Studien zur Geschichte der Mathematik ... / Erwin Christmann

Zur Geschichte der Mathematik in Heidelberg während der reformatorischen Bestrebungen an der Hochschule

S. 37-43 aus:
Christmann, Erwin: Studien zur Geschichte der Mathematik und des mathematischen Unterrichts in Heidelberg : von der Gründung der Universität bis zur combinatorischen Schule. - 1924. - 164 S.
Univ. Heidelberg, Diss., 1924
Signatur Univ.-Bibl. Heidelberg: W 3461

Abschrift: Gabriele Dörflinger


Kapitel II.   Die Mathematik in Heidelberg im 16. Jahrhundert

Abschnitt A.   Zur Geschichte der Mathematik in Heidelberg während der reformatorischen Bestrebungen an der Hochschule

(Seite 37) In der scholastischen Zeit hatte die Mathematik an den Universitäten ihre unselbständige, untergeordnete Stellung deutlich gezeigt, aber auch zugleich eine gewisse Aussichtslosigkeit, aus den bestehenden Verhältnissen Aenderungen und Besserungen ableiten zu können. Um diesen Weg frei zu machen, mussten Umwälzungen vor sich gehen, die für die alten Systeme und Anschauungen nur die tiefste Erschütterung darstellen konnten.

Das ausgehende 15. Jahrhundert und das ganze 16. Jahrhundert bargen in sich die nötigen Voraussetzungen, die reformatorischen Gedanken und die Geistesströmungen des Humanismus und der Renaissance. Mit ihren gewaltigen Folgen, den Umwälzungen auf kulturellen, religiösen und politischen Gebiete bewiesen sie dem denkenden Menschen die Möglichkeit des Umsturzes bestehender fester Systeme. Die Menschheit fand Geschmack an freiem individuellen Erkennen.

Die Pflege der Mathematk zog aus beidem ihre Vorteile. Sie verliehen ihr das belebende und gegen die bisherige Unterordnung rebellierende Moment. Das 16. Jahrhundert war für den mathematischen Unterricht an der Universität Heidelberg eine Zeit der Umgestaltung, einer allmählichen Annahme eines wissenschaftlichen Charakters, die Zeit einen Prozesses der Emanzipierung der Mathematik von den anderen Wissenschaften. Von den parallel laufenden Vorgängen setzt die zweite bedeutend früher ein und gelangte auch als erste an ihr Ziel.

Der Humanismus hatte schon Ende des 15. Jahrhunderts, früher als die übrigen deutschen Universitäten Heidelberg mit einer frischen Brise befächelt, ohne eine besondere Wirkung aufweisen zu können. Die Universität scheint in ihrer Gesamtheit einen stark konservativen Charakter besessen zu haben, von (Seite 38) einer Reformation im neuen Geiste oder nur einem entsprechenden Streben danach ist vorerst nichts zu verspüren.

Während in Wien schon die Tätigkeit des Johannes von Gmunden in den drei ersten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts als eine Nominalprofessur der Mathematik bezeichnet werden kann, obwohl es officiell keinen Mathematikprofessor gab, und während um die Jahrhundertwende durch die Betrebungen des humanistischen Collegiums der Dichter und der Mathematiker die gleiche Universität mathematische Lehrstühle ihr eigen nannte, wurde in Heidelberg die Mathematik immer noch von dem Magister der freien Künste gelehrt. Mit Namen wollen wir anführen den Magister Conrad Helvetius, der dem jungen Melanchthon durch seine Vorlesungen in Mathematik und Astronomie die Anfangsgründe erklärte(52), und den bedeutenderen und in grösserem Ansehen stehenden Johannes Virdung von Hassfurt(53). Unter dem Pfalzgrafen Philipp (1476 – 1508) begann er in Heidelberg zu lehren (Okt. 1492) und betätigte sich literarisch vor allem auf dem Gebiete der Kalendermacherei und der Astrologie. Zum Zwecke astrologischer Berechnungen, stellte er für den Heidelberger Meridian die "Tabulae resolutae" auf und gab 1503 eine "practica teutsch" heraus(54). Für seine Schriften hatte er von dem deutschen Kaiser Maximilian I. ein Privileg gegen ihren Nachdruck erhalten. Ein Schüler von ihm war der Frankfurter Mathematikprofessor Joh. Cario (1490 – 1533), der nach den Matrikeln der Heidelberger Universität im Jahre 1524 Magister in Heidelberg war und in dieser Eigenschaft auch mathematische Disciplinen gelehrt haben mag. Diese Lehrer der Mathematik sahen in ihrer Wissenschaft — man vergleiche nur das Uebereinstimmende ihrer Schriften(55) — nur ein Hülfsmittel für ihre weniger astronomischen als astrologischen Beobachtungen und werden auch in diesem Sinne den Unterricht beeinflusst (Seite 39) haben. Man fühlt, dass die Mathematik der Hochschule Gefahr lief in eine neue Knechtschaft zu fallen, in eine vollkommene Abhängigkeit von der Astrologie und Astronomie, die im Mittelalter wenigstens an den Universitäten nicht so ausgeprägt war und in dieser Zeit des Emporstrebens die nachteiligsten Folgen haben konnte. In den Humanisten entstanden der astrologischen Gewichtigkeit, Geheimnistuerei und Einbildung scharfe Gegner. Ihre Einstellung zu diesen aktuellen Fragen und zur Mathematik überhaupt haben diese Wissenschaft zur Selbständigkeit erzogen und ihr zum Bewußtsein ihres inneren Wertes und ihrer Entwicklungsberechtigung verholfen.

Man muss an dieser Stelle näher auf die Beziehungen des Humanismus zur Mathematik eingehen. Für Heidelberg ergeben sie sich am deutlichsten durch die Betrachtung der rheinischen Gesellschaft der Wissenschaften, der sodalitas litteraria Rhenana, und ihres mathematischen Elementes. Denn während sich die Universität selbst gegen alle Einflüsse von aussen zu verschliessen suchte, fanden die neuen Gedanken und Grundsätze am kurpfälzischen Hofe Philipps eine Pflanz- und Pflegestätte, von der sie sich mit Macht ausbreiteten. Diese günstige Konstellation benutzte Conrad Celtis, einer der bedeutendsten Humanisten seiner Zeit, um höchstwahrscheinlich durch italienische Beispiele ermutigt, in Heidelberg eine wissenschaftliche Gesellschaft zu gründen(56). Von dem Hauptsitze der sodalitas litteraria Rhenana spannen sich Fäden zu zahlreichen Mitgliedern in anderen süddeutschen Städten und zu den im ähnlichen Sinne wie die Heidelberger von Celtis organisierten Schwestergesellschaften, von denen die sodalitas Danubia den Ruf der grössten Regsamkeit in Anspruch nehmen durfte.

Die Grundlage für seine Bestrebungen sah Celtis, der als leitender Geist mit allen verfügbaren Kräften über dem Ganzen schwebte und die entfachte Bewegung nährte, in der Konzentration (Seite 40) aller Wissensgebiete und aller für ihre Belebung begeisterter Männer. Das Zusammenfinden wurde um so eher ermöglicht, als gemeinsame Uebel und Gegner bekämpft werden mussten, gegen die sich wieder eine geeinte Stosskraft viel erfolgversprechender richten konnte. Die Wissenschaften sollten aus der Barbarei, wie sich die Humanisten ausdrückten, und der Knechtschaft herausgeführt werden, das herrschende scholastische System mit seinen unsinnigen, den Fortschritt hemmenden Streitigkeiten unter den Anhängern der "via antiqua" (Realisten) und der "via moderna" (Nominalisten) zerbrochen werden. Im Hochschulunterricht sollte das Lehren und Lernen nach zum Teil falschen, unvollständigen und entstellenden Kommentaren abgeschafft und dieses selbst durch einwandfreiere und dem Urtexte näher verwandte ersetzt werden.

Ein solches Aktionsprogramm war aber auch wohlgeeignet, der Mathematik und dem mathematischen Studium dienlich zu sein, besonders da im Rahmen des Ganzen ein jeder die ihm zusagenden Wissenschaften betreiben konnte und prinzipiell die bestmöglichste Unterstützung für das Erwählte fand(57). Wir wissen, dass das Verständnis und das Interessse der Humanisten so gross gewesen ist, dass sie die Errichtung der mathematischen Lehrstühle als unbedingt notwendig erachteten, und dass die Wiener Lehrstühle ihre Existenz vor allem ihnen verdankten. Das Daniederliegen der Mathematik in Deutschland verurteilten sie und stellten zugleich so hohe Anforderungen, dass sogar der Wiener mathematische Unterricht, der sich durch eine traditionsmässige Pflege der Mathematik auszeichnete, in den Bereich ihrer Angriffe geriet(58).

Die Rheinische Gesellschaft der Wissenschaften hat getreu den Prinzipien der Humanisten jenen Geist entfachen mitgeholfen, der auf eine Reformation des Unterrichtswesens drängte, der das Studium der mathematischen Urtexte anregte. In ihrer Mitte war die Beschäftigung mit Mathematk und Astronomie (Seite 41) eine angesehene Tätigkeit(59). Mathematiker, Astronomen, Geographen waren geachtete Mitglieder, die sich deshalb in ihr auch heimisch fühlen konnten. In den Versammlungen der Gesellschaft, die in Heidelberg(60) aber auch an anderen Orten, wo genügend Mitglieder vorhanden waren, regelmässig stattfanden, behandelte man Fragen aus Euklid, Ptolomaeus und anderen Mathematikern, erhielt die mannigfachste Anregung, sich ihrem Studium zu widmen und mathematische und astronomische Instrumente herzustellen, deren Bedeutung für den Fortschritt durch die Ermöglichung experimenteller Forschung ihnen bekannt war(61). Diese Akademiesitzungen, wie wir die Zusammenkünfte ruhig nennen dürfen, fanden gewöhnlich ihren Abschluss durch astronomische Beobachtungen, und sogar noch auf dem Heimwege sollen sich die "sodales" eingehend mit den Erscheinungen des Sternenhimmels beschäftigt haben. Der Diakonus Hartmann von Eptingen war, quamquam gravibus podagrae doloribus afficiebatur, denooch so sehr studiosus liberalium artium, dass er mit Celtis ganze Nächte bei der Beobachtung der Sterne zubrachte(62).

Neben den Zusammenkünften bestand unter den Mitgliedern ein reger Briefwechsel, ein Mitteilen von wissenschaftlich mathematischen Ergebnissen(63). Briefe berichteten über die geplante Uebersetzung der Erdbeschreibung des Claudius Ptolomaeus durch den Nürnberger Mathematiker und Geographen Johannes Werner, über ein Astrolabium, einen Globus u.s.w. Gegenseitige Ermunterung fehlte nicht, aber auch dem Lässigen blieb ein tadelndes Wort nicht erspart. Ueber dem emsigen Getriebe wachte als oberster Hüter Conrad Celtis. Sein Interesse für mathematische Wissenschaften war gemäss den Umständen relativ hoch. In Nürnberg mit dem Dichterkranz geschmückt und schon allgemein geehrt, begibt er sich auf die Krakauer Universität (1489), um wie Bricard in seiner Abhandlung der sodalitas (Seite 42) litteraria Rhenana sagt(64) "ex magistro discipulus factus" das Studium der Mathematik, Physik und Sternenkunde an dieser in damaliger Zeit für diese Fächer nicht unberühmten(65) Universität zu erlernen. Sein Lehrmeister war Albert Blar von Brudzewo (1446 – 1497)(66), ein Freund des Nikolaus Koppernikus, der den Celtis so sehr schätzte, dass er ihn seinen "filius primogenitus" nannte und die Briefe an ihn mit "Albertus tuus pater" zu beschliessen pflegte(67). Später las Celtis in Wien neben den eigentlichen humanistischen Disciplinen mathematische Geographie(68), welches Fach ihn offenbar stark interessiert haben mag, denn auch die Uebersetzung des Claudius Ptolomaeus ins Lateinische ist nicht wenig seiner Initiative zuzuschreiben.

Neben ihm fungierten als Censoren verschiedene Mitglieder und begutachteten die wissenschaftlichen Arbeiten bevor sie in Druck gegeben wurden. Die Vermutung liegt nahe, dass der Mathematiker Joh. Stabius, Vorsitzender und Censor der mathematischen Abteilung der Donaugesellschaft, und zugleich Mitglied der Rheinischen, die nämlichen Funktionen auch hier versehen hat. Joh. Stabius (Joh. Canter) war zuerst Lehrer der Mathematik in Ingolstadt, später in Wien gewesen. Von anderen Mathematikern, die der Gesellschaft angehörten, haben wir Johannes Werner aus Nürnberg schon erwähnt. Er schlug einen Lehrstuhl an der Wiener Universität aus, um in Ruhe seinen Privatstudien leben zu können. Seine Bedeutung ist heute durch die Arbeiten von Cantor, Björnbo und Günther klargestellt(69). Es folgen der innige Freund des Celtis Janus Tolophus(70) aus Regensburg und Joh. Laternus (Ziegler) aus Nürnberg. Aber auch Mitglieder der Gesellschaft, die sich nicht so ausnahmslos mit mathematischen Dingen abgaben, zeigen derartig allgemein mathematisches Interesse und Kenntnisse, dass man von einem ungewöhnlich (Seite 43) starken Einschlage dieser Wissenschaft sprechen kann. Der bekannte Humanist und Kanzler der Heidelberger Universität Joh. von Dalberg unterhielt sich oft und gern mit Joh. Werner über dessen Arbeiten(71). Der durch seine Allgemeinbildung sich auszeichnende Joh. Tritheim, widmete sich ausgiebig naturwissenschaftlichen und mathematischen Fächern, Jacob Dracuntius war vorwiegend Kosmograph und Dichter. Sebastian Sprenk, ein Schüler des Stiborius, wurde — so entnehmen wir einem Briefwechsel J. Reuchlins — gleichermassen wegen seinen Kenntnissen in der hebräischen Sprache und seiner Werke, die sich auf Mathematik bezogen, für würdig erachtet, in die Gesellschaft aufgenommen zu werden(72). Der schon genannte Joh. Hartmann von Eptingen verteilte seinen Fleiss auf Dichtkunst, Mathematik und Astronomie. Für die Astrologie war in diesen Kreisen kein Verfechter zu finden, man war zwar für die Sternenkunde begeistert und sprach ihr einen gewissen Wert zu, aber einen Einfluss auf des Menschen Dasein wollte man keineswegs anerkennen. Schliesslich haben wir noch zu erwähnen den Mäzenen Willibald Pirkheimer, dessen Gastfreundschaft Werner, Dürer und mancher andere Mathematiker geniessen durfte und dessen reichhaltige Bibliothek einen Fundort mathematischen Wissens darstellte.


Fussnoten

  1. K. Hartfelder. Ph. Melanchthon. Monumenta Germaniae paedagogica Bd. VII.
  2. Töpke. Die Matrikel der Universität. I. S. 403.
  3. Vollkommener Titel der "practica teutsch" lautet: "practica teutsch" etliche Jahr werende von dem kunstreichen wohlgelehrten der Phylosophey, Astrologey und Mathematic kundigen Magister Hansen Virdung von Hassfurt gedruckt Oppenheim M.D.III. C. Büttinghausen. Miscelanea.
  4. z. B. im "Jahresberichte der deutschen Mathematikervereinigung Bd. 19. Heft 9/10." Mathematische Bücher d. Stadtbibliothek Frf.(Main).
  5. G. Bricard. De sodalidate litteraria Rhenana. Bordeaux. 1893. Caput. I. Als Gründungsjahr wird 1491 angegeben, was jedoch nicht sicher feststeht.
  6. G. Bricard. De sod. litt. Rhen. S. 150.
  7. G. Bricard. De sod. litt. Rhen. Prooemium. S. 2. Ein italienischer Humanist (Aeneas Silvius) sah sich veranlasst auf einer Reise durch Deutschland von Wien aus in seine Heimat zu schreiben: qui magisterii artium titulo decorantur in hac una parte examinantur (Dialektik) neque Rhetoricae neque Arithmeticae curam gerunt.
  8. G. Bricard. De sod. litt. Rhen. Caput II. De doctis viris, qui consortes erant. Die Mitglieder zeichneten sich durch mehr oder minder grosse mathematische Kenntnisse aus.
  9. G. Bricard. De sod. litt. Rhen. S. 60.
  10. G. Bricard. De sod. litt. Rhen. S. 150. 151. 64.
  11. G. Bricard. De sod. litt. Rhen. S. 69.
  12. G. Bricard. De sod. litt. Rhen. S. 151.
  13. G. Bricard. De sod. litt. Rhen. S. 15.
  14. Engelberti Klüpfelii. De vita et scriptis Conradi Celtis. Freiburg 1827. S. 89. S. 92. M. Cantor. Vorl. zur Gesch. der Math. S. 252/253.
  15. M. Cantor. Vorles. zur Gesch. der Math. S. 253/54. Houzean - Lancaster. Bibliographie générale de l'Astronomie S. 557/558 erwähnt drei seiner Schriften, die in Zusammenhang mit den Arbeiten G. Peurbachs stehen.
  16. Diese freundschaftliche Benennung könnte auch darauf zurückzuführen sein, dass Celtis der erste gewesen ist, der unter Alb. Blar von Brudzewo promovierte, wenn dies wegen einer sicher schon längeren Lehrtätigkeit nicht undenkbar erschiene.
  17. E. Klüpfel. De vita et scriptis C. Celtis. S. 190
  18. M. Cantor. Vorles. zur Geschichte der Mathem. v. Braunmühl. Vorles. über Geschichte der Trigonometrie. Sigmund Günther. Geschichte der mathematischen Geographie. A. A. Björnbo. Abhandlungen zur Geschichte der mathematischen Wissenschaften mit Einschluss ihrer Anwendungen, begründet von M. Cantor. XXIV. Heft.
  19. Jan. Tolophus soll Kommentare zum Almagest und zur Sphaera geschrieben haben, deren Veröffentlichung fraglich ist. E. Klüpfelius. De vita et scriptis C. Celtis. S. 106.
  20. G. Bricard. De sod. litt. Rhen. S. 151.
  21. E. Klüpfelius. De vita et scriptis C. Celtis. II. S. 87.


Letzte Änderung: Februar 2020   Gabriele Dörflinger Kontakt

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