Studien zur Geschichte der Mathematik ... / Erwin Christmann

Ergebnisse der Hochschulreformationen in Bezug auf den mathematischen Unterricht.

S. 43-64 aus:
Christmann, Erwin: Studien zur Geschichte der Mathematik und des mathematischen Unterrichts in Heidelberg : von der Gründung der Universität bis zur combinatorischen Schule. - 1924. - 164 S.
Univ. Heidelberg, Diss., 1924
Signatur Univ.-Bibl. Heidelberg: W 3461

Abschrift: Gabriele Dörflinger


Kapitel II.   Die Mathematik in Heidelberg im 16. Jahrhundert.

Abschnitt z.   Ergebnisse der Hochschulreformationen in Bezug auf den mathematischen Unterricht.

Der Humanismus und in engerem Sinne die Rheinische Gesellschaft besass also eine starke Tendenz, das wissenschaftliche Leben und die Pflege der Mathematik nach neuen Grundsätzen anzuregen und in Heidelberg heimisch zu machen; da erhebt sich nun die Frage, warum verspüren wir von all dem nichts an der Heidelberger Hochschule. Die Gründe müssen in einer kaum denkbaren Abgeschlossenheit und einem gewaltsamen Sichabschliessens zu suchen sein. So kam es auch, dass die sodalitas litteraria Rhenana sich während der Zeit ihres Bestehens den Verhältnissen an der Hochschule gegenüber (Seite 44) machtlos zeigte, andererseits aber ist ihre Tätigkeit in ihrer Auswirkung nicht umsonst gewesen. Die Kraft des von ihr geweckten Geistes und ihrer auf Reformationen drängenden Gedanken erwies sich erst deutlich, als die Rheinische Gesellschaft durch ihren langsamen Verfall und ihr Versinken in die Vergessenheit sowohl die Erfüllung ihrer von der Zeit gestellten Aufgaben und als auch deren Unlösbarkeit hätte bestätigen können. Aber was sie verfochten hatte, war zum Ideal hervorragender Männer und einer breiteren Schicht des geistigen Lebens geworden, zu seinem Ideal, das in seiner Realisation die Befriedigung des Wunsches und die Belohnung des immer intensiveren Strebens bedeutete. Das vornehmste Erbteil der Rheinischen Gesellschaft hatte der kurpfälzische Hof übernommen, die Erneuerung des Heidelberger Hochschulstudiums.

Es war auch höchste Zeit, dass in dieser Sache etwas geschah. Die Frequenz der Universität sank, ein äusseres Zeichen des Daniederliegens. Durch Schaden sollte man auch hier klug werden. Die Artistenfakultät wollte den Zeitverhältnissen Konzessionen machen und bemühte sich durch Berufung von humanistischen Grössen eine neue Zugkraft auf Studierende auszuüben und dem gänzlichen Verfalle einen Damm zu bauen(73). Dies war aber nur ein kümmerlicher Notbehelf, solange nicht die noch mittelalterliche Einstellung des Studiums durch Ideen der neuen Geistesströmungen ersetzt wurden. In Erkenntnis dessen wurden berühmte Persönlichkeiten um ihr Urteil gefragt. Auf Wunsch des pfälz. Kanzlers Florentius von Venningen legte Jakob Sturm aus Strassburg seine Ansichten über die notwendige Reform des Heidelberger Studiums dar(74). Was das Gebiet der freien Künste anbelangt, so bedauerte er aufs lebhafteste die ungünstigen Verhältnisse beim mathematischen Unterrichte, der in Händen von Dozenten liege, die vielleicht in einem anderen (Seite 45) philosophischen Unterrichtsfache recht gut beschlagen sein mögen, aber in Mathematik noch nicht die Anfangsgründe ihr Eigentum nennen könnten(75). Sturm mahnte dringend, endlich eine Nominalprofessur zu errichten. Aehnlich ist die Antwort des kaiserlichen Rates Jakob Spiegel. Neben der unumgänglichen Notwendigkeit eines mathematischen Lehrstuhles betonte er den allgemeinen Nutzen für das Ansehen der Universität. Wien, das offenbar für die Zeitgenossen die Hochburg des mathematischen Unterrichts darstellte, auf die man sich immer gerne bezog, sei hierin das beste Beispiel(76).

Eine wohl die Verhandlungen mit Sturm und Spiegel berücksichtigende Reformation aus dem Jahr 1522 hat wahrscheinlich nicht viel Neues gebracht, oder ist nur lückenhaft durchgeführt worden. Die diesbezüglichen Akten sind verloren gegangen(77), es scheint aber hier zum ersten Male eine Fachprofessur der Mathematik vorgesehen gewesen zu sein, ohne dass man ernstlich daran gedacht hatte, sie auch wirklich zu besetzen. So richtete der Kanonikus Wendelin Sprenger, ein Schüler des Joh. Virdung, dessen Vorlesungen über die principia astronomiae er nachweislich gehört hatte, an den Kurfürsten das Ersuchen sich für eine Beurlaubung seiner Person zu verwenden, die ihm Gelegenheit bieten sollte, sich bei dem Mathematiker Jak. Curio in Mainz, dem späteren ersten Nominalprofessoren für die Mathematik, weiter bilden und das für eine ordentliche Professur nötige Rüstzeug holen zu können. Obwohl der Kurfürst in einem Rescript (1540), das geltend machte, dass an der Universität ein mathematischer Lehrstuhl "vermöge unserer Ordination" sein sollte, ihr ihn und seinen Willen "mit solcher Kunst zu gutem erspriessen" empfahl, verweigerte diese den Urlaub mit dem Hinweis auf die Bedingungen, unter denen er sein Kanonikat übernommen hätte(78). Nicht unwesentlich mag zu dieser Entscheidung (Seite 46) die wirtschaftliche Notlage der Universität beigetragen haben. Erhielt doch später (1545) ein magister philosophiae nur unter der Voraussetzung die Erlaubnis, Mathematik zu lehren, wenn er auf ein Gehalt von seiten der Universität verzichte und sich mit dem ihm zugestandenen Recht, von seinen Hörern ein Salär verlangen zu dürfen, zufrieden gebe(79). Wendelin Sprenger suchte indessen seine mathematischen und astronomischen Studien in Heidelberg selbst fortzusetzen ohne mit dem entsprechenden Hochschulunterricht wieder in Berührung zu kommen. Für seine Arbeiten stellte ihm, als er das Amt eines Dechanten bekleidete, der spätere Kurfürst und für die gleichen Wissensgebiete begeisterte Pfalzgraf Ott Heinrich die nötigen Bücher und Instrumente zur Verfügung(80). Die Zeichen häuften sich, dass der Tag kommen werde, an dem die mathematische Professur, gestützt durch die Anschauungen und hohe Einschätzung hervorragender Persönlichkeiten, Gelehrten und Fürsten, in Heidelberg ihren Einzug halten musste.

Mitten in der Zeit des Gebärens bekleideten zwei Romanisten in Heidelberg Lehrstühle, deren Namen in der Geschichte der Mathematik genannt werden. Simon Grynaeus der ältere und Sebastian Münster. Nicht zur wünschenswerten Erneuerung und Auffrischung des mathematischen Studiums, sondern zur Hebung der gleichfalls daniederliegenden humanistischen Fächer hatte man sie hierher berufen. So kam es auch, dass weder Sebastian Münster(81) (1489 – 1552), ein angesehener Hebraist und Kosmograph, ehemaliger Schüler des Mathematikers und Astrologen Joh. Stöffler, in Heidelberg von 1524 – 1527 Professor der hebräischen Sprache, noch Simon Grynaeus an unserer Hochschule mathematischen Unterricht gaben, sondern vor allem die Aufgabe hatten, das (Seite 47) Schicksal mancher anderen Universität, die vollständige Einstellung des Hochschullebens, die beispielsweise in Basel, Erfurt und Frankfurt a.d. Oder erfolgen musste(82), von der Heidelberger Universität abzuhalten. Simon Grynaeus der ältere (83) (1495 – 1541) war in Heidelberg von 1524 – 1529 Professor der griechischen, seit 1526 auch der lateinischen Sprache. Seine Fähigkeiten auf diesem Gebieten benutzte er, nachdem er wegen schlechter Besoldung und des immer noch herrschenden Scholastizismus gerade wie Seb. Münster Heidelberg den Rücken gekehrt hatte, nun mit grosser Hingabe griechische Mathematiker zu veröffentlichen. Am Orte seiner neuen Wirksamkeit, in Basel, wo er als ein Anhänger kirchlicher Reformationsideen einen theologischen Lehrstuhl bekleidete, lies er die euklidischen Elemente (1533) nebst den Erläuterungen des Proklus und des Theon, den Almagest des Claudius Ptolomaeus mit dem Kommentar des Theon (1538) und einen Abriss der Astronomie des Proklus Diadochus (1540) im Urtext auflegen. Die bei weitem grösste Bedeutung erlangte seine Euklidausgabe. Sie gab die ersten Anhaltspunkte über Unrichtigkeiten, Verstümmelungen in den lateinischen Uebersetzungen, manches Vergessene brachte sie wieder ans Tageslicht, manches wertlose Angebinde konnte wieder getilgt werden. Die Auswirkungen sener Tat versteht man, wenn man bedenkt, in wie grossem Masse das mathematische Wissen dieser Zeit von dem Griechen abhing und wieviel Anregungen durch sie den folgenden Generationen gegeben worden waren. Petrus Ramus, jener grosse Franzose, auf den wir noch öfters in diesem Jahrhundert zu sprechen kommen werden, hat in richtiger Erkenntnis ihres Wertes dieser Ausgabe eine ungeteilte Bewunderung gezollt und den Kommentar des Proklus selbst dazu benutzt, um in seinen dreibändigen Geschichtswerke, scholae mathematicae 1567 das damals über der griechischen Mathematik noch ruhende Dunkels an Hand (Seite 48) wertvoller Stellen zu lichten.

Die Lehrstelle des Grynaeus übernahm 1533 Jakob Micyllus(84) (1503 – 1558) aus Strassburg, auch Jakob Molterer genannt, der von nun ab, obgleich seine Studien und Fähigkeiten mehr auf dem Gebiet der lateinischen Sprachforschung lagen, in zwei Abschnitten(85), von 1533 – zum Sommer 1537 und von 1547 – zu seinem Tode, diese Professur in Heidelberg versah. Im Jahr 1550 fiel ihm die Revision der Statuten der Artistenfakultät zu. Für uns gewinnt sein Name Bedeutung, weil wir in ihm einen Vorkämpfer des mathematischen Unterrichtswesens sehen. Sein grosses Interesse zeigte er zunächst als Leiter einer 4 – 5 klassigen Schule in Frankfurt, die auf seinen Antrieb hin als die erste der neben sonst in solchen Schulen üblichen Fächern Arithmetik lehrte. Diese Tätigkeit fiel in die Zeit vor und nach seiner ersten Heidelberger Professur. Um dem mathematischen Unterrichte die nötige Grundlage zu geben, schrieb er seine auch für Universitäten gedachten "Arithmeticae logisticae libri II., ex diversis scriptoribus iisdemque utilissimis illustravit, Basel 1555" (zweite Ausgaqbe Basel 1555/56). Dieses Lehrbuch führte er an der Frankfurter Schule persönlich ein, ob es auch an Universitäten ob es in Heidelberg Eingang fand, steht nicht fest. Bei dem nicht geringen Ansehen seiner Person wäre dies jedoch nicht ausgeschlossen. Wie schon aus dem vollständigen Titel hervorgeht, hat er verschiedene arithmetische Schriftsteller verarbeitet. Man kann sich veranlasst fühlen, an den Italiener Paolo Dagomari zu denken und an seine Werke, die nach einer von Cantor nicht näher bezeichneten Angabe im Jahre 1538 in Basel mit erläuternden Zusätzen des Micyllus im Druck erschienen sein sollen(87). Cantor selbst setzt das Vorhandensein dieser Ausgabe in Zweifel und nur das eine ist gewiss, dass zwischen Micyllus und Dagomari irgend ein bestimmter Zusammenhang bestehen muss. Anlässlich der Drucklegung seines Werkes richtete er an das Professorenkollegium in Heidelberg einen (Seite 49) Brief und betonte, es liege ihm fern, etwas Neues zu bringen, allein die Ueberzeugung von dem grossen Werte der Anfangsgründe habe ihn dazu verleitet, zu dieser Bearbeitung des arithmetischen Stoffes zu schreiten, die den Eifer im mathematischen Studium anregen sollte(88). Die gleiche Absicht verfolgte er mit der ersten Drucklegung des poeticon astronomicon libri IV und der Herausgabe des griechischen und lateinischen Textes der Sphaeron des Proklus (Basel 1535)(89.). Bei seinen Zeitgenossen galt Mycyllus viel, seine mathematischen Kenntnisse nannte Melanchthon ausgezeichnet(90). Jedenfalls hatte der Heidelberger Professor mit den Anschauungen seines Lehrers und innigen Freundes Melanchthon über das Erziehungswesen vieles gemein, und was den mathematischen Unterricht anbelangt, so waren beide davon überzeugt, dass ihm bei der Neugestaltung der Universität eine selbständige, unabhängige Stellung eingeräumt werden müsste. In diesem Sinne machten sie auch ihren Einfluss geltend, der des Micyllus ist im einzelnen nicht so sehr zu verspüren, aber was er dachte und wollte, das hat er tatkräftig durchzusetzen versucht, ohne dass wir aus der Umgestaltung der Universität herausschälen können, was wir speziell den Auswirkungen seiner Persönlichkeit und seiner Initiative zu verdanken haben. Bei der Nennung des Namens Melanchthons aber denken wir sogleich an den Praeceptor Germaniae, der mit seinem umspannenden Interesse und Geiste an die Spitze der reformierenden Bewegung des Unterrichtswesens getreten war, der mehrmals nach Heidelberg berufen wurde, wenn auch erfolglos, der schriftliche Anregung gab, die Heidelberger Universität im Sinne der Wittenbergischen zu reformieren, der zweimal in dieser Angelegenheit in der Pfalz verweilte (1524; 1557), der in ständigem geistigen Verkehr mit dem Kurfürsten (Seite 50) Friedrich II (1544 – 1556) und mit dessen Neffen Ott-Heinrich stand und schließlich zugleich mit Micyllus den fertiggestellten Reformationsentwurf mit eigenhändigen Notizen versah. Das mathematische Studium erhielt nach der durchgeführten Neuordnung der Universität ein Gepräge, das den Auffassungen eines Melanchthons, eines Micyllus und vieler ihrer Mitarbeiter und Zeitgenossen entsprach(91).

Die Ziele, die dem mathematischen Hochschulunterricht im 16. Jahrhundert gesteckt worden waren, sind mit denen von heute noch nicht in Einklang zu bringen. Ja, man findet noch so wenig Uebereinstimmung, dass man, ohne ein zu schroffes Urteil zu fällen, ruhig sagen kann, was in der Blüte- und Ausgangszeit der Scholastik Endwerk war, hat auch jetzt noch Geltung. Der Humanismus hatte hieran nichts geändert. Mathematik um ihrer selbst willen auf den Hochschulen zu betreiben, eine Errungenschaft einer viel späteren Zeit, konnte den Humanisten bei ihrem wirklich aufrichtigen Streben nach der Belebung einer auf den verschiedensten Gebieten liegenden geistigen Bestätigung, nicht gelingen. War die Wertschätzung einer jeden speziellen und individuellen Forschungen und die Anregung dazu durch den Hochschulunterricht ein Grundzug der neuerstandenen humanistische Aera, so wurden doch sprachwissenschaftlichen Studien mit einer überragenden Sorgfalt betrieben, da man in ihnen den Weg zum Verständnis und zur Wiedergeburt der antiken Geisteswelt sah, ausserhalb der es für den Vollbluthumanisten ursprünglich nichts Wissenswertes gab.

Andererseits war aber auch eine zur Fundierung eines ausgedehnteren mathematischen Hochschulunterrichts notwendige Grundschule mit einem bestimmten Teil elementarer Mathematik auf ihren Lehrplan erst im Entstehen begriffen. Das Paedagogium in Heidelberg, dessen Geschichte von Fr. (Seite 51) Hautz geschrieben worden ist, führte als Lehrgebiet aus der Mathematik nichts auf. Andere derartige Schulen, die ihre Existenz und Organisation grösstenteils den Humanisten verdankten, so entsprechende Anstalten in Wittenberg, Strassburg, in Braunschweigischen u.a.m. brachten nur sehr geringe Ansprüche befriedigende "rudimenta mathematica", deren Lehre übrigens noch abhängig gemacht wurde von einem angemessenen Fortschritt in den anderen Fächern, der Rhetorik, Poetik, Dialektik, Grammatik und von der Zahl der in Frage kommenden Schüler(92).

So musste der mathematische Universitätsunterricht in Heidelberg zunächst seine ererbte Aufgabe der Einführung in die Mathematik weiter erfüllen. Durch die Reform der Universität wurde diese auf geeignetere Grundlagen gestellt. Wie in der scholastischen Zeit wurde dem mathematischen Unterrichtsstoff dort eine Grenze gesetzt, wo man der Ueberzeugung war, dass für die fernere wissenschaftliche Laufbahn und für die Promotionen nicht mehr von nöten sei.

Da schon an und für sich die Zahl der Studierenden im allgemeinen sehr niedrig war, so hätten Vorlesungen, die über jene angegebene Grenze hinausgingen, kaum Zuspruch gefunden. Wer in Mathematik weiter vorwärts kommen wollte, konnte das Gesuchte also nicht in höheren Vorlesungen finden und musste sich entweder eng an den Dozenten anschliessen oder durch Selbststudium sich zu vervollständigen streben.

Die mathematischen Vorlesungen waren auf das zugeschnitten, was man an Wissen von einem Magister der freien Künste verlangen konnte, und die Namen der Vorlesungen gaben die einzelnen mathematischen Disciplinen an, die überhaupt gelehrt wurden. Ist aber nicht notwendiges Wissen ein dehnbarer Begriff und kommt es nicht bei einem namentlich genannten Lehrstoff darauf an, ob er (Seite 52) in seiner ganzen Ausdehnung herangezogen wird und wie und von wem er behandelt wird? Gleichen Zwecken kann zu verschiedenen Zeitpunkten Unterschiedliches Genüge leisten und es ist von ausschlaggebender Bedeutung, auf welche Grundlagen sich der mathematische Unterricht stützte. Die Darstellung des mathematischen Unterrichtes in seiner Gesamtheit, in seiner Organisation unter Hervorhebung tiefeingreifender Aenderungen, aber auch mancher vielsagender Kleinigkeiten, ist allein befähigt, den eingetretenen Fortschritt richtig zu beurteilen.

An dem Titel der einzelnen mathematischen Vorlesungen, die nach der Universitätsreform üblich waren, hat man schon das beste Beispiel. Wenn ihre Namen allein massgebend wären, käme man ohne weiteres zu dem Schlusse, alles sei beim Alten geblieben. Ein intensiveres Eingehen zeigt aber Unterschiede in den Grundlagen dieser Vorlesungen, die einer tiefgehenden Umgestaltung identisch sind. An die Stelle veralteter, minderwertiger, und zum Teil mit Fehlern überhäufter Lehrbücher und Kommentare, die das Gerüst des Unterrichts geblieben sind, sind geläuterte Textausgaben und Uebersetzungen getreten. Die Arbeiten des Faber Stabulensis spielten eine beachtenswerte Rolle, und auch aus der jüngsten Zeit herausgegebene speziellere Unterrichtswerke fanden einen schnellen Eingang. Der Mathematik lehrende magister liberalium artium ist durch einen ordentlichen Mathematikprofessor ersetzt worden. Die scholastische Einteilung des Studienjahrs, die für die mathematischen Vorlesungen nur bestimmte Zeitabschnitte freigegeben hatte, hat ihre Geltung verloren. Der mathematische Unterricht erstreckte sich von nun ab über das ganze Jahr. Durch die Statuten der reformierten Universität wurden die Unterrichtsstunden genau festgelegt. Die ursprünglich im Entwurde vorgesehenen Nachmittagsstunden, 1–2 Uhr oder 2–3 Uhr, waren nachträglich fallen gelassen worden und statt ihnen wurden für die (Seite 53) engültige Fassung die Nachmittagsstunde von 3–4 Uhr gewählt(93). Mathematik wurde täglich mit Ausnahme des Samstages gelesen. Und nun zu den Vorlesungen selbst. In einen Zyklus vereint, umspannten sie den Zeitraum von zwei Jahren. Im ersten figurierten Arithmetik und die Sphaera, die in der angegebenen Reihenfolge gelesen wurden. Arithmetik wohl nach den Institutiones in arithmeticam — der Namen des Lehrbuches wechselte sehr oft — des Georg Peurbach, das den Algorismus des Sacrobosco im mathematischen Unterricht ablöste, ohne jedoch einen nennenswerten Fortschritt darzustellen, vielleicht aber auch nach Michael Stifels Arithmetica integra (Nürnberg 1544), die ebenso wie die ersten mit einer Vorrede Melanchthons versehen, die zu ihrer Zeit beste Empfehlung besass. Dann wollen wir noch darauf hinweisen, dass die Arithmetik (de arithmetica libri X) des Jordan Nemorius (gedruckt Paris 1496) durch den berühmten Namen ihres Herausgebers, des Faber Stabulensis, weitgehendste Verbreitung gefunden hatte, und dass zur Zeit der Lehrtätigkeit des Micyllus auch sicherlich dessen Arithmeticae logisticae libri II. in Heidelberg vorrübergehend berücksichtigt wurden(94). Was die Sphaera anbelangt, so hatte der Lehrer die Wahl zwischen der des Proclus Diadochus (410 – 486) nach der Druckausgabe von 1510 des Tannstetter Collimitius und einiger neueren Ausgaben der Sphaera des Sacrobosco. Diese hatten trotz ihrer frühen Entstehungszeit (Sacrobosco starb 1256) noch nicht aus dem Universitätsunterricht verdrängt werden können und nichts von ihrer Beliebtheit eingebüsst, vielleicht gerade deswegen weil die von Melanchthon veranstaltete Ausgabe von 1531 eine von ihm selbst verfasste Vorrede enthielt, die, an Simon Grynaeus (den älteren) gerichtet, die Vorzüge des Buches ausserordentlich herausstreicht und so dazu beigetragen (Seite 54) hat, die alte beherrschende, aber nicht mehr verdiente Stellung des Buches zu bewahren(95). Schon Cantor hätte viel lieber gesehen, wenn man sich bezüglich dieser mathematischen Geographie und sphaerischer Astronomie mit Peurbachs Arbeiten näher vertraut gemacht hätte. Das zweite Jahr brachte zuerst die Geometrie und anschliessend die Planetentheorik. Geometrie konnte nur nach Euklid gelehrt werden. Man behandelte das erste Buch Euklid ausführlicher oder viel lieber einen Auszug aus seinen Büchern von dem Wiener Professoren Johannes Vögelin(96). Dieses Elementare geometricum ex Euclidis geometria (1528 und später öfters) besass einen sorgfältig aus dem Griechen zusammengesuchten Inhalt und beschränkte sich im wesentlichen auf das Notwendigste der ebenen Geometrie. Seine Handlichkeit, der im Verhältnis zu den Originaltexten des Euklids weit geringere Beschaffungspreis führten zu schneller Einbürgerung und zur Verdrängung entsprechender geometrischer Lehrbücher, äusserlich zeigte sich dies in der grossen Zahl von Auflagen, die dieses Werkchen erlebte. Auch hier war Melanchthons Hand im Spiele. Er hatte zu dem Elementare Vögelini eine Vorrede geschrieben, und wenn wir nun noch erfahren, dass die Ausgabe des Leitbuches für die vierte mathematische Vorlesung, die theoriae planetarum, in dieser Zeit allgemein nach Peurbach gelehrt, von ihm auf das eifrigste betrieben wurde, so können wir sagen, dass es auch in Heidelberg kaum ein eingeführtes Lehrbuch der mathematischen Wissenschaften gegeben hat, das nicht im Verlaufe seines Werdeganges irgendwie an Melanchthons Tätigkeit erinnert(97). Sein Einfluss auf die Wahl der mathematischen Schul- und Unterrichtsliteratur und damit auch auf die Gestaltung des Unterrichtes selbst steht also fest. Man achtete bei ihm weniger darauf, dass man es eigentlich mit einem Nichtmathematiker zu tun hatte, man erblickte in ihm den grossen Pädagogen, dessen (Seite 55) Ansichten und die von ihm protegierten Lehrbücher man unbedenklich zu Rate zog. Grössere Fehltritte waren ausgeschlossen, denn seine klaren Auffassungen für alle erzieherischen Probleme bewährten sich auch für den mathematischen Unterricht, seine Fürsorge entsprach den allgemeinen Zeitverhältnissen. Für ihn hatte die Mathematik einen starken propädeutischen Zweck, und damit dieser erfüllt werde, tat er, was in seiner Macht lag.

Als die letzte und untergeordneste Vorlesung figurierte noch unter den mathematischen die Musik, aber von dem guten Willem des Mathematikprofessor war es abhängig, ob ihre "Theorie und die proportiones harmonicae" neben Arithmetik Beachtung finden konnten. Karakteristisch für ihre Pflege ist eine Wendung, die in Wundts Magazin nachgelesen werden kann und darauf hinweist, dass Musik gelesen wird, wenn der Mathematikprofessor "sich die Arbeit nit wolt dauern lassen"(98).

Neben den Vorlesungen wurden jetzt mathematische Disputationen und Uebungen im Gegensatz zur scholastischen Zeit, wo sie nur ganz beschränkt auftraten, definitiv angeordnet und festgelegt. Wiederum war es Melanchthon, der als Ergänzung zu den Vorlesungen ihren besonderen Wert erkannte und dessen Einfluss sich bei der Ausarbeitung der Statuten geltend machte. Diese verlangen, dass der Mathematikprofessor aus dem Stoffe seiner Vorlesung herausgreife, was "diskutabel"(99) sei, und gaben zugleich ein Urteil über den Nutzen der Disputationen ab.

Die angeführten Verordnungen stammen aus der Reformation der Universität von 1558. Ein Vorleseverzeichnis[sic!], das zu weiteren Aufschlüssen geeignet wäre, vor allem einen Einblick in die Frequenz des mathematischen Studiums bieten und etwa eingetretene Aenderungen erkennen lassen könnte, ist auf Wunsch des Kurfürsten im Jahre 1559 erschienen. (Seite 56) Aber der derzeitige Mathematikprofessor Simon Grynaeus (der jüngere) befand sich zufällig auf der Frankfurter Büchermesse, und aus diesem Grunde sind auch alle näheren Angaben unterlassen worden(100).

Die Universitätsreformation Ludwigs VI. (1576 – 1583) vom 11. April 1580 beweist jedoch, dass bis zu dieser Zeit keine wesentlich neue Momente im Heidelberg mathematischen Unterrichtswesen hinzugekommen sind(101). Für die Arithmetik war kurzerhand ein "logisticum so zur practio dienlich" vorgeschrieben. Unter "logisticum" verstand man ein arithmetisches Lehrbuch, der die Gleichungslehre enthielt. Die Geometrie lies das "Elementale Vögilini" vermissen, man kehrte wieder zu dem Euklid selbst zurück, zu "aliqout priores libri elementarum Euclidia". Die sphera Procli und die von Sacrobosco wurden wie bisher angeführt, ebenso die theoriae planetarum. Neben ihnen wurden noch zwei Vorlesungen genannt, die "Hypotiposes Procli" und der "primus liber μεγαλησ σεμταξεωσ Ptolomaei."

Die Verordnungen geben keine Auskunft, wann die beiden letzten gelesen wurden und wie sich in den Kursus einfügten. Für die mathematischen "Uebungen und Exercitien" — man beachte das Fehlen des Ausdruckes Disputationen — ist hier zum ersten Male die Zeit angegeben, die Nachmittagsstunde von 4–5 Uhr(102).

Im Juni 1600 wurde nach einem von der kurfürstlichen Kanzlei verlangten Plane, wie der philosophische Kurs und die "Praecepta mathematica" in drei Jahren zu erledigen seien, eine Neuordnung des mathematischen Studiums beschlossen(103). Man kann nicht annehmen, dass der bisherige Vorlesungskurs nur auf drei Jahre ausgedehnt wurde, vielmehr scheint der Lehrstoff erweitert worden zu sein und die grössere Zahl von Vorlesungen zu diesen Massnahmen geführt zu haben. Einen unvermehrten Stoff hätte ja auch (Seite 57) wie jeder seiner Vorgänger der in Betracht kommende Mathematikprofessor gleichfalls in zwei Jahren bewältigen können. Die Erweiterung des Lehrstoffes kann aber auch Auswirkungen jener bedeutungsvollen mathematischen Epoche zugeschrieben werden, die um diese Zeit Heidelberg erlebte und an späterer Stelle eingehender betrachtet werden wird. Die vollkommene Klärung der angeschnittenen Frage und das Eingehen auf Einzelheiten wird wesentlich dadurch erschwert, dass die herangezogene Stelle im Urkundenbuch der Universität Heidelberg selbst nicht Näheres angibt und dass durch die jähe Unterbrechung einer bisher normalen Entwicklung des mathematischen Unterrichts in Heidelberg durch den folgereichen dreissigjährigen Krieg neue hindernde Momente hinzutreten. Im Uebrigen war man bestrebt den Unterricht weiterauszubauen, für seine Belebung zu sorgen und allmählich einen Anschluss an die neuesten Ergebnisse zeitgemässer Forschung zu suchen. Ein Beispiel ist die erfolgreiche Bewerbung der Universität um die mathematischen und astronomischen Instrumente des Valentin Otho, die dieser selbst zur Vollendung seines "Opus palatinum" verfertigt hatte und nun Unterrichtszwecken und der Sternenbeobachtung durch Glieder der Hochschule dienen sollten(104). Man brachte sie 1603 samt einem Exemplar jenes berühmt gewordenen Werkes in die sogenannte "specula mathematica", in der wir das erste mathematische Seminar Heidelbergs erblicken dürfen. Auf Valentin Otho und sein Werk wird weiter unten eingegangen werden.

Das enge Verbundensein des mathematischen Unterrichtsstoffes mit dem erforderlichen Mass mathematischer Kenntnisse für die Prüfungen führt uns auch in diesem Kapitel zu einer kurzen Betrachtung der Prüfungsbestimmungen(105). Für das Baccalaureat verlangte man immer noch keine Mathematik im Gegensatz zu Wittenberg, wo auf Melanchthons Rat die (Seite 58) Sphaera des Proklus und sonstige nicht näher bezeichnete Anfangsgründe der Mathematik hinzugezogen wurden. In Heidelberg war man auch einmal nahe daran gewesen, derartige Bedingungen für dieses Examen zu stellen. Ein von Johannes Lange auf Wunsch des Kurfürsten Friedrich II., der zuerst zum Zwecke der Universitätsreformation die Beziehungen zu Melanchthon aufgenommen hatte, schrieb den Baccalaureatskandidaten neben einen zweijährigen Besuch des Pädagogiums ausserhalb von diesem für die Dauer von 1 1/2 Jahren an mathematischen Studien das der sphaera materialis des Sacrobosco und das der "rudimenta mathematica" (arithmetica) vor. Offenbar habe wir es hier mit einer direkten Nachbildung der Wittenberger Universitätsreform in Heidelberg zu tun. Ueber den Entwurf kam man jedoch nicht hinaus, politische Wirren stellten sich sdeiner Realisation entgegen. So aber wurde es nur für wünschenswert angesehen, dass der Kandidat Disputationen der ordentlichen Professoren besuchte und sich bemühte dem Vortrag zu folgen.

Für das Magisterexamen war Vertrautheitmit dem ganzen besprochenen mathematischen Vorlesungskurse Erfordernis. Eine solche Festsetzung zeigt am besten, dass besondere mathematischen Spitzenkenntnisse nicht geboten werden konnten. Das Studium der in Frage kommenden mathematischen Disciplinen musste sich der Magisteriumskandidat in den beiden dem Baccalaureatsexamen folgenden Jahren widmen, während er zugleich Physik und Ethik studierte. Ferner ist der Nachweis zu erbringen, dass er vier mal bei Disputationen "respondiert habe", darunter mindestens einmal in der Mathematikdisputation. Dauer und Ordnung des Magisterexamens war genau geregelt. In den ersten Teile der Prüfung, dem "privatum examen" fiel wie auf die Dialektik, Rhetorik, Physik und Ethik auf die Mathematik eine Stunde.

Das Hauptexamen oder das "publicum examen", das sich insofern von dem vorigen unterschied, als bei Anwesenheit sämtlicher Magistranden einem jeden Magister erlaubt (Seite 59) war, die Prüflinge zu examinieren und mit ihnen "in linguis et artibus zu disputieren und konferieren"(106), erstreckte sich über sechst Prüfungstage, von denen der fünfte der Mathematik vorbehalten wurde. Zum ersten Male haben wir es hier mit einer statuarisch festgelegten Prüfung in der Mathematik zu tun. Wir erinnern uns, dass in der scholastischen Zeit ein Eid, die vorgeschriebenen mathematischen Vorlesungen gehört zu haben, ausreichte. Erwähnenswert ist noch die Heraufsetzung des prüfungsfähigen Alters auf zwanzig Jahre. Sie konnte für ein tieferes Eindringen und ein besseres Verständnis des gebotenen Lehrstoffes nicht ohne Vorteil sein und ist auch eine von den wesentlicheren Neuerungen, als deren bedeutendste wir die Gründung des mathematischen Lehrstuhls im Jahr 1547 durch Friedrich II. ansehen müssen.

Der mathematische Lehrstuhl verlieh dem Studium der Mathematik im Verhältnis zu seinem bisherigen einen ganz anderen Karakter, eine Geschlossenheit in sich selbst, eine freie Stellung, die für Weiterentwicklung und Ausbau die hoffnungsvollsten Perspektiven eröffneten. Aber mit der Stiftung der Professur war es allein nicht getan und erst die Reformation von 1558 war berufen, das Werk Friedrichs II. sicherzustellen und seine notwendigen Grundlagen zu garantieren. Obgleich die Statuten der philosophischen Fakultät schon 1551 durch Micyllus fertiggestellt waren, harrten sie ihrer allgemeinen Einführung und der Durchführung ihrer Bestimmungen. Die unhaltbaren Zustände zwangen die philosophische Fakultät im Jahre 1554, den Kurfürsten um sofortige Abhilfe zu bitten(107). In Bezug auf den mathematischen Lehrbetrieb beklagte man die Mängel der Organisation und die Nichtbeachtung der Statuten, die die genaue Festlegung der Vorlesungen, ihres Beginns, und ihres Endes verlangten. Aus der späteren Zeit sind derartige Beschwerden nicht mehr zu konstatieren und alles spricht (Seite 60) dafür, dass ein selten gestörter und immer nach den Statuten geregelter Unterricht stattfand. In der ordentlichen Professur lag der Schwerpunkt des mathematischen Studiums und diese feste Verankerung der Mathematik an der Universität Heidelberg ist auch ein Verdienst Melanchthons. Wir wissen, wie eifrig er auf den von ihm beeinflussten Universitäten mathematische Professuren, nicht nur eine, sondern auch zwei, einzurichten sich bestrebte und dass er damit der Mathematik am meisten gedient hat. Denn, während seine Vorreden zu mathematischen Lehrbüchern und die Unterstützung ihrer Herausgabe mitgeholfen haben, die Mathematik volkstümlich zu machen, schuf er mit dieser Tendenz im mathematischen Hochschulunterrichtsproblem den Grundstock der gelehrten mathematischen Universitätswissenschaft.

Früher war man darauf angewiesen mathematische Vorlesungen von jungen Magistern zu hören, für die die Unterrichtstätigkeit nur eine Brücke zum Uebergehen auf andere Teile der Philosophie darstellte, oder gar ein notwendiges Uebel sein konnte, wenn sie sich mit dem Gedanken trugen, nach dem Examen, vor dem sie jedoch noch auf zwei Jahre für den Dienst der Hochschule verpflichtet worden waren, die Universität zu verlassen. Hätten ältere Dozenten, da es nun einmal nicht anders ging, das mathematische Lehrfach übernommen, so konnte auch eine noch so grosse Lehrerfahrung und Lehrbefähigung nicht das ersetzen, was ein spezieller Professor für die Mathematik, dessen Lebensaufgabe das vollkommene Aufgehen in entsprechender Betätigung und in entsprechendem Unterricht ist, ihnen voraus hatte. Grösseres Fachwissen musste dem Unterricht ein anderes Gepräge geben. Wer sich täglich mitdem gleichen Stoffe beschäftigt und ihn durch und durch beherrscht, der hat die Möglichkeit das Wesentliche von dem Unwesentlichen zu scheiden und im Interesse der Lernenden den Unterricht (Seite 61) danach zu gestalten. Durch seine persönlichen Studien war nur ein Nominalprofessor imstande, zwischen dem Unterricht und etwaigen neuen Erkenntnissen seiner Wissenschaft Beziehungen herzustellen. Manche Gelegenheit wird sich geboten haben, in den Vorlesungen trotz ihres propädeutischen Karakters etwas davon zu verwerten oder auf die Fortschritte der Mathematik hinzuweisen, um auf die Weise manchen Studierenden Lust und Liebe zu einem spezielleren Studium mathematischer Wahrheiten und Probleme zu erwecken. Es war eine wichtige Aufgabe der Inhaber der ersten mathematischen Lehrstühle, den mittelalterlichen Universitätsunterricht derart umzugestalten, dass er auch den Zeitverhältnissen Rechnung trage und sich ihnen anpasse, und ihm einen Zug lebendiger gelehrter Arbeit zu verleihen. Durch die Schaffung der Nominalprofessuren war der Rückhalt für eine in dieser Richtung liegenden intensiven Betätigung gegeben, die Professoren mussten versuchen, das Errungene festzuhalten und ihrem Tun die richtige Würdigung im Universitätsleben zu erkämpfen.

Die Entwicklung des mathematischen Unterrichtsbetriebes ging jedoch nicht in dem Masse vor sich, wie es bei einer hemmungsloseren Auswirkung der günstigen Momente möglich gewesen wäre. Anfangs wurde die minimale Besoldung des Mathematikprofessors für nicht allzu verlockend empfunden. Sie musste auf die Bewerber um einen Lehrstuhl deprimierend wirken und es ist kein Wunder, dass Simon Grynaeus der jüngere, der noch für 60 Gulden das Jahr lehrte, sich nach einer besser bezahlten Stelle umsah und schliesslich zur mathematischen eine medizinische Professur annahm(108). Dann kam der Widerstand gegen die Aufnahme eines zweiten Lehrers der Mathematik, dessen Amt an der Universität Wittenberg statuarisch sichergestellt und das auch in Wien schon üblilch war. Ein missglückter Versuch wurde im Jahre (Seite 62) 1591 gemacht. Der Doktor der Medizin Hasler erbot sich privatim oder als ausserordentlicher Dozent der Mathematik Vorlesungen zu halten. Die Zurückweisung erfolgte unter der Begründung, dass in den Statuten keine ausserordentlichen Professuren vorgesehen seien und dass es die geringe Zahl der Reflektanten kaum lohnen dürfte(109). In Heidelberg war man damals offenbar noch nicht so sehr von dem Werte der Mathematik überzeugt, als dass man hier eine Ausnahme hätte zulassen können, während doch die Notwendigkeit dazu sich aus den Einrichtungen anderer Universitäten ergeben hätte. Es ist eigenartig, dass die Starrheit der Statuten solche Bestrebungen unterdrücken konnte, besonders da um diese Zeit eine achtbare Pflege der Mathematik in Heidelberg einsetzte. Aber diese mathematische Periode Heidelbergs hat ja auch weniger Berührung mit der Universität genommen, als sich an den kurpfälzischen Hof angeschlossen. Im Falle Hasler glaubte die Universität der Gefahr einer Beeinträchtigung des Kollegenbundes der ordentlichen Professoren und einer Verminderung seiner Einnahmen durch die Salarien begegnen zu müssen, und demgegenüber trat die Ueberlegung einer Belebung des mathematischen Unterrichts durch die beiden Professoren und das ermöglichte Entgegenkommen für die Studierenden vollkommen in den Hintergrund. Schon vorher hatte in den sechziger und siebziger Jahren die unterschiedliche Wertschätzung der Lehrgebiete hemmend in die Entwicklung und Gestaltung des mathematischen Studiums eingegriffen. Die krassesten Beispiele finden sich vor unseren Augen zugleich mit den Namen Xylander und Ramus. Xylander, wie kein anderer um diese Zeit berufen, dem mathematischen Unterricht und der Mathematik in Heidelberg ein besonderes Gepräge zu verleihen, das aus seiner vorzüglichen und allgemein geschätzten mathematischen Lehrbefähigung und seinem Wissen resultierte, konnte sich nur für kurze Zeit dazu verstehen, Mathematik zu lesen. (Seite 63) Das nach damaliger Auffassung wichtigere und angemessenere Aristotelische Organon wurde ihm bald an deren Stelle übertragen, während für diese wiederum eine jüngere Kraft zu genügen schien. Dann müssen wir an Petrus Ramus (1515–1572) denken. Dieser grosse französische Philosoph und Mathematiker zollte seinen deutschen Kollegen die grösste Achtung und sang ihnen in den drei ersten schon 1567 erschienenen Bänden seines umfassenden Werkes "Scholarum mathematicarum libri unus et triginta Basel 1569" wahre Lobeshymnen. Die Entwicklung des mathematischen Unterrichtes in Deutschland verfolgte er mit dem lebhaftesten Interesse und in einer Zuschrift (1567) an die deutschen Fürsten bat er diese, der Mathematik und ihrer Pflege ihre besondere fürstliche Zuneigung zukommen zu lassen und Lehrstühle in noch ausgedehnteren Masse zu errichten. An den jugendlichen und früh im Felde gebliebenen begabten Pfalzgrafen Christoph richtete er die Bitte, ein Förderer der mathematischen Wissenschaften zu sein und für sie in Heidelberg eine zweite Professur zu errichten. Friedrich dem Dritten schlug er Wilhelm Xylander als den berufensten Anwärter vor. Aber als er selbst nach Heidelberg im Jahre 1559 kam, da war Ramus zu sehr ein Kind seiner Zeit, als dass er bei seinem Aufenthalt den nun einmal von ihm betriebenen Kampf für die Vertreibung des Aristoteles aus den Schulen hätte entsagen können. Dieser Kampf hate ihn auch 1568 veranlasst, seine Heimat zu meiden, wo er Professor der Eloquenz und der mathematischen Fächer gewesen war und eine grosse Anzahl von Feinden zurückliess. Bei seiner mathematischen Begabung, die durch die ihn in seiner philosophischen Lehre entgegengestellten Hindernisse angeregt und gepflegt worden war, und seinem Einfluss am pfälzischen Hofe wäre es leicht gewesen, auf seinen Wunsch eine mathematische Professur und einen ruhigen Wirkungskreis zu erhalten, andererseits aber auch für eine von ihm sooft verteidigte Sache in Heidelberg selbst einmal (Seite 64) etwas zu tun. So erregte jedoch sein Kampfesgeist alle Gemüter, meistens gegen seine Anschauungen und seine Person, und gestattete ihm kaum irgendwo ein längeres Verweilen. Nach Frankriech zurückgekehrt ist er in der der Bartholomaeusnacht folgenden Nacht (1572) dem Dolche seiner Feinde zum Opfer gefallen(110).

Obwohl auch die verschiedensten Umstände auf die Entwicklung des mathematischen Studiums drückten, waren sie jedoch nicht imstande, sie zu unterbinden und hinter anderen Universitäten zurücktreten zu lassen. Man darf behaupten, dass auch der mathematische Unterricht des ausgehenden sechzehnten und beginnenden 17. Jahrhunderts in Heidelberg geeignet war, durch weiteren folgerichtigen Ausbau die mathematischen Wissenschaften in zeitentsprechenden Stile zu lehren und auch mit den neueren Bestrebungen des 17. und 18. Jahrhunderts in Berührung zu bleiben, d.h. ein Grundstock gelehrter mathematischer Betätigung zu sein. Aber der dreissigjährige Krieg hat das im Werden begriffene Werk und den ihm innewohnenden Geist jäh zerstört.


Fussnoten

  1. Man dachte an den bekannten Erasmus, ohne in diesen Bestrebungen erfolgreich zu sein. Friedrich Paulsen. Geschichte des gelehrten Unterrichts. S. 92.
  2. In einem Schreiben vom 22. Juli 1522. Winkelmann. Urkundenbuch der Universität. I. S. 215.
  3. Die betreffende Stelle beginnt: ante omnia maxime necessarium puto, ut et constituatur, qui in mathematicis erudiat.
  4. Jak. Spiegels Urteil in Winkelmanns Urkundenbuch der Universität nach Jak. Sturms. I. S. 218.
  5. Friedrich Hautz. Geschichte der Universität Heidelberg. S. 367.
  6. Winkelmann. Urkundenbuch der Universität. II. S. 94. No. 859.
  7. Winkelmann. Urkundenbuch der Universität. II. S. 99. No. 904. Der Magister hiess Gladius Germanius.
  8. Winkelmann. Urkundenbuch der Universität. II. S. 94. No. 859. No. 860. I. S. 289.
  9. Näheres über ihn in der Allgemeinen deutschen Biographie.
  10. Friedrich Paulsen. Geschichte des gelehrten Unterrichts. S. 138 – 142.
  11. Allgemeine deutsche Biographie. M. Cantor. Vorles. zur Gesch. der Math. II. S. 406. S. 546.
  12. Allgemeine deutsche Biographie. Friedrich Hautz. Jacobus Micyllus. Mays'sche Broschüren XXIV. 13. L. Kayser. Heidelberger Philologen im 16. Jahrhundert. Verweise auch auf J. Classen. Jac. Micyllus. Frankf. 1859.
  13. Im Jahr 1537 verliess Micyllus Heidelberg wegen des geringen Gehalt von 60 Gulden das Jahr. In Frankfurt erhielt er darauf 150 Gulden, das Gleiche bei seinem zweiten Heidelberger Aufenthalt.
  14. Friedrich Hautz. Jakobus Micyllus. S. 61. D. E. Smith. Rara arithmetica. London 1906.
  15. M. Cantor. Vorlesungen zur Gesch. der Mathematik. II. S. 164.
  16. Friedrich Hautz. Jakobus Micyllus. S. 49.
  17. Friedrich Hautz. Jakobus Micyllus. S. 62.
  18. Friedrich Hautz. Jakobus Micyllus. S. 43.
  19. Ueber Ph. Melanchthon, sein Leben, seine Auffassungen über den gelehrten Unterricht und die einzelnen wissenschaftl. Disziplinen. Neben 52 auch M. Bernhardt. Phil. Melanchthon als Mathematiker und Physiker Witt. 1665.
  20. Friedrich Paulsen. Geschichte des gelehrten Unterrichts. Kapitel III.
  21. August Thorbecke. Statuten und Reformationen. S. 99.
  22. M. Cantor. Vorles. zur Geschichte der Mathematik II. S. 180. S. 364. 409. Verzeichnisse der mit einer Vorrede Melanchthons oder mit seiner Hilfe herausgegeb. Schriften auch 91.
  23. H. Suter. Die Mathematik an den Universitäten des Mittelalters. S. 67
  24. J. Vögelin aus Heilbronn. Schüler des Andreas Perlacher, der ein Schüler Tannstetters war. M. Cantor. Vorles. zur Geschichte der Mathematik. II. S. 392.
  25. Man vergleiche M. Bernhardt. Philipp Melanchthon als Mathematiker und Physiker Witt. 1865.
  26. Daniel Ludwig Wundt. Magazin für Kirchen- und Gelehrtengeschichte des Kurfürstentums Pfalz.
  27. August Thorbecke. Statuten und Reformationen. S. 106.
  28. Winkelmann. Urkundenbuch der Universität. I. S. 310.
  29. August Thorbecke. Statuten und Reformationen. S. 200.
  30. August Thorbecke. Statuten und Reformationen. S. 202.
  31. Winkelmann. Urkundenbuch der Universität. I. 334. I. 344
  32. Winkelmann. Urkundenbuch der Universität II. S. 176.
  33. August Thorbecke. Statuten und Reformationen. S. 114. 115. 123. 124.
  34. Friedrich Paulsen. Geschichte des gelehrten Unterrichts. S. 160.
  35. Winkelmann. Urkundenbuch der Universität. I. S. 284.
  36. Hermann Hagen. Briefe von Heidelberger Professoren und Studenten ... S. 11.
  37. Winkelmann. Urkundenbuch der Universität. II. S. 164. No. 1371.
  38. Zeitschrift für Mathematik und Physik. Band II. III. behandeln den Aufenthalt von Petrus Ramus in Deutschland eingehender. (Die Artikel sind von M. Cantor.) Kuno Fischer. Die Schicksale der Universität Heidelberg 1903. S. 59/60.

Letzte Änderung: Februar 2024   Gabriele Dörflinger Kontakt

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