Studien zur Geschichte der Mathematik ... / Erwin Christmann |
Abschrift: Gabriele Dörflinger
Anm.: Nur im Inhaltsverzeichnis wird die Namensform Pitiscus verwendet, im Text dagegen durchgängig die Form Petiscus.
Jakob Christmann (149), geb. 1554 zu Johannisberg im Rheingau (Erzstift Mainz) liess sich unter dem Rektorat des Thomas Erast (1. Nov. 1573) immatrikulieren. Der Zögling des Dionysianums wurde 1575 Baccalaureus und erhielt unter dem Dekanat des Timoth. Mader durch den Huldreich Faber die Magisterwürde im Jahr 1578 (150). Bald zum Professoren ernannt zwang ihn der Widerstand gegen die Konkordienformel, die Schule Joh. Casimirs in Neustadt zu beziehen. Nach seiner (Seite 80) Rückkehr war er dritter Lehrer im Sapienzkollegium, mehrmals Dekan der philosophischen Fakultät und bekleidete 1602 das Rektorat. Nicht unbedeutender als seine Stellung im Heidelberger Hochschulleben ist seine geistige Regsamkeit und sein gelehrtes Schaffen. Auf der einen Seite erfüllte ihn das philosophische Studium und das humanistischer orientalischer Sprachen, er versah den Lehrstuhl der hebräischen Sprache, seit 1590 den der aristotelischen Logik und erreichte durch den eifrigen Hinweis auf den Nutzen der arabischen Sprache für die Philosophen und auch für andere Wissenschaften beim Kurfürsten Friedrich IV. (1592-1610) die Gründung des ersten arabischen Lehrstuhles in Europa, den er als ausserordentlicher Professor seit 1609 (6. Juni) bis zu seinem im Jahr 1613 erfolgten Tode selbst bekleidete (151). Andererseits haben seine Persönlichkeit, seine Studien und Schriften durch ihre Verwandtschaft mit Koppernikus, Jos. Scaliger, Joh. Werner, Rheticus, Otho und Barthol. Petiscus, d.h. durch ihre Beziehungen zur Mathematik im allgemeinen und zur Astronomie und Cyklometrie, Trigonometrie im spezielleren, wesentliches Interesse gewonnen.
In seinen wissenschaftlichen Arbeiten hat Jakob Christmann manche Züge mit Xylander gemein. Neben dem Philologen sehen wir in ihm den Mathematiker und Astronomen, dem keine Gelegenheit sich bot, seine Kenntnisse auf dem Lehrstuhle zu verwerten. Für die Form und den Inhalt alter Literaturdenkmäler und der antiken, sowie nachantiken Geisteswelt ist er gleichmäßig begeistert. So ist zu nennen von den arabischen Werken, die er herausgab "Muhamedis Alfragani Arabis chronologica et astronomia elementa Frankfurt 1590" (152), eine Uebersetzung aus dem hebräischen, in das Lateinische. Daneben spürt man bei ihm auch einen merklichen Unterschied in den Auffassungen von den Aufgaben und der Richtung wissenschaftlicher Betätigung. Xylander, durch das Studium der klassischen Sprachen, vor allem des Griechischen, von ihrer Schönheit ergriffen, lauschte inbrünstig den Lehren der Alten, aus der Liebe zur (Seite 81) Sprachwissenschaft war ihm die Sehnsucht und das Verlangen in ihr Wissen einzudringen gewachsen. Aber es ist eine Beschränkung gelehrten Schaffens, wenn Xylander und die humanistische Welt des 16. Jahrhunderts zu ihrem grössten Teile von einer abgeschlossenen und vollendeten Gelehrsamkeit der Alten überzeugt waren, und wenn sie allein die Notwendigkeit des Erfassens, der möglichst vollendeten Reproduktion und - nicht zu vergessen - der Lehre sahen, die bei den Humanisten als die höchste Pflicht des geistig hochstehenden Menschen gegenüber der Gemeinschaft galt. Ein anderes Zeitalter war allmählich heraufgezogen, eine Zeit, die anfangs stark negiert wurde und schwer um ihre Entwicklung ringen musste, jetzt aber sich schon so sehr durchgesetzt hatte, dass immer mehr die althergebrachten Bahnen, in denen sich die Wissenschaften bewegten, verlassen wurden, dass eigenes Forschen immer mehr versucht, die Fesseln der Antike zu sprengen, und die mittelalterlichen und humanistischen Begriffe von den Wissenschaften schwer ins Wanken geraten. Bei dem forschen Aufgreifens mathematischer und naturwissenschaftlicher Probleme zeigten sich die ersten Regungen einer modernen Wissenschaft.
Mitten in dieser Bewegung standen Christmann, Otho, B. Petiscus und sie bekannten sich durch ihr Schaffen zu ihr. Im Jahre 1603 hielt Christmann des Nik. Koppernikus gewaltiges Werk "de revolutionibus orbium coelestium" in seinen Händen (153). Koppernikus hatte zwar schon 1506 mit der Aufzeichnung seiner Lehre begonnen, in seinem Todesjahre 1543 war sie zum ersten Male gedruckt erschienen, aber von einer allgemeinen Verbreitung konnte man noch nicht sprechen. Man übersah sie, verspottete sie und versuchte sie mit Gewalt zu unterdrücken. Ihre bekanntesten Verfechter Maestlin, Galilei und Kepler standen noch ziemlich allein auf weiter Flur. Christmann beschäftigte sich eingehend mit dem Werke und empfang aus ihm mache wertvolle Anregung. (Seite 82) Ein rein äusseres Kennzeichen ist seine unten näher zu besprechende "theoria lunae ex novis hypothesibus et observationibus Heidelberg 1611". Die Ausgabe, deren sich Christmann bediente, war keine gewöhnliche, es war die Originalhandschrift, die letzte Reinschrift, die gleichmässig in Schrift und mit sorgfältigen, ausgearbeiteten Figuren von Koppernikus selbst zu Papier gebracht worden war. Dieses Manuskript erlangte später für die Herstellung eines kritisch gereinigten Textes (154) die grösste Bedeutung, zumal da es der editio princeps nicht zu Grunde lag, sondern diese nach einer nicht wenig vom Urtexte abweichenden Copie hergestellt wurde. Das Schicksal der Originalhandschrift ist sehr verwickelt gewesen und heute noch nicht vollkommen geklärt. Als teure Reliquie seines hochverehrten Lehrers (Koppern.) hatte sie Rheticus sorgfältig aufbewahrt, von ihm bekam sie sein Schüler Val. Otho, der mit seinen trigonometrischen Arbeiten sich vertraut gemacht hatte, und brachte sie nach Heidelberg, wo sie nach seinem Tode (1603) mit den gesamten Nachlass des Rheticus und des Otho an Christmann überging (155). Von ihm rührte die Aufschrift auf dem Rücken des Pergamentbandes "Nicolai Copernick opus de revolutionibus". Sonst wissen wir nur noch, dass Christmanns Witwe die Handschrift im Jahre 1614 an Joh. Amos Comenus veräusserte, dem sie nach der Schlacht am weissen Berge (1620) mit seiner ganzen Bibliothek geraubt wurde, und dass sie erst nach zwei Jahrhunderten in der Majoratsbibliothek des Grafen Hostitz wiederauftauchte.
Die "theoria lunae" spielt insofern in der Geschichte der Trigonometrie eine bemerkenswerte Rolle, als sie in einem Anhange Angaben über den Erfinder der prosthaphaeretischen Methode machte. Bis zur Auffindung der beiden Werner'schen Schriften, "de triangulis sphaericis" und "de meteoroscopiis" durch A. Björnbo in der vatikanischen (Seite 83) Bibliothek (1902) zu Rom (156), war die "theoria lunae" eine der wenigen Quellen, um in dieser lange Zeit umstrittenen Frage Klarheit zu schaffen und für von Braunmühl ist noch 1899 in seinen "Vorlesungen zur Geschichte der Trigonometrie" die Christmann'sche Schrift die hervorragendste Stütze für seine Beweisführung von der Erfindung der prosthaphaeretischen Methode durch Joh. Werner. Christmann teilte hier mit, das Manuskript jenes Werkes sei ihm bekannt (157), - ohne dass in Erfahrung zu bringen ist, ob ihm das später verlorene Originalmanuskript oder das Druckmanuskript aus der vatikanischen Bibliothek zur Verfügung stand -. Werner habe darin die Prosthaphaeresis entwickelt und an Figuren erläutert (157). Er verteidigte diesen gegen Tycho Brahe, der mit seinem Schüler Wittich allgemein für die Erfinder gehalten wurden. Christmann spricht wohl von Transcriptoren, bleibt aber sonst auf dem Boden rein sachlicher Ausführung. Eine bewusste Irreführung stellt er nicht fest. Auch heute sind ja diese Zusammenhänge durchaus nicht so geklärt, wie es wünschenswert wäre. Man erkennt zwar Werner die Erfindung der Methode zu, d.h. eigentlich mehr die Wiederentdeckung der prosthaphaeretischen Formeln, denn sie waren ja schon den Arabern bekannt, und die Möglichkeit ihrer praktischen Verwendung, andererseits muss man aber so objektiv sein und dem verdienstvollen Mathematiker und Astronomen Kreis um den Landgrafen Wilhelm von Hessen, also vor allem Wittich und Tycho Brahe das ausschliessliche Verdienst der allgemeinen Einführung in die Rechnung zusprechen. Die Bedeutung ihrer Tätigkeit muss um so mehr anerkannt werden, als diesem schaffensfreudigen Saeculum die Erfinder der Logarithmen und ihrer Verwendung für die Praxis noch nicht zu gute kam. Ferner konnte nicht einmal eine Entnahme der Formeln durch Wittich und Tycho Brahe durch vergleichende Forschung nachgewiesen werden (159). Neben den genannten Angaben in der "theoria lunae" bringt Christmann eine volle (Seite 84) Entwicklung der Methode und die wichtigsten Sätze aus der Dreieckslehre, soweit er sie benötigt. Diese hatte er schon vorher in seinem Werke "observationum solarium libri tres, in quibus explicatur versus motus Solis in sodiaca et universa doctrina triangulorum ad rationes apparentius coelestium accomodatur Basel 1601" zusammenfassen lassen. In einer anderen Arbeit betitelt "nodus Cordinis ex doctrina sinum explicatus 1612" lehrte er geomeetrische Aufgaben anstatt auf algebraische Weiese mit Hilfe der Sinusse lösen (160). Wenn auch heute durch die Wiederauffindung der trigonometrischen Arbeiten des Werner die "theoria lunae" mit ihren Angaben in den Hintergrund getreten ist, so ist ihre Existens historisch bemerkenswert, besonders da ihre Behauptungen duch die neueren Untersuchungen als richtig anerkannt wurden und da sie zusammen mit den beiden Schriften aus den Jahren 1601 und 1612 von den trigonometrischen Interesse des Heidelberger Professoren ein beredtes Zeugnis ablegt.
Die regste Anteilnahme seiner Person erweckte aber auch die Cyklometrie des Kreises. Allgemeines Aufsehen und einen alten Streit hatte im Jahre 1609 das Erscheinen der "cyclometria elementa" des Joseph Scaliger (1540-1609) verursacht (161). In einer glänzend ausgestatteten Leidener Ausgabe stellte der durch sein bahnbrechendes Werk "opus de emendatione temporis" mit recht Vater der Chronologie genannte Gelehrte von neuem den Satz von der Möglichkeit der Kreisquadratur auf. Bedeutende Mathematiker widerlegten durch ihre Tractate seine Theorie, ohne ihn zu belehren. In Jak. Christmann erstand Scaliger gleichfalls ein starker Gegner, in seiner "tractatio geometrica de quadratura circuli Frf. 1595" bekämpft er Scaligers Ausführungen und setzt seine eigene Ansichten auseinander (162). Historischen Betrachtungen in den ersten Kapiteln folgt die eigentliche Widerlegung der (Seite 85) Scaligerschen These, das sechste Kapitel zeigt die Uebereinstimmung des Verfassers mit der Auffassung des Aristoteles von der Unmöglichkeit der Quadratur. Sodann spricht er von Irrationalverhältnissen der Hypothenuse gegenüber den Seiten, von der Nichtexistenz eines Verhältnisses der krummen Linien zur Gerade und seine Abhandlung klingt aus im Ergebnis, der Raum eines Kreises kann nicht einer gradlinigen Figur gleichgesetzt werden, während eine sehr grosse Annäherung jedoch erzielt werden kann. Durch seine Aktivität trug also auch ein Heidelberger Professor dazu bei, dass die Ueberzeugung von der Unmöglichkeit der Quadratur des Kreises immer grössere Verbreitung fand.
An früheren Stellen wurde schon mehrmals der Namen des zweiten der drei Männer, die für die Geschichte der Mathematik in Heidelberg um die Wende des Jahrhunderts grosse Bedeutung gewonnen haben, flüchtig genannt: Lucius Valentin Otho. Ueber Geburtsjahr und Ort ist nichts Sicheres bekannt. Wegen verschiedener Anhaltspunkte hat man sich grösstenteils für Magdeburg und für das Jahr 1550 entschieden (163). In Heidelberg trägt Otho den Titel eines magister astronomiae (164) und in dem Index der Doctoren und Magister bei Joh. Rud. Ampelanders Stammbuch, das zur Erinnerung an die Heidelberger Studienzeit ihre Einträge erhält, figuriert er ebenfalls unter den Magistern (165). Und doch ist es fraglich, ob er auch nur um diese Zeit (1588) entsprechende Vorlesungen gehalten hat. Viel wahrscheinlicher ist, dass er, ohne der Beziehungen zur Studentenschaft vollkommen zu entbehren, sich nur seinen astronomischen und mathematischen Studien widmete, die er als des "principis palatini Friederici IV. electoris mathematicus" mit seiner Unterstützung fortzuführen auf sich genommen hatte (166). Nicht geringe Schwierigkeiten musste Otho überwinden, bis er auf den Rat Caspar Bucers, des Schwiegersohnes Melanchthons und ehemaligen (1554-1559) (Seite 86) Professors der Mathematik in Wittenberg, nach Heidelberg gezogen kam, um am kurpfälzischen Hofe wohlwollende Aufnahme und die nötige finanzielle Unterstützung für seinen Unterhalt und die Herstellung der notwendigen Instrumente aber auch nicht zuletzt das richtige Verständnis für sein Lebenswerk zu finden. Dies war ein Vermächtnis des Rheticus, zu dem er als Gehilfe von Wittenberg ausgeeilt war, um ihm bei seinen ihn interessierenden trigonometrischen Arbeiten dienlich zu sein. Die grossen Unkosten -- die Dimensionen des in Angriff genommenen Werkes waren so gross, dass Rheticus während 12 Jahre mehrere Rechner beansprucht hatte -- des Unternehmens waren teils durch den Kaiser Maximilian II teils durch ungarische Magnaten gedeckt worden. Es war daher auch keine leichte Aufgabe für Otho, einen neuen Gönner zu finden, als der Tod Maximilians und ungünstige Momente die bisherigen Hülfsquellen zum Versiegen brachten. In Heidelberg aber ging man sogar so weit, für einen etwaigen Tod des Valentin Otho im voraus einen Vollender des begonnenen Werkes zu bestimmen und zu verpflichten, seinen Bruder und damaligen Professoren der Mathematik in Wittenberg Petrus Otho (167). Zwanzig Jahre nach dem Tode des Rheticus wird das Ergebnis einer an Vorarbeiten reichen und stark von der Gunst der Grossen abhängigen, jahrzehntelangen Arbeit in Neustadt a. Hdt unter dem grossartigen Namen "Opus Palatinum de triangulis a Georgio Rhetico Joachimo coeptum : L. Val. Otho, Principis Palatini Friederici IV. Electoris Mathematicus consummavit..... Neustadt 1596." gedruckt.
Auf den Inhalt können wir hier nur soweit eingehen, als er zur richtigen Einschätzung seiner Bedeutung notwendig ist, im übrigen ist zu verweisen auf die ausführlicheren Beschreibungen in Kästners "Geschichte der Mathematik I. S. 590 ff" und in v. Braunmühls "Vorlesungen (Seite 87) zur Geschichte der Trigonometrie." In der Einführung bringt Otho eine Darstellung seines Verhältnisses zu Rheticus und dessen Beziehungen zu Koppernikus, er spricht von den Beweggründen zur ausschliesslichen Beschäftigung des Rheticus mit Trigonometrie, seinen eigenen späteren Erlebnissen bezüglich der Arbeiten bis zu ihrer Drucklegung und über seine Ausarbeitung. Der Entstehungsgeschichte folgt als eigentlicher Inhalt eine vollständige ebene und sphaerische Trigonometrie und ein grossartiges Tabellenwerk. Auch die Anleitungen zu seiner Berechnung sind im Opus Palatinum enthalten. Neuerdings hat man die Zusammenhänge zwischen dem Opus Palatinum und dem Buche Werners über die Kugeldreiecke näher untersucht und eine gewisse Verwandschaft entdeckt. Das Opus palatinum, soweit es von den sphaerischen Dreiecken handelt, besitzt nämlich ebenfalls die drei Hauptgruppierungen, die möglichen Dreiecksformen, die Auflösung des rechtwinkeligen und schiefwinkeligen Dreiecks. Es bespricht wie jenes alle einzelnen Fälle für sich und im Gegensatz zu Werner, der nicht in der Lage ist, alle möglichen Spezialfälle auszuscheiden, sind für Val. Otho und Rheticus die subtilsten Einteilungsprinzipien kennzeichnend. Offensichtlich hat man es mit einer bewussten Vervollständigung und Ausarbeitung des Werner'schen Werkes zu tun, die unter Beibehaltung der Einzelteile dessen Ideen eingehender und methodischer wiedergibt. Wenn dieser Gedanke der Umarbeitung tatsächlich vorhanden gewesen und wenn er gleich nach Fertigstellung von Werners Buch über die Kugeldreiecke aufgetaucht ist, so kann man sich auch ohne Mühen die Unterbrechung und vollständige Aufgabe der Drucklegung erklären (168).
Nur einer ausserordentlichen Ausdauer und einem beharrlichen Willen verbunden mit einer grossen Schaffenskraft (Seite 88) konnte es gelingen, dieses weitgreifende und an Einzelheiten reiche Werk zu Ende zu bringen. Die Mannigfaltigkeit des Opus Palatinum brachte es mit sich, dass es Ausgangspunkt vieler anderer gleichartiger Schriften und ein zuverlässiges Fundament wurde, auf dem man weiter- und das man ausbauen konnte, dass es in der von Rheticus und Otho ausgearbeiteten wahrscheinlich von Koppernikus erfundenen stereometrischen Methode Elemente zur Gewinnung sphaerisch-trigonometrischer Sätze enthielt, die noch heute die Grundlage für die Trigonometrie der Kugel bilden (169). Das späte Erscheinen des Opus Palatinum hat seiner Bedeutung nur wenig Abbruch tun können, und es wäre sicherlich durch seine Vorzüge, -- wie von Braunmühl sagt -- zu einem Markstein in der Geschichte der Trigonometrie geworden, wenn nicht die durch die ausserordentliche Breite des Inhalts verursachte Unübersichtlichkeit seine Brauchbarkeit stark beschränken musste. Seine Nachteile kamen deshalb wieder älteren kurzgefassteren Werken zu gute oder sie drängten zur Herausgabe entsprechender Neubearbeitungen des Stoffes.
In Heidelberg wurde das Studium der Trigonometrie und die gelehrte trigonometrische Tätigkeit im engsten Anschluss an Valentin Otho durch Bartholomaeus Petiscus fortgeführt. Geboren 24. August 1561 zu Schleun bei Grünberg in Schlesien war er nach seinem eigentlichen Fache Theologe und als solcher kein unbedeutender Hofkaplan in Breslau und darauf Lehrer und Oberhofprediger des Kurfürsten Friedrich des vierten in Heidelberg (170). Seine Begabung führte ihn daneben zur Mathematik, deren Studium er bisweilen mit einer so grossen Leidenschaft betrieb, dass er sogar sich zu rechtfertigen müssen glaubte. In einer Widmung seines Lehrbuches der Trigonometrie sagt er, man möge es ihm nicht zum Vorwurfe machen, wenn er sich als Theologe so (Seite 89) eingehend mit Mathematik beschäftige, er verwende nur Stunden, die anderer müssig hinbringen, mit einem ihm angenehmen gelehrten Tun, dessen besonderer Reiz es sei, das grosse Interesse Friedrich IV. für mathematische Probleme jederzeit befriedigen zu können. Seinen allzugrossen Eifer müsse er nun zügeln, da er ihm Schäden des Körpers und des Geistes gebracht habe. Er verlege sich nur noch auf die Veröffentlichung seiner Manuskripte. Doch ist er von dieser Absicht, wie aus dem folgenden hervorgehen wird, wieder abgekommen. Petiscus starb in Heidelberg am 2. Juli 1613.
Die vornehmsten und erfolgreichsten Arbeiten des Petiscus auf dem Gebiete der Mathematik waren sein Lehrbuch der Trigonometrie und der "Thesaurus mathematicus" (171). Im Jahre 1595 war in Heidelberg durch den Professor der Theologie Abraham Scultetus (1566 - 1625), einem Landsmann des Petiscus, die Schrift "sphaerciorum libri tres" herausgegeben worden. Petiscus benützte diese Gelegenheit, um unter dem Titel "de resolutione triangulorum tractatus brevis et perspicius" (57 Seiten) einen Anhang beifügen zu lassen, der den Grundstock zu einem umfassenden Lehrbuch der Trigonometrie bilden sollte. Denn, als bald darauf das Opus Palatinum erschien, und ihm manches wertvolle, aber auch mancher ihm anhaftender Fehler zum Bewusstsein kam, schritt er zur Erweiterung seiner Schrift, die zum ersten Mal 1599 in Frankfurt als "trigonometriae triangulorum quinque libri" nebst mehreren Büchern Anwendungen zum Druck gelangte. Spätere Auflagen, die von Augsburg 1600, die verbesserten und erweiterten von Frankfurt 1608 und 1612 zeugen von der Beliebtheit, die dieses Lehrbuch sich errang, von seiner Notwendigkeit und Bedeutung. An bemerkenswerten Einzelheiten sind hervorzuheben schon der Ausdruck Trigonometrie, der bei Petiscus zum ersten Male auftritt und auch (Seite 90) wahrscheinlich von ihm selbst geprägt worden war. Sodann im ersten Buche, das die sphaerischen und ebenen Dreiecke behandelt, die Ableitung der Polarformeln aus der Konstruktion eines reciproken Nebendreiecks zum Supplementardreieck oder einem seiner Nebendreiecke, während bei Vieta in seiner "Enallege pleurognomike" die Uebergangsformeln noch recht schwer verständlich waren. Im zweiten Buche beschreibt Petiscus die für die Herstellung eines Tabellenkanons notwendigen algebraischen Methoden im Sinne von Vieta und Bürgi, von denen die Bürgis zum ersten Male publiziert wurden (172). Die ebene Trigonometrie des dritten Buches zeigt den Zusammenhang mit den Arbeiten des Rheticus, hier wie dort finden wir die gleiche Definition der trigonometrischen Funktionen. Im übrigen behandelt das vierte Buch die sphaerische Trigonometrie und das fünfte praktische Regeln zur Dreiecksberechnung. Die Anwendungen umfassen zehn und in den späteren Auflagen elf Bücher und beziehen sich auf die verschiedensten Spezialgebiete.
Der Einfluss des grosszügig und systematisch angelegten Lehrbuches muss besonders vom didaktischen Standpunkte aus gewaltig gewesen sein. Kurz nach der ersten deutschen Ausgabe erschien 1600 eine englische, der 1614 eine zweite in dieser Sprache folgte. Beide in Druck gegeben von Ralphe Hundson. Der Holländer Adrian Metius benutzte für den trigonometrischen Teil seiner Veröffentlichungen vor allem Petiscus, und Joh. Faulhaber erwähnt ihn anlässllich der Herausgabe seiner "Ing. Schul" von 1630 als seinen Vorgänger. Kepler bediente sich noch öfteren der Prosthaphaeresis, wie sie sich bei Petiscus bot und Neper, der Erfinder des Logarithmus, studierte eingehend das Lehrbuch des Heidelberger Professors, das (Seite 91) als letztes vor seiner epochemachenden Erfindung (1614) nochmals die prosthaphaeretischen Methode ausführlich traktierte und ihm wohl auch ihre Mängel und die Notwendigkeit eines würdigen Ersatzes bewiesen haben mag. Zu letzt sei noch erwähnt, dass auf den Hochschulen des Petiscus Arbeiten den Vorlesungen zu Grunde gelegt wurden, dass z.B. in Wittenberg unter dem Titel "Lectiones in trigonometriam B. Petisci" das trigonometrische Wissen seiner Zeit vorgetragen wurde (173).
Das gleichstarke Bedürfnis der mathematischen Welt wie nach des Petiscus Trigonometrie kann auch bei seinem zweiten mathematischen Hauptwerk den "Thesaurus mathematicus Frankfurt 1613" zum Ausdruck (174). In dem Kanon des Opus Palatinum hatten sich allmählich Fehler geltend gemacht, die bei der Unentbehrlichkeit der Tabellenwerke für trigonometrische und astronomische Rechnungen in damaliger Zeit den Wunsch einer gründlichen Korrektion aufkommen liessen. Kurfürst Friedrich IV. hatte ein so grosses Interesse an diesen Heidelberg zu einem Mittelpunkte mathematischen Lebens machenden Arbeiten gewonnen, dass er auf seine Anregung hin dem Petiscus die Ausführung seiner Ideen übertragen wurde. Obwohl an dieser Stelle nicht auf Einzelheiten eingegangen werden kann, sei doch nicht vergessen, dass Petiscus auch vier ungedruckte Tafeln des Rheticus heranzog, die Otho wohl lange für verloren gehalten hatte und bei seinem Nachlass aufgefunden wurden, und dass nur mit vieler Mühe in der Person des Buchhändlers Jonas Ross in Frankfurt ein Verleger gefunden wurde, aber auch nur deshalb, weil er durch die Ausgaben der Trigonometrie des Petiscus ermutigt worden war. So waren nach den Verbesserungen des Petiscus der kolossale Aufwand des Rheticus (Seite 92) und die Arbeiten Othos gekrönt worden durch die Drucklegung des "Thesaurus mathematicus", der durch seine ausserordentliche Genauigkeit und der durch sie erreichten Brauchbarkeit alle Werke seinesgleichen übertraf. Die Betrachtung von Petiscus grosser Persönlichkeit kann geschlossen werden, mit dem vielsagenden Urteil eines vorzüglichen Kenners auf dem Gebiete mathematischer und speziell trigonometrischer Geschichtsforschung: Seine (des Petiscus) Verdienste um die Ausbreitung trigonometrischer Kenntnisse können nicht hoch genug angeschlagen werden (175).
Die Entwicklung der Mathematik in Heidelberg hat sich bis zu diesem Zeitpunkte in organischer Weise fortgesetzt, sie zeigte während der Dauer von mehreren Jahrhunderten alle Stadien des Werdens und alle Impulse, die auch sonst zu einem weiteren Ausbau mathematischer Erkenntnisse geführt haben. War dem Mittelalter die Aufgabe gestellt, das wenn auch in eigenartiger und bisweilen verschobener Darstellung überlieferte mathematische Wissen zu verarbeiten und sich mit ihm vertraut zu machen, so hatte das 16. Jahrhundert, genährt von den Ideen des Humanismus, zuerst an dem mathematischen Betrieb der Scholastiker Kritik geübt. Man verurteilte weniger seine Unfruchtbarkeit, als vor allem die Verderbtheit der mathematischen Kenntnisse und der Art und Weise des mathematischen Unterrichtes. Eine Reinigung, Läuterung und eine Zurückführung auf ihren Zweck, d.h. ein Fundament für eine nachfolgende Entwicklung zu werden, war nur möglich durch einen kräftigen Hinweis auf die Mathematik der Alten, deren Wissen für vollständig und nur durch schwache Epigonen entstellt galt und nun in diesem Jahrhundert von neuem der Menschheit (Seite 93) zu gute kommen sollte. Der Mathematik und das mathematische Unterrichtswesen in Heidelberg haben in beiden Zeitabschnitten Nennenswertes und Zeitentsprechendes geleistet, besonders im 16. Jahrhundert mit den Grund zu dem Aufstieg der mathematischen Wissenschaften gelegt. Parallel mit der Lösung dieser Aufgabe, also bevor die Fundierung abgeschlossen war, lief eine anfangs schwächere, später stärkere und anerkannte Abstreifung antiker Tradition, ein Abweichen von einer selbstverständlichen Vollkommenheit antiker Gelehrsamkeit, sodass schliesslich eine gewaltige und folgenreiche Revolution des wissenschaftlichen Lebens ausbrach, eine Revolution, die zur grössten Wertschätzung der Mathematik führte und deren Marksteine die Namen Koppernikus, Kepler, Galilei und Descartes wurden. Heidelberg wurde im letzten Teile des 16. Jahrhunderts von dieser Welle ergriffen, und der Glaube an die Fähigkeit des menschlichen Geistes, alles erfassen zu können, schuf auch in Heidelberg eine Schaffensfreude, die personifiziert ist durch die drei Gelehrten, denen der letzte Abschnitt des zweiten Kapitels gewidmet wurde. Ins Verhältnis zur Zeit gesetzt war in dem Zeitraum von der Gründung der Universität bis ins 19. Jahrhundert die zweite Hälfte des 16. und die ersten Jahre des 17. die glanzvollste Pflegerin der Mathematik und ihres Unterrichts in Heidelberg gewesen.
Literaturverzeichnis [Auswahl für diesen Abschnitt mit Bestandsnachweis]
Letzte Änderung: Februar 2020 Gabriele Dörflinger Kontakt
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