen begünstigte Gegenpabst Clemens VII. lagen in einem Kampfe, der auch auf die Universitäten, aus denen die Geistlichkeit hervorging und die die führenden Persönlichkeiten des kirchlichen Lebens zu ihren Mitgliedern zählte, übergreifen musste. Die Pariser Universität entschied sich für Clemens VII., für die die Sache Urbans VI. verfechtenden deutschen Lehrer und Studirenden, war dies das Zeichen Paris zu verlassen. Ein Teil fand Unterkunft in Prag und Wien, andere trugen sich mit dem Gedanken am Rheine ein Generalstudium zu errichten. Rupprecht I. nahm diese Gelegenheit wahr, gründete die Heidelberger Universität, beachtete den kirchenpolitischen Gegensatz zu Paris. Im Bezug auf die Organisation der hohen Schule, auf Lehre und deren Inhalt hielt er sich an die erprobten, bei der Studentenschaft beliebten Pariser Verhältnisse und erfüllte so durch seine einsichtsvollen Massmahmen die für das Gedeihen notwendigen Voraussetzungen.


Fussnoten

  1. Friedrich Paulsen. Geschichte des gelehrten Unterrichts. S. 14
  2. Die Mathematik und den mathematische Unterricht des Mittelalters behandeln Moritz Cantor. Vorlesungen zur Geschichte der Mathematik. Heinrich Suter. Die Mathematik auf den Universitäten des Mittelalters. Sigmund Günther. Geschichte des mathematischen Unterrichts im deutschen Mittelalter bis zum Jahre 1525.
  3. August Thorbecke. Die älteste Zeit der Universität Heidelberg. S. 10.
  4. Heinrich Suter. Die Math. auf d. Universitäten d. Mittelalters. S. 42. Hier bestanden kirchliche Schulen mit einseitig theologischem Karakter.

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