Studien zur Geschichte der Mathematik ... / Erwin Christmann |
Abschrift: Gabriele Dörflinger
(Seite 65) Friedericus II. peculiarem Mathesos cathedram fundavit, cui M. Jacobus Curio de Hof, natus anno 1497, medicinae doctor et insignis mathematicus, diu a Facultate Artium desideratus, tandem a principe Moguntia huc invitatus anno 1547 praecesse coepit. ...(111) Jakob Curio (Hofmann), nach anderer Quelle geb. 1492 zu Hofheim im Bistum Würzburg, liess sich am 14. August 1514 in Heidelberg immatrikulieren, war am 15. Nov. 1515 Baccalaureus im Sinne der via antiqua, wirkte sodann als Mediziner in Ingolstadt und bekleidete 1542 eine mathematische Professur in Mainz, später auch das Rektorat (1545). Nicht ungern vertauschte er jedoch Mainz mit Heidelberg. Er war ein Vorkämpfer für die Ideen des Pädagogiums, einer Vorschule für die Universität(112), und wollte mit dem Einsatz seiner Persönlichkeit das noch vorherrschende mittelalterliche Bursensystem unterdrücken. In Mainz konnte er sich nicht durchsetzen, in Heidelberg war das Pädagogium seit einem Jahre zu einer stehenden Einrichtung geworden. Unter seinem Rektorat (1551) hatte die Heidelberger Universität eine besonders hohe Frequenz zu verzeichnen. Seine mathematische Lehrtätigkeit beschloss er 1556 und ging zur medizinischen Fakultät über, wo er sich als eifriger Anhänger des Paracelsus berühmt machte. Er schrieb eine Abhandlung über das Studium der freien Künste, in der er vor allem der Arithmetik, Geometrie und Astronomie das Wort redete und ihren Wert erörterte(113). Sonst erwarb er sich Verdienste um die Herausgabe von Text und Erklärung des Hippokrates und veröffentlichte das Werk des Neapoitaners Pomponius Gauricius "de sculptura"(114). Es ist leider eine betrübliche Tatsache, dass über den von den Heidelberger Professoren ausgehenden persönlichen Einschlag des mathematischen Unterrichtes so schwer und so wenig Nachrichten zu erhalten sind. Da nun doch keine näheren Beziehungen angegeben werden können, war man auch berechtigt das mathematische Unterrichtswesen für sich zu behandeln. Bei den Dozenten ist wiederum das Biographische und hier vor allem eine möglichst vollständige Aufzählung ihrer literarischen (Seite 66) Produktionen in den Vordergrund gerückt. Und wenn auch bisweilen das Aneinanderreihen und das Aufführen von Schriften über die wir selbst an dieser Stelle nur wenig sagen können oder die an sich nur eben Schriften eines Heidelberger Professoren sind, monoton erscheinen mag, so ist doch gerade aus den genannten Titeln manches herauszulesen, was zur Klärung des Bildes von den einem Heidelberger Mathematikprofessor im 16. Jahrhundert gestellten Aufgaben und der Richtung, der sein wissenschaftliches Arbeiten angehörte, wesentlich Beitrag leistet.
Auf Jakob Curio folgte in der Professur J. Mercurius Morsheimer. Spärlich fliessen die Nachrichten über seine Person und über sein Leben. Offenbar war er ein Mann von emsigen Fleisse, der ihm die beste Stütze in seinem harten Lebenskampfe abgab. Am 22. Nov. 1535 liess er sich in Heidelberg immatrikulieren, hat aber auch in Tübingen oder in Wittenberg als Schüler Melanchthons dessen Worten gelauscht. Nach Beendigung seiner Studien leitete er zunächst in Heidelberg eine kleine Privatschule, die ihr Aufblühen der Zerrüttung der mit dem Pädagogium verbundenen Neckarschule verdankte und ihm einen netten Verdienst abwarf, auf den er auch nach seiner Neuimmatrikulation als Magister (1547) und als besoldetes Universitätsmitglied nicht gerne verzichtete. So behielt er diese Unterrichtsanstalt bei, bis die von Curio eifrig betriebene Neuorganisation des Pädagogiums im Jahre 1560 ihr Schicksal besiegelte. Morsheimer ist der erste Mathematiker, der ein Buch über Rechnungen des Rechtsverkehrs in Druck gegeben hat, die "disputatio juristica de rebus mathematicis Bas. 1558". Mit ihm hat er sich einen Platz in Cantors "Vorlesungen zur Geschichte der Mathematik" erworben. Seine "divisio vocabuli Astronomiae iuxta methodum dialecticum" ist eine Einführung in das Studium der Astronomie(115).
Nach M. Morsheimer wurde Cyprian Leovitius (Leowitz 1524–1574) aus Leonicis in Böhmen nach Heidelberg berufen. Er war Hofmathematiker des Kurfürsten Ott-Heienrich(116) und beschäftigte sich viel mit Astronomie und einem gewissen Maass (Seite 67) von Astrologie. Für seine Zeit war er eine geachtete Persönlichkeit, Wolf nennt ihn in seiner Geschichte der Astronomie einen verdienstvollen Astronomen(117) und der berühmte Tycho Brahe machte sich die Mühe, ihn in seinen späteren Heim in Lauingen in der Pfalz aufzusuchen(117). Von seinen literarischen Arbeiten, die sehr zahlreich waren, wollen wir nennen "Ephemeridum novum atque insigne opus ab annoo 1556 ad annum 1606 Aug. Vind. [Augsburg] 1557"(116), das mit ein Ausgangspunkt für Keplers Ephemeriden wurde eine Abhandlung "De nova stella 1552 Lauingae 1573"(118) und die Herausgabe der "Tabulae directionum et profactionum clar. viri Joh. Regiomontani Aug. Vind. 1552", die nach einem Schreiben Cyprians an die Gebr. Fugger die von ihm entdeckten Tabellenfehler korrigieren sollten(119). Seine rein astrologischen Schriften(120) sind hier nicht erwähnenswert, es ist aber vielleicht interessant zu erfahren, dass sein Ruhm als Studierender so gross war, dass sogar Petrus Ramus, der dem Aristoteles zu Leibe rückte und kein unbedingter Anhänger des Euklid war, seine Prognosen Achtung und Glauben zollte(121).
Im Jahr 1561 übernahm Wilhelm Xylander (Holzmann) aushilfsweise und nur für kurze Zeit die Mathematik. Abgesehen davon, dass man diesen ausserordentlich befähigten und beliebten Lehrer für das nach der Zeitauffassung zum wichtigsten Teil des Hochschulstudiums gerechnete Aristotelische Organon dringend benötigte, musste er die Uebertragung dieses Lehrfaches auf sich als eine besondere Ehrung und als ein Zeichen hoher Einschätzung seiner Person betrachten. So war es ganz selbstverständlich, dass Xylander nicht darauf bestand, eine mathematische Lehrstelle weiterhin zu bekleiden.
Xylanders Schöpfungen auf literarischem Gebiete waren nicht nur zahlreich sondern auch ungemein bedeutend. Wir denken vor allem an seine Leistungen in der Mathematik, die für die Vertiefung mathematischer Einsicht und Verbreitung allgemeinerer mathematischer Kenntnisse Wegbahner wurden. Xylanders (Seite 68) Wirken ist zugleich der Höhepunkt mathematischer Uebersetzungs- und Herausgebertätigkeit in Heidelberg, jener von humanistischen Tendenzen getragenen und geleiteten Welle, die eigentümlich dem 16. Jahrhundert in Sebastian Münster und Simon Grynaeus dem älteren Heidelberg berührt hatte, jetzt bei Xylander ein Born reichster Produktivität wurde und in dem Heidelberger Orientalisten, Mathematiker und Astronomen Jak. Christmann ihren letzten und schwächeren Vertreter fand. Was Xylander vollbrachte, führt noch zu einer grösseren Würdigung seiner Verdienste, wenn man die Verhältnisse heranzieht, unter denen er aufgewachsen, studiert, gelehrt und literarisch sich betätigte und die so wenig geeignet waren, seinem Fortkommen und seiner wissenschaftlichen Arbeit eine kräftige Stütze zu sein.
Wilhelm Xylander erblickte am 26. Dezember 1532 in Augsburg das Licht der Welt(122). Der mit guten natürlichen Anlagen versehene und von zuhause arme Knabe erregte die Aufmerksamkeit eines Schulmeisters, des Xistus Betuleyus. Dieser förderte ihn und empfahl ihn dem Bürgermeister Wolfgang Reklinger, durch dessen Vermittlung dem jungen Xylander ein kleines Stipendium zuerkannt und es ermöglicht wurde, das Sankt-Anna-Gymnasium zu besuchen. Nachdem Xylander unter der Leitung der Betuleyus den Grundstock zu seinen einzigartigen Kenntnissen in Latein, Griechisch und Hebräisch gelegt hatte, suchte er in Tübingen (1549) einen Einblick in die aristotelische Philosophie zu gewinnen, desgleichen begann er hier und zwar in autodidaktischer Weise Mathematik, Physik und Heilkunde zu studieren und seine spätere grosse Vertrautheit mit Geometrie und höherer Rechenkunst war zum grössten Teil das Ergebnis jenes Tübinger Aufenthaltes gewesen. Als die bisherigen Unterstützungen von Augsburg ausblieben, musste er Tübingen verlassen und die Not trieb ihn in seine Vaterstadt zurück, wo er aber von neuem einen Gönner fand in der Person des Ratsherrn Heinrich Herwart, der ihm (Seite 69) durch seine liebevolle Aufname eine wertvolle Stütze wurde. Dieser Umstand und die philosophischen Gedankengänge des Hyron. Wolf, dessen Verkehrs er sich erfreuen durfte, waren von nun ab für Xylander die einzigen Gründe, die ihn bestimmten, trotz seiner grossen Dürftigkeit sich immer wieder für das wissenschaftliche Arbeiten zu begeistern. In diese Zeit fiel die vollendete Uebersetzung der vier ersten Bücher des Euklids ins Deutsche und ihre Uebergabe an den Augsburger Magistrat (1555) und die Herausgabe der Lehrbegriffe des Psellus (Basel 1556, Zürich 1558, Wittenberg 1556, 1560 auch Heidelberg 1591)(123). Den sparsamen Ausführungen des Psellus über die vier Lehrbegriffe Arithmetik, Musik, Geometrie und Astronomie setzte Xylander nur wenige Anmerkungen hinzu und verwies bisweilen auf seine 1555 fertiggestellte Euklidausgabe (Buch I – IV). Interessant ist eine Auseinandersetzung an einer Stelle des Buches, wo er die mathematische Wissenschaft definiert und streng begrenzt. Sie sei die Lehre von gewissen Erkenntnissen und sei auch von der angewandten Mathematik streng zu scheiden, da diese eher Beziehungen zum Kunsthandwerk als zur Wissenschaft habe. Nach Xylanders Ansicht sollte diese Neuausgabe des Psellus, die in lateinischer und griechischer Sprache veranstaltet worden war, geeignet sein, im Unterricht der Anfänger benutzt zu werden, was wohl auch geschehen sein mag. Sie konnte aber auch hier keinen besonderen Wert haben, der eigentlich nur darin lag, einen grösseren Kreis zum ersten Male von der Existenz dieses Kompendiums in Kenntnis gesetzt zu haben.
Während er von dem geringen Ertrag der Drucklegung seiner Arbeiten lebte, war in Heidelberg durch den Tod des Micyllus die Professur der griechischen Sprache ledig geworden. Eine grosse Zahl von Bewerbern hatte sich für diesen berühmten Lehrstuhl gemeldet und auch der vielversprechende Xylander war von dem einflussreichen Th. Erast vorgeschlagen (Seite 70) worden. Nur den empfehlenden Worten und dem eifrigsten Zureden seines Freundes verdankte es Xylander, dass er der Erwählte wurde und manche von bedeutenden Männern gestützte Mitkonkurrenten — selbst Sturm aus Strassburg hatte sich für einen seiner Freunde verwandt — zurücktreten mussten. Mit grossen Hoffnungen eilte er (1558) nach Heidelberg, ein lang ersehnter Wunsch war in Erfüllung gegangen.
Die Versehung der mathematischen Professur im Jahre 1561 und seine wahrscheinlich auch im Winter 1562/63 gehaltenen mathematischen Vorlesungen(124) wurden ihm Anregung und Anlass, griechischen Mathematikern weiterhin seine Aufmerksamkeit zu schenken. Zunächst vervollständigte er seine Tübinger Euklidausgabe durch Hinzufügung des fünften und sechsten Buches. Das Gesamtwerk lautete nun "Die 6 ersten Bücher Euklidis vom Anfang oder Grund der Geometrie Basel 1562", war die erste deutsche Bearbeitung dieses Stoffes, aber auch die erste in einer lebendigen Volkssprache überhaupt und bildete eine wertvolle Ergänzung des siebten bis neunten Buches, das gleichfalls in deutscher Sprache — man kann sagen auch um die gleiche Zeit (1558) von Johann Scheybl herausgegeben worden war. Xylander hat seiner Uebersetzung einen eigenartigen Karakter verliehen, sie sollte weniger für Gelehrte, als für Künstler, Baumeister und Handwerker geschrieben sein und für solche, die sich ohne Anstregung mit der Schönheit griechischer Mathematik beschäftigen wollen. Aus diesem Grunde sind die Beweise durch passende Zahlenbeispiele grösstenteils ersetzt worden oder wir finden weder das eine noch das andere. Auch auf die Lehre der Parallellinien und Berührungen wird nicht näher eingegangen. Sein Versprechen bei günstiger Aufnahme seines Werkes auch die übrigen Bücher zu übersetzen, hat er nicht erfüllt. Man ist versucht anzunehmen, dass seine sonstige starke Inanspruchnahme ihn davon abgehalten hat und durch das Erscheinen der arithmetischen (Seite 71) Bücher (VII – IX) durch Scheybl die Basis seinem Versprechen genommen worden war. Im Uebrigen fand seine Uebersetzung Anklang. Der Leidener Feldmesser Joh. Peter Dou übertrug sie 1602 ins Holländische, von wo sie wieder 1618 und 1634 durch Sebastian Curtius aus Nürnberg zurückübersetzt und in Amsterdam aufgelegt wurde. In seiner Vorrede spricht Dou von Xylanders klarer Darstellungsweise, die geeignet sei zu eigenem Schaffen anzuregen, was die Beweise anbelangt, so hätten ihm die aus der französischen Ausgabe des Errard de Barleduc mehr zugesagt, weshalb sie auch von ihm zur Ergänzung mitverwendet worden seien(125).
Xylanders ansehnlichste und alle übrigen mathematischen Arbeiten überragende Leistung war die Uebersetzung des Diophanttextes (griech.) ins Lateinische. Diophanti Alexandrini Rerum Arithmeticarum libri sex ... Basel 1575 nannte sich sein Werk. Der grosse Arithmetiker Diophant war bisher in der gelehrten Welt noch wenig beachtet worden. Beim Studium des Suidas und durch einige Nachrichten von vatikanischen Schriften sties er zuerst auf den ihm sofort Interesse einflössenden Namen. Ein Manuskript war jedoch nicht so ohne weiteres zu bekommen, und er musste sich gedulden, bis die Vorlegung eines Diophantbruchstückes durch die Wittenberger Professoren Seb. Theoderich und Wolfgang Schuler der Angelegenheit die entscheidende Wendung gab. Das Gesamtwerk befand sich in Händen des kaiserlichen Gesandten am polnischen Hofe A. Duditius Sbardellatus, der schon früher mit Xylander in brieflichem Verkehr gestanden hatte und seine mathematischen Kenntnisse schätzte. Duditius konnte zur Herausgabe bewogen werden und Xylander versprach seinerseits nach Möglichkeit die Uebersetzung durchzuführen. Obwohl ihm Stifel, Cardan, Nonius, Rudolph bekannt waren, machte Diophant bei seiner Bearbeitung einen ungewöhnlich starken Eindruck auf ihn. Er ahnte die Grösse seiner Tat. Was bedeuten dieser wissenschaftlichen Leistung ersten Ranges des (Seite 72) Heidelberger Gelehrten gegenüber die kleinen Fehler, die sich schon durch die ungemeinen Schwierigkeiten, nicht seltenen Verstümmelungen und Fehler des Textes entschuldigen lassen? Ein Werk war entdeckt und der Allgemeinheit zugeführt worden, mit dem sich die Mathematiker in der Folgezeit beschäftigen mussten. Der beste Beweis für die allgemeine Beachtung, die die Uebertragung Xylanders bei den Zeitgenossen fand, sind markante Beispiele für ihre anregende Wirkung auf dem literarischen Gebiete. Der Belgier Simon Stevin übersetzte die vier ersten Bücher in die französische Sprache (1585), und Girard gab diese nach Hinzufügung des fünften und sechsten Buches nochmals in Leiden (1634) heraus. Als Claude Gaspard de Méziriac einen griechischen Textabdruck einer Pariser Handschrift veranlasste,verglich er (1621) diesen neben zwei anderen Translationen mit der des Xylander(126).
Von seinen sonstigen Arbeiten interessieren uns nur noch seine "opuscula mathematica Heidelberg 1577 excudebat Jacobus Mylius impensis Matthaei Harnisch", die letzte von ihm vollendete Schrift. Sie zerfällt in: aphorismi cosmographici de minutiis, de surdorum numerorum natura et tractatione und de usu globi et planisphaerii. Deutliche Anleitung und beigefügte Beispiele erhöhten ihren Wert(127). Erwähnen kann vielleicht sein poetisches "Schediasma Horologium Argentinense" und eine prosaische Zuschrift an den Rat der Stadt Strassburg, in der er die Vollendung der berühmten Uhr (Bauzeit 1571 – 1574) verherrlichte(128). Seine zahlreichen Arbeiten auf dem philosophischen Gebiete sind an anderer Stelle zu würdigen, für uns ist lediglich ein Verweis auf diese notwendig, um ein klares abgerundetes Bild seiner Persönlichkeit zu erhalten.
Seine eifrige Tätigkeit im Dienst der Wissenschaft und der Hochschule konnten Xylander vor bitterer wirtschaftlicher Not nicht schützen. Seine reichliche literarische Produktion war nicht wenig durch sie bedingt, und manchmal wurde unter dem Druck der Verhältnisse eine Ausgabe beschleunigt, ohne dass (Seite 73) es für sie ein Vorteil gewen wäre. Mittellos war er nach Heidelberg gekommen, mittellos blieb er bis zu seinem Tode, sodass er nicht selten der Universität und dem Fürsten seine Not klagen und um ihre Linderung bitten musste. Zur wirtschaftlichen Bedrängnis kam eine von ihm nicht gewollte Verwickelung in religiöse Streitigeiten(129). Gefühle der Freundschaft und der Dankbarkeit hatten Xylander eng an Th. Erast gekettet, und als dieser der arianischen Ketzerei beschuldigt wurde und sich den Zorn des Hofes zugezogen hatte, wurde Xylander in diese trübe Angelegenheit hineingerissen und, obgleich sich seine Unschuld bald erwies und seine verlustig erklärte Professorenstelle ihm zurückgegeben wurde, litt er schwer unter den Vorkommnissen. Sein Freund Erast, ohne Familie und kraft eines persönlichen Wohlstandes, war weit eher in der Lage fest und stark in die Zukunft zu schauen. Jahre der Arbeit, die trotzdem Jahre steter Sorge um sich und die Seinen und Jahre des Grames um ein Schicksal waren, das er sich anders, vielleicht nicht weniger arbeitsvoll als ruhiger und abgeklärter erdacht hatte, brachten ihm, der schon an menschlicher Güte und Grossmut zu zweifeln angefangen hatte, einen frühzeitigen Tod (10. Febr. 1576).
Wenn auch Xylanders Schaffenskraft sich auf die verschiedensten Gebiete verteilte, durch seine vielseitige literarische Aktivität und alle die Lehrstühle, die er inne hatte — er bekleidete den der griechischen Sprache, der Mathematik, den des aristotelischen Organon und den der Ethik (1569–1570) — so ist seine grosse Persönlichkeit nicht mehr aus der Geschichte der Mathematik zu tilgen, zu gross waren seine Verdienste um ihre Fortentwicklung, um ihre Vertiefung und Verbreitung geworden. Und doch hätten wir gerne noch etwas anderes von ihm gesehen. Xylander war der Mann, eine grosse mathematische Aera in Heidelberg zu eröffnen, und besonders als Petrus Ramus sich hier aufhielt, war der Zeitpunkt dazu günstiger denn je. Aber es ist schade, dass (Seite 74) diese Männer mit soviel Verständnis und Liebe zur Mathematik nicht den Boden eines gemeinsamen mathematischen Schaffens konnten und dass auch die Geschichte des mathematischen Unterrichts in Heidelberg darauf verzichten muss, bei Nennung ihrer Namen eine durch sie bedingte nicht gewöhnliche Blütezeit anzuführen.
Die Professur der Ethik versah vor Xylander Vict. Strigelius, von 1548 – 1563 in Jena und von 1563 – 1567 in Leipzig Professor der Theologie, der der Verfasser eines "Arithmeticus libellus, Leipzig 1563" und eines epitome doctrinae de primo motu, aliquot demontrationibus illustrata, Leipzig 1564, 1592, Wittenberg 1565" war.(130)
Anstelle eines Xylander und eines Ramus lehrte seit 1568 ein Vetterssohn Simon Grynaeus des älteren, Simon Grynaeus der jüngere, Mathematik. Da er erst 1539 in Bern geboren worden war, war er der jüngste der ordentlichen Dozenten. Seine vielseitige Bildung und erfolgreiche Lehrtätigkeit fanden Anerkennung. Von seiner anfänglich recht schlechten Bezahlung — 60 Gulden im Jahre und freie Wohnung im Dionysium — seiner zufälligen Abwesenheit auf der Frankfurter Buchmesse, als es galt einen Einblick in Vorlesungen und ihren Besuchen zu gewinnen und seiner seit 1568 gleichzeitigen medizinischen Professur, für deren Zwecke er das erste um den hohen Preis von 50 Gulden in den Besitz der Universität übergegangene Skelett herstellte (1569), haben wir schon gesprochen. Das Dekanat der philosophischen Fakultät und das Rektorat bekleidete er in den Jahren 1565, 1575 bezw. 1578, 1579. Seine Verwicklung in die arianischen Händel hätte Grynaeus beinahe die mathematische Professur gekostet, der Kurfürst hatte dringend verlangt, dass an seine Stelle Hermann Witekind trete(131). Aber Grynaeus blieb, bis er im Jahre 1580 Heidelberg verlassen musste, da er die sogenannte Konkordienformel (Seite 75) nicht unterschreiben wollte, und sich als Professor der Philosophie nach Basel begab, wo er 1582 starb. Seine literarischen Leistungen beschränkten sich auf die Abhandlungen "de meteoris ignitis", "de utilitate historiae" und einigen sonstigen Traktaten.
Nur für einen kleineren Zeitabschnitt (1580 – 1584) verweilte der Mathematiker und Astronom Michael Maestlin, der bedeutendste Schüler des Philipp Apian (1535 – 1589), in Heidelbergs Mauern. Auf Bitten des Kurfürsten Ludwig VI. (1576 – 1583) hatte ihm der Herzog Ludwig von Württemberg und Teck zunächst zwei Jahre Urlaub gewährt, um in Heidelberg die mathematische Professsur zu versehen, jedoch hatte er das Versprechen geben müssen sich jederzeit auf Wunsch wieder zur Verfügung zu stellen(132). So war es auch wieder ein Machtwort des Fürsten, der seiner Lehrtätigkeit in Heidelberg ein Ende bereitete. Maestlin wäre gern geblieben, er fühlte sich aber dem Herzoge gegenüber zu sehr verpflichtet, als dass er selbständig in dieser Angelegenheit hätte handeln wollen und können und bat nur den pfälzischen Fürsten Schritte zu unternehmen, um sein Bleiben sicherzustellen(132). Diese waren ohne Erfolg, da durch die Weigerung des Apian, die Konkordienformel in Tübingen zu unterschreiben, die mathematische Professur an dieser Universität frei geworden war(133), und Ludwig von Württemberg auf seinem Befehle bestand.
Maestlin war eine bedeutende Lehrkraft und seine akademische Lehrtätigkeit hatte ihm in Italien, wo er mehrere Jahre verweilte, den grössten Ruhm erbracht. Dort soll er auch als ein strenger Anhänger und energischer Verfechter der koppernikanischen Lehre Galilei zu ihr bekehrt haben(134). Seinen grössten Schüler nannte er Kepler. In vorgerückteren Alter nahm er besonders gegenüber den Logarithmen und ihrer unbeschränkte Anwendung eine abwartende und misstrauische, um nicht zu sagen feindliche Haltung ein, ein Zeichen, dass (Seite 76) er sich mit der neueren Entwicklung seiner Wissenschaften nicht mehr befreunden konnte. Seine literarische Tätigkeit bestand in kleineren Lehrbüchern der Trigonometrie und Geometrie und astronomischen Abhandlungen, sie fällt aber grösstenteils nicht in die Zeit seines Heidelberger Aufenthaltes. In Heidelberg gab er heraus "consideratio et observatio cometae 1581", "de principalibus et primis fundamentis astronomiae 1582" und "epitome astronomiae 1582"(135). Dieser 495 Seiten starke Auszug aus der gesamten Astronomie muss sich einer grossen Beliebheit erfreut haben, er wurde später nachweisbar noch sechsmal in Tübingen aufgelegt. Damals war die Heidelberger Universität von dem Pabst und dem deutschen Kaiser wegen der auf dem lateranischen Konzil 1514 zum Vorschlag gebrachten Kalenderreform um ihre Ansicht gefragt worden(136). Die Antwort an den Kaiser befindet sich in Hottingers "oratio de collegio sapientiae". In der Pfalz waren sowohl die Lutheraner in Heidelberg als auch die Reformierten in Neustadt, wohin ein grosser Teil der die Unterschrift unter die Konkordienformel verweigernden reformatorischen Professoren fliehen mussten, für eine Kalenderreform nicht zu gewinnen. Maestlin schrieb seinen "Bericht von der allgemeinen und nunmehr bei 1600 Jahren von dem Kaiser Julian bis jetzt gebrauchten Jahrrechnung und Kalender Heidelberg 1583", in dem er sich nicht scheute die gregorianische Reform einer Kritik zu unterziehen, die weniger aus den ihr anhaftenden Fehler folgerte, als eine allgemeine Zeitschwäche bewies, wissenschaftliche Objektivität religiösem Fanatismus zu opfern. Maestlins Schrift und dessen Mitstreiter Scaliger und Vieta sind bald darauf durch eine Gegenabhandlung des Christoph Clavius auf literarischem Wege bekämpft worden(137). Maestlins Werke standen wohl vor allem wegen der Verteidigung der koppernikanischen Lehre auf dem Index der verbotenen Bücher. (Seite 77)
Nach Michael Maestlin übernahm Hermann Witekind die mathematische Professur(138). Geboren 1514 zu Neuenrade an der Lenne (Grafschaft Mark in Westfalen) studierte er in Frankfurt an der Oder und genoss in Wittenberg den Unterricht Melanchthons. Nach Heidelberg kam er im Jahre 1561, fand aber kein Betätigungsfeld, sodass er sich schliesslich gezwungen sah, das Pädagogium zu leiten (1563). Seine Beziehungen zu dieser Anstalt, die von der Universität und dem Kirchenrat beaufsichtigt wurden, sind, obgleich er sehr bald sein Amt mit dem griechischen Lehrstuhle vertauschte, stets sehr rege geblieben, sein Name wurde in der Folgezeit unter dem Pädagogiumsinspektoren öfters genannt. Die durch die Regentschaft Ludwigs VI. eingeführte lutherische Lehre lies ihn von Heidelberg weichen und seine Lehrtätigkeit an der von dem reformierten Joh. Casimir, einen pfälzischen Prinzen, gegründeten Hochschule in Neustadt fortsetzen. Ludwigs Tod (1583) und die Regierung Joh. Casimirs riefen Witekind nach Heidelberg zurück und gaben ihm den mathematischen Lehrstuhl, nachdem ein Vorschlag einen gewissen Kreuterer anzustellen an dem beharrlichen Widerstand des Fürsten sich zerschlagen hatte(139).
Sämtliche Arbeiten, die Witekind in Druck gab, erschienen in der Zeit vor seiner mathematischen Professur. In der Karlsruher Bibliothek befindet sich von ihm ein Traktat "de sphaera mundi et temporis ratione apud christianos", der 1574 zu Heidelberg und 1590 zu Neustadt aufgelegt wurde, in der Heidelberger eine Schrift für Feldmesser, betitelt "bewerte Feldmessung und Teilung Heidelberg 1578", die entsprechend dem Zwecke, dem sie dienen sollte, geschrieben war und zum zweiten Male in Strassburg gedruckt wurde(140), Cantor erwähnt "de doctrina et studio astronomiae"(141) und Kästner beschreibt eine Abhandlung Witekinds über Sonnenuhren aufgelegt zu Heidelberg 1576(142). Wichtiger erscheint sein (Seite 78) "arithmeticae practicae compendium", das erst 1620 von Heinrich Alsted (1588 – 1638) herausgegeben wurde und auch gewisse Beziehungen zu einem im gleichen Jahr zu Herborn herausgekommenen encyklopädischen Werke Alsteds haben mag. Bekanntlich hat auch Leibniz diesem seine Beachtung geschenkt und es gelobt(143) Als Mensch zeichnete sich Witekind aus durch einen lauteren und uneigennützigen Karakter, der sich nur von den Prinzipien reiner Menschlichkeit leiten liess. Seine scharfe gegen die Greuel der Hexenprozesse vorgehende Kampfschrift ist ein Zeichen dafür und zeigt, wie allgemein interessiert und oft von Zeitstreitigkeiten erfasst die Hochschulprofessoren waren. Eng befreundet mit Witekind war der Holländer Lamb. Ludolph. Pithopaeus, Professor der Philosophie (Poetik), der im Sapienskollegium, einem 1555 von Friedrich II. gegründeten Artistenseminar und seit 1560 Predigerseminare, Mathematik und Stilestik lehrte(144). Von ihm ist nur bekannt, die Abhandlung "de astronomia 1589"(145). Witekind übte seine mathematische Lehrtätigkeit während siebzehn Jahren aus. Im Juni 1601 wies der Kurfürst den Senat der Universität an wegen seiner grossen Verdienste dem Witekind trotz seiner Unfähigkeit zu lehren im Genusse seines Einkommens weiterhin zu belassen(146), ohne dass es dem greisen Professoren gegönnt sein sollte, noch lange Zeit die Gunst des Fürsten und der Universität in Anspruch nehmen zu können. Im Jahre 1603 verschied er.
An seine Stelle trat Simon Petiscus Anhaltinus, der zugleich mit der Ernennung zum Lizentiaten (1603) und seiner Promotion zum Magister der Philosophie in feierlicher Sitzung der mathematische Lehrstuhl übertragen wurde. Von ihm selbst weiss man wenig. Petiscus bekleidete 1606 das Dekanat und vertrat Joh. Casimir, der aus Krankheitsgründen das Rektorat niedergelegt hatte(147). Nach Töpkes Matrikel starb er im Jahre 1608.
(Seite 79) Nach ihm scheint die mathematische Professur eine bestimmte Zeit ledig geblieben zu sein, bis sie im Jahre 1610 von Jungnitius Christophorus bekleidet wurde(148). Auch von ihm haben wir nur wenig zu berichten. In seine Amtszeit fiel der Beginn der kriegerischen Ereignisse, die die zeitweise Einstellung des Hochschullebens nach sich zogen. Dadurch dass Jugnitius Christophorus 1625 zum katholischen Glauben übertrat, wurde es ihm ermöglicht in Heidelberg zu verweilen, Universitätsgeschäfte zu besorgen und bei der episodenhaften Wiedererrichtung der Universität (1629) eine Anstellung als Professor der Medizin zu erhalten.
Letzte Änderung: Februar 2024 Gabriele Dörflinger Kontakt
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