Studien zur Geschichte der Mathematik ... / Erwin Christmann

Die Professoren von Lüneschloss, Hartsöcker.
Die ersten Professoren der Mathematik aus der Gesellschaft Jesu. 1652–1752.

S. 94-105 aus:
Christmann, Erwin: Studien zur Geschichte der Mathematik und des mathematischen Unterrichts in Heidelberg : von der Gründung der Universität bis zur combinatorischen Schule. - 1924. - 164 S.
Univ. Heidelberg, Diss., 1924
Signatur Univ.-Bibl. Heidelberg: W 3461

Abschrift: Gabriele Dörflinger


Kapitel II.   Eintreten der Mathematik in Heidelberg in das Zeitalter des Rationalismus. Uebergang des mathematischen Unterrichts an die Jesuiten und Lazaristen.

Abschnitt A.   Die Professoren von Lüneschloss, Hartsöcker. Die ersten Professoren der Mathematik aus der Gesellschaft Jesu. 1652–1752.

Die Schäden, die der Kurpfalz im dreissigjährigen Kriege zugefügt worden waren, waren noch nicht ausgeglichen, und schon machte Karl Ludwig (1652 – 1660) die energischsten Anstrengungen, den erstorbenen wissenschaftlichen Betrieb in Heidelberg wiederzuerwecken. Seine persönlichen Eigenschaften machten ihn zum geeigneten, den Verhältnissen gewachsenen Mann. Eine umfassende Bildung, die er sich auf der Leidener Hochschule erworben hatte und sich gleichmässig auf Staatslehre, Geschichte, Juristerei (die einem Fürsten nahestehenden Wissenschaften) und Mathematik erstreckten, gab ihm das richtige Verständnis für die Bedeutung des in Aussicht genommenen Werkes, das andererseits das schwer mitgenommene Land nicht zu sehr belasten durfte. Nicht ohne Einfluss konnte sein erfahrungsreiches Leben bleiben, das ihm blinde Nachbeter und Anhänger alter Ansichten und Systeme verachten gelehrt hatte. Vorurteilslos stellte er sich seiner Zeit gegenüber und sah allein hierin die Garantien jedes Erfolges. Nach seinen Auffassungen sollte die Universität neu eröffnet und die akademischen Lehrstühle besetzt werden. Man berief zur Aufnahme des Studiums(176) den Theologen Dan. Tossamus, den Juristen H. D. Chuno, die Mediziner Jak. Israel und Caspar Tausius, den Philologen Joh. Freinsheim, den Schwiegersohn des Strassburger Geschichtsprofessoren Matthias Bernegger (1582 – 1640), der durch seine Uebersetzung von Galileis Werken bekannt wurde(177). Die Professur der Logik und der griechischen Sprache erhielt Theobald Fabricius und die der Mathematik der Mathematiker und Physiker Johannes von Lüneschloss, geb. 1620 zu Solingen und später Student und Dozent auf vielen ausländischen Akademien z. B. der in Utrecht, Leiden, Padua. Den besten Beweis, wie aufrichtig und ernst es (Seite 95) Karl Ludwig mit einer neuzeitlichen Belebung der Universität meinte, ist die Berufung Spinozas (1673), der um diese Zeit schon stark befeindet und verketzert wurde. Durch den geistreichen Franzosen von Chevreau war Karl Ludwig auf Spinoza und seine Schriften aufmerksam geworden, besonders auf sein Lehrbuch der cartesischen Philosophie (principia Cartesii geometrica more demonstrata) jener Philosophie, die der Mathematik im menschlichen Denken eine so grosse Rolle zu spielen verhiess. Die Zeit war angebrochen, wo man alles vom mathematischen Denken erhoffte, eine Aktivität und ein Enthusiasmus auf dem Gebiete mathematischen Wissens, wie sie nur diesem Jahrhundert eigentümlich war. Der kurpfälzische Hof war gesonnen an diesem Leben teilzunehmen und es möglichst zu fördern. Nicht ohne Grund hat René Descartes der Pfalzgräfin Elisabeth, der Schwester Karl Ludwigs, Achtung gezollt und freundschaftliche Beziehungen mit ihr unterhalten. Als ein äusseres Zeichen seiner Wertschätzung dedizierte der grosse Philosoph der Pfalzgräfin seine "principia philosophiae". Der berühmte Franziscus von Schooten tat das gleiche mit der Geometrie des Descartes(178). Andererseits hatte aber auch Karl Ludwig abgesehen von der Fähigkeit der Mathematik den Verstand zu schärfen, also von den rationalistischen Auffassungen die rein praktischen Anwendungen schätzen gelernt und auf sie legte er keinen geringen Wert. In Leiden hatte er sich eigens dem Studium der Messkunst hingegeben(179), und es ist nicht zu verwundern, wenn dieser Fürst eine Tendenz in den mathematischen Unterricht brachte, die schon stark im Bereiche des Aufklärungszeitalters lag. Die Mathematik des Rationalismus war in ihrer ganzen Tragweite auf den Universitäten nicht zur Herrschaft gelangt, man machte sich nur zögernd mit (Seite 96) den neuen wissenschaftlichen Methoden, die sich aus den Fortschritten der Mathematik ergaben, vertraut, und freien Geistesgrössen wie Leibnitz musste dieses pedantische Getriebe mit Recht Verachtung und Geringschätzung einflössen. Der Schwerpunkt des geistigen Lebens, besonders der produktiven gelehrten Schaffens war durch das Vorherrschen theologischer Probleme mit ihren ewigen Reibereien und der offensichtlichen Vernachlässigung der neueren philosophischen und naturwissenschaftlichen Probleme an den Universitäten von diesen an die Höfe der Fürsten verlegt worden. Die Entwicklung der Mathematik beschritt von neuem Bahnen, die nur wenig Berührung mit den Hochschulen erkennen lassen und besonders der mathematische Unterricht war nicht berufen Gelehrte heranzuziehen. Er war vielmehr stark durch den Karakter des gesamten Universitätsunterrichtes beeinflusst, der die Universität in eine Bildungsstätte guter und bei dem aufstrebenden absolutistischen Staatsgedanken dringend benötigter Beamten verwandelte und noch nebenbei sich verpflichtet sah, den eigenen Bedarf an Lehrkräften sicher zustellen. Aehnlich lagen die Verhältnisse in Heidelberg, ohne dass es notwendig gewesen wäre, dass die Weiterentwicklung in Bezug auf das Universitätsleben in diesem Sinne vorsichgehen musste. Der Heidelberger Hof konnte sich ohne schwere wirtschaftliche Schädigung des Landes und der Bevölkerung nicht den Luxus leisten, eine Anzahl von Gelehrten um sich zu halten. Er musste zunächst seine Bestrebungen mit den Interessen der Universität verbinden, deren umfangloser ungenügend bezahlter Lehrkörper alle vorhandenen Mittel und Kräfte — Privatdozenten fehlten noch vollkommen — in Anspruch nahmen, um mehr durch Namen und Fähigkeiten hervorragender Kapazitäten auf den einzelnen Wissenschaftsgebieten das Heidelberger Studium (Seite 97) anziehend zu machen. So versuchte man Spinoza zu gewinnen und so sollte 1684 Jakob Bernoulli (1654 – 1706) die mathematische Professur übertragen werden(160). Aber die beiden grossen Würfe des 17. Jahrhunderts sind misslungen.

Das durch die Wiedereröffnung der Universität ein wenig gewaltsam geweckte Leben wurde auch dem mathematischen Studium mitgeteilt. Zur Fundierung des Unterrichtes erliess man 1654 Bestimmungen(181), die einen regelmässigen Collegienbesuch garantieren sollten. Man machte den Besuch obligatorisch und nur bestimmte, genau festgelegte Gründe konnten eine Abwesenheit rechtfertigen. Die Beträge und Zahlungstermine für das mathematische Colleg wurden auf das genaueste festgelegt. Allein dem Professoren stand das Recht zu, wenn er am Dozieren gehindert war, Ferien zu erteilen. Verstösse gegen diese Verordnungen wurden mit entsprechend abgestuften Geldstrafen gesühnt. Der Student, der in das sogenannte "collegium arithmeticum et geometricum" eintrat, musste sich zuvor durch persönliche Unterschrift zur Einhaltung der Bestimmungen verpflichten. Das mathematische Seminar oder die "specula mathematica", die durch den Krieg schwer mitgenommen war, wurde aufs neue mit Büchern, mathematischen und astronomischen Instrumenten versehen. Beim Unterricht selbst wird, wie schon kurz zuvor angedeutet wurde, ein grösserer Wert auf die praktischen Anwendungen der Mathematik gelegt. Gemäss den Statuten folgen den Vorlesungen neben den astronomischen Beobachtungen gedätische, scenographische, chorographische und andere Uebungen im Gelände(182). Dass diese nicht nur auf dem Papier standen, sondern auch wirklich gehalten wurden, beweisen Inhalt und Formulierung der uns erhaltenen Vorleseverzeichnisse, deren Druck und Verbreitung auf der Frankfurter Messe zur (Seite 98) Erhöhung der Hochschulfrequenz beitragen sollte(183). Da figuriert zuerst die reine Mathematik, die "mathesis pura", ihr folgt die angewandte Mathematik, die "mathesis mixta", die nach Beendigung der ersteren behandelt wird. Die Gegenüberstellung von reiner und angewandter Mathematik tritt hier zum ersten Male im Heidelberger mathematischen Unterricht auf und wird für das 18. Jahrhundert ein besonderes Kennzeichen bilden. Auf Einzelheiten kann hier noch nicht eingegangen werden, da die zur eingehenden Betrachtung des Anfangsstadiums benötigten Anhaltspunkte uns fehlen und auch durch entsprechende Zurückführung aus den Beschreibungen des 18. Jahrhunderts sich für die Zeit der zweiten Hälfte des 17. Wissenswerte annähernd genau abstrahieren lässt. Nach den Vorlesungen spricht von Lüneschloss in den Verzeichnissen von den praktischen Uebungen, die unter seiner Leitung auf dem Gelände stattfinden werden und hebt den Wert seiner öffentlichen Vorlesungen und seinen Eifer hervor auch auf gewünschte speziellere Gebiete einzugehen und hierin sein Möglichstes zu leisten. Als Doktor der Medizin las von Lüneschloss auch medizinische Vorlesungen. An den Statuten und Verzeichnissen erkennt man den festen Willen, einen blutlosen Universitätsbetrieb zu bekämpfen und eine wissenschaftliche Regsamkeit zu erzeigen. Der geistige Verkehr zwischen dem Professoren und seinen Studenten sollte vor allem gepflegt werden und der Rat des erfahreren Lehrers dem Studierenden bei der Wahl der Lehrbücher zur Verfügung stehen und nur die besten und neuesten empfehlen. Joh. von Lüneschloss mag sich die grösste Mühe gegeben haben, den Anforderungen gerecht zu werden, aber es ist, obgleich er über vierzig Jahre sein mathematisches Lehramt bekleidete, leider nicht möglich, über (Seite 99) diese Vermutung hinauszugehen. Erwähnenswert ist sein eifriges Bemühen den geographischen Unterricht an sich zu ziehen und mit seinem Lehrstuhl zu verknüpfen(164). Er wies darauf hin, dass diese Wissenschaft nicht "historice" sondern "mathematice" behandelt werden müsse und daher auch nur dem Mathematiker zukäme. An wissenschaftlichen Arbeiten hat er wenig hinterlassen. "Mille da quantitate paradoxa seu admiranda" und einen "tractatus de corpore, cum figuris aeneis Hdb. 1658" können genannt werden(185). Die letzten Jahre seiner Tätigkeit sind erfüllt von unseligen politischen Wirren, die nicht nur die vielen Mühen und die Arbeit von Fürst und Universität ihrer Früchte beraubte, sondern auch für die weitere Entwicklung der Universität eine direkt katastrophale Umstellung brachten, die Abkehr der von Karl Ludwig vorgezeichneten Linie, deren Folge eine vollständige Isolation und eine Degradierung des Heidelberger Studiums gegenüber den emporstrebenden anderen deutschen Universitäten war. Die Mathematik und der mathematische Unterricht konnte den Einwirkungen der allgemeinen Verhältnisse sich nicht entziehen. Zunächst war der Schaden, den der pfälzische Krieg dem mathematischen Seminar zufügte und der sich auf ungefähr 4000 Gulden belief(186), ein schwerer und nicht so schnell zu überwindender Schlag. Das schlimmere Uebel erstand aber aus den gleichzeitigen Ausflüsssen einer aufkommenden religiösen Unduldsamkeit, einer beispiellosen Misswirtschaft und einer beabsichtigten und unbeabsichtigten Weltfremdheit, die sich allen Zeitströmungen verschloss, Rationalismus und Aufklärung zu negieren oder doch wenigstens abzuschwächen suchte. Bei aller Planlosigkeit und Unübersichtlichkeit trat nur ein deutlicheres Ziel hervor. (Seite 100) Der Uebergang einer mit den höchsten Aufgaben des Menschentums betrauten Institution in eine konfessionelle Schule, deren Signatur ein in Erstarrung geratenes lebloses System war und die folglich auch für freies Denken und Forschen keine Stätte mehr sein konnte. In der mathematischen Professur folgte auf Joh. von Lüneschloss sein Sohn Gerhard. Wie ein gealteter Fürst dem Erbprinzen, nicht weil er der Befähigste des Landes, sondern nun mal sein Sohn und Erstgeborener ist, die Zügel der Regierung übergibt, so hatte im Jahre 1695 der Vater Johannes von Lüneschloss mit Einwilligung des Kurfürsten Johann Wilhelm (1690 – 1716) zugunsten seines Sohnes auf den mathematischen Lehrstuhl verzichtet(187). Aus dem Studium der Akten ist kaum mehr zu ersehen, und doch sind sichere Belege dafür, dass allein des Vaters Verdienste dem Sohn zu seiner Stellung verholfen haben, nicht vorhanden. Der Verdacht könnte bedeutend abgeschwächt werden, wenn es sich bewahrheitet, was Schwab in seinem "Syllabus Rectorum" sagt, dass von ihm verfasste Schriften durch Brand zerstört wurden, und wenn man sich einigermassen über ihren Inhalt orientieren könnte. So weiss man nur, dass er bis zu seinem Tode (1735) Mathematik und Philosophie wohl mit Unterbrechung las und bisweilen auch Jurispondenz[sic!] lehrte. Neben Gerhard Lüneschloss wurde im Jahre 1704 Nikolaus Hartsöcker, geb. 1656 zu Houda, als Honorarprofessor der Universität und kurfürstlicher Hofmathematiker berufen. Literarisch war er sehr fruchtbat, beschäftigte sich besonders mit Newtons Untersuchungen und Arbeiten und veröffentlichte über sie entsprechende Schriften. Ein reger Briefwechsel zeugt von dem wissenschaftlichen Verkehr, den er mit diesem grossen Geleherten gepflogen hatte, und die Mitgliedschaft zur Pariser und Berliner Akademie ist ein Zeichen (Seite 101) seines Ansehens in der gelehrten Welt(188). Aber mit Heidelberg, wo er nur sehr selten gewesen zu sein scheint und wo er die ihm übertragene Professur überhaupt nicht ausgeübt hat, trat er nur in nähere Beziehung, um von hier aus gemäss seiner Anstellung vom 31. Okt. 1703 besoldet zu werden und seinem Sohne Christian auf die nämliche Weise wie Joh. v. Lüneschloss die Professur zu hinterlassen(189). Sein gewöhnlicher Aufenthalt war Düsseldorf, das durch kurfürstliche Gunst zu einem Mittelpunkt höfischen Lebens geworden war. Die Universität Heidelberg aber hatte das Nachsehen, ihr Widerstand gegen eine solche Verschleuderung der Gelder unter Berufung auf die unsinnige und für sie wertlose Besoldung abwesender Dozenten war umsonst(190).

Schon vor Nikolaus Hartsöckers Tode (1716) wurde im Jahre 1714 sein Sohn Christian in den Lehrkörper aufgenommen. Sein Interesse für die Universität war etwas grösser als das seines Vaters. Er hielt mathematische Vorlesungen und bekleidete 1723 das Rektorat. Man hatte es ihm nur unter der Bedingung übergeben, dass er auch wirklich in Heidelberg immer anwesend sei, aber er versah es dennoch nicht in der gewünschten Weise, wohnte nie einer Senatssitzung bei, da er für das ganze Jahr als Regierungsrat in Mannheim Beschäftigung gefunden hatte(191). Seit 1720 nahm ihn der Staatsdienst so sehr in Anspruch, dass sich der Kurfürst veranlasst fühlte, seine ordentlichen Lektionen und die sonstigen Obliegenheiten dem Gerhard von Lüneschloss zu übertragen(192).

Nicht zugleich mit dem Beginn des 18. Jahrhunderts, aber allmählich und gewollt ging der mathematische Unterricht in die Hände eines geistlichen Ordens, an die Jesuiten über. Nach Aufhebung der reformierten Universität durch Ludwig von Bayern (Seite 102) (1626) waren sie zum ersten Male in Heidelberg erschienen, aber bald wieder durch die Schweden aus der Stadt verwiesen worden(193). Der Orleanssche Krieg und das durch ihn bedingte Freiwerden mancher Professorenstelle eröffneten ihnen von neuem Aussichten auf die Heidelberger Lehrstühle. Die Gunst des nunmehr katholischen Hofes und ihr unbeugsamer Wille waren ihnen eine gute Stütze. Da das mathematische Unterrichtswesen in Heidelberg durch die Tendenzen dieser geistlichen Gesellschaft auf lange Zeit sein Gepräge erhielt, ist es nicht ohne Interesse die Entwicklung des Ueberganges zu verfolgen. Als es sich im Jahre 1696 darum handelte(194), die Lehrstühle mit evangelischen und katholischen Professoren zu besetzen, machte die Universität den Vorschlag, die Mathematik einem katholischen zu überlassen, indem sie von der Erwägung ausging, dass dieses Lehrfach keine Beziehungen zur Theologie habe, während die Philosophie von den zukünftigen Theologen behandelt werden müsse. Aber vorerst bleibt der mathematische Lehrstuhl frei von Ordensgeistlichen, bis im Jahre 1723 auf Drängen des Jesuiten-Kollegiums bestimmt wird, dass jeder Professor der Moralthelogie zugleich mathematische Vorlesungen halten müsse(195). Im Jahre 1726 wurde dem dritten Professoren der Moraltheologie, der sonst eine sehr untergeordnete Rolle zu spielen verurteilt war, ebenfalls ein mathematisches Lehramt zugesprochen und zugleich vereinbart, dass die reformierte mathematische Professur, zur Zeit noch von von Lüneschloss bekleidet, sofort mit dem Freiwerden eingezogen werden sollte(196). Bei dem Tode des von Lüneschloss machte man von dieser Bestimmung Gebrauch(197).

Der erste Ordensgeistliche, der in Heidelberg Mathematik lehrte, war Dr. theol. Melchior Kirchner. Im Jahre 1712 bekleidete er das Rektorat der Universität(198). Als tüchtige und (Seite 103) geschätzte Lehrkraft waltete er seines Amtes. Seine Vorlesungen sollten in Druck gegebene eigene Abhandlungen zu Grunde gelegt werden(199). Wie weit er diesem Plane entsprach, ist nicht klar zu ersehen, jedenfalls reden die Universitätsakten von seinen "principia mathematica", die den Anfang machten(200). Während seiner Lehrtätigkeit unternahm ein lutherischer Pfarrer namens Daniel Mercklin den Versuch, eine ausserordentliche Professur der Mathematik und der "eloquentiae sacrae" zu erlangen(201). Unter Hinweis auf seine Studien in Jena und seiner tadellosen Amtsführung als Theologe wollte er speziellere Gebiete der Mathematik, vor allem solche aus der immer grösseres Ansehen gewinnenden angewandten Mathematik lesen und so zur Förderung und Ausbreitung der mathematischen Wissenschaften durch Behandlung der Anwendungsmöglichkeiten beitragen. Obwohl Mercklins Gesuch mehrmals wiederholt wurde(202), herrschte unter den Katholiken, Reformierten und der beeinflussten Regierung eine staunenswerte Einigkeit in der Zurückweisung, eine Einigkeit, die sich nur dadurch erklären lassen kann, dass man in ihm nicht den Menschen und das von ihm vertretene Wissen, sondern nur den Lutheraner sah, den man bekämpfen und niederdrücken zu müssen glaubte. Als Gründe der Abweisungen gab man Verwirrung in den Lehrstühlen an, es sei auch kein Bedürfnis vorhanden, da drei Professoren die Mathematik lehrten und Kirchner auch den spezielleren Disciplinen, die Mercklin namentlich angeführt hatte, der Katoptrik und der Dioptrik, hinreichend gewachsen sei. Schliesslich seien dies noch grösstenteils unbekannte Wissenschaften, deren Nutzen nicht einleuchte. Hiermit sprach man aber selbst am deutlichsten aus, dass man die neuere Entwicklung der Mathematik im Zeitalter der Aufklärung nicht so ohne weiteres mitmachen oder (Seite 104) zum mindesten von einer Unterstützung absehen wollte. Unter den Nachfolgern Kirchners sind noch die Professoren Philipp Heidel und Lothar Hellings (um 1733 und um 1749) zu nennen.

Man darf nicht sagen, dass mathematische Studien bei den Jesuiten vernachlässigt wurden(203), sie haben bei ihnen eine gewisse Pflege genossen, die aber weniger eine gelehrte Tendenz trug, ohne dass man wieder den für das mathematische Studium Geeigneten, der Lust und Liebe zeigte, Hindernisse in den Weg legte. Man liess ihn durch Privatstunden weiterbilden, um auch in ihm und seinen Kenntnissen einen tüchtigen Mitstreiter und eine gute Stärke der Gedanken des Ordens zu gewinnen. Im allgemeinen war auch der mathematische Unterricht beschränkt durch die grosse Vorsicht, die man allen Fortschritten der Wissenschaften entgegenbrachte und die scharf darauf achtete, ob alle Lehren mit den Prinzipien des Ordens übereinstimmten(204) und ihnen keinen Abbruch tun konnten. Andererseits sah man in den Eigenschaften der Mathematik, den Verstand zu schärfen und die Denkvorgänge auf das genaueste zu regeln ein äusserst wertvolles Erziehungsmittel des menschlichen Geistes, so dass nach der Theologie die Mathematik als das beliebteste und von der Obrigkeit des Ordens beobachteste Studium gelten konnte. Aus gleichem Grunde erfreuten sich bei den Jesuiten auch die mathematischen Disputationen einer grossen Wertschätzung und ein Sammelband von ihnen enthält auch solche, die in Heidelberg unter dem Vorsitze der Professoren Kirchner, Heidel und Hellings stattfanden(205). Die Themata, die wegen eines besseren Einblickes in die Verhältnisse angeführt werden sollen, lauten "paradoxa geometria" oder die "aequalitas inaequalium et inaequalitate??? aequalium" die "principia geometriae ex lib. V. VI. XI. XII. Euclidis" (1750), "questiones cosmographicae" und (Seite 105) "geometria practica et architectura militaris" (1749). Reine und angewandte Mathematik haben, wenn aus den Disputationen ein Schluss gezogen werden darf, gegen die Mitte des 18. Jahrhunderts eine ziemlich gleichmässige Beobachtung erfahren. Die grosse Bevorzugung der praktischen Mathematik hatte auch in Heidelberg seine Spuren hinterlassen.


Fussnoten

  1. Parnassus Heidelbergensis. Heidelberg. 1660.
  2. Abr. Gotthelf Kästner. Geschichte der Mathematik. III. S. 337 – 340. Beiträge zur Gelehrtengeschichte des 17. Jahrhunderts Hamburg. 1905.
  3. C. Büttinghausen. Miscelanea. 1763.
  4. Ludwig Häusser. Geschichte der rheinischen Pfalz. S. 173.
  5. Allgemeine deutsche Biographie. II. S. 470. Artikel von Moritz Cantor.
  6. Archiv der Universität Heidelberg. IV. 3. e. 1.
  7. August Thorbecke. Statuten und Reformationen der Universität. S. 296. Statuten des Karl Ludwig.
  8. Winkelmann. Urkundenbuch der Universität. I. S. 389. Cursus et ordo studiorum (1655). Archiv der Universität. III. 1. 7. enthält ein Verzeichnis aus dem Jahre 1682.
  9. Winkelmann. Urkundenbuch der Universität. II. No. 1653. No. 1681.
  10. Nouvelle Biographie générale. Band XXXI.
  11. Winkelmann. Urkundenbuch der Universität. I. S. 396.
  12. Archiv der Universität. III. 5. b. 3.
  13. Poggendorf. Biographisch-literarisches Handwörterbuch.
  14. Töpke. Die Matrikel der Universität. Heidelberg. IV. S. 4. A1. S. 84. A4. Archiv der Universität. VI. 1. 73.
  15. Archiv der Universität. III. 5. b. 5.
  16. siehe 189.
  17. Archiv der Universität. III. 5. b. 5.
  18. Töpke. Die Matrikel der Universität Heidelberg. IV. S. 14. Um diese Zeit sollte auch Martin Bernegger für Geschichte und Mathematik nach Heidelberg berufen werden. Friedrich Hautz. Geschichte der Universität. II. S. 165/166.
  19. Archiv der Universität. III. 1. 2.
  20. Winkelmann. Urkundenbuch der Universität. II. S. 248. No. 2008.
  21. Archiv der Universität. III. 1. 3. behandelt die "facti species de graminibus" der Universität (1728).
  22. Archiv der Universität. III. 5. b. 7.
  23. In Heidelberg als Professor theologiae moralis seit 15. Mai 1709. Töpke. Die Matrikel der Universität. S. 32. A2.
  24. Archiv der Universität. III. 5. b. 6.
  25. Archiv der Universität. III. 5. b. 6.
  26. Archiv der Universität. III. 5. b. 6. Töpke. Die Matrikel der Universität. IV. S. 56. Die Verhandlungen erstreckten sich auf zwei Jahre (1725 – 1727).
  27. Archiv der Universität. III. 5. b. 6. Töpke. Die Matrikel der Universität. IV. S. 56. Die Verhandlungen erstreckten sich auf zwei Jahre (1725 – 1727).
  28. Georg Mertz. Die Pädagogik der Jesuiten nach den Quellen ... Heidelberg. 1898.
  29. So verbot man auf dem Gebiete der Philosophie Lehrsätze von Descartes und Leibniz. Wer sich diesen Verfügungen nicht unterordnen wollte, wurde aus dem Orden und dem Lehramte ausgestossen. Näheres über die Auffassungen der Jesuiten im Erziehungsprobleme in der unter 203 genannten Abhandlung.
  30. Dieser Sammelband steht in der Heidelberger Universitätsbibliothek unter der Signatur L 679. Melch. Kirchner. Paradoxa geometria.

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