Leo Koenigsbergers Leben — Ruf der Universität Wien 1877

1877 erhielt Leo Koenigsberger einen Ruf der Universität Wien; der Mathematiker Joseph Petzval hatte sich zurückgezogen und Ludwig Boltzmann kehrte an die Grazer Universität zurück.

Voranfrage

Leo Koenigsberger schreibt in seinen Erinnerungen Mein Leben:

(Seite 157) ... Ich hatte eben mit Beginn des Jahres 1877 mit Zeuner eine Zeitschrift untr dem Titel „Repertorium der literarischen Arbeiten aus dem Gebiete der reinen und angewandten Mathematik; Originalberichte der Verfasser“ gegründet, als ich im Februar von dem Astronomen Oppolzer im Auftrage der philosophischen Fakultät in Wien die Mitteilung erhielt, daß Petzval zurückgetreten, Boltzmann, der (Seite 158) bis dahin mathematische Vorlesungen gehalten, an Toeplers Stelle nach Graz berufen worden, und daß für die von der Regierung beabsichtigte Vereinigung beider Stellen ich von der Fakultät unico loco in Aussicht genommen worden sei; es werde — wie dies in Österreich üblich sei — zunächst eine von meiner Seite der Fakultät gegenüber zu gebende Bereitwilligkeitserklärung zur eventuellen Übernahme der Professur erbeten.

Auf Betreiben Zeuners wurde von der sächsischen Regierung in einer für mich überaus ehrenvollen Weise alles getan, damit ich auf weitere Verhandlungen nicht eingehe, aber die Wirksamkeit an der großen Universität lockte mich, und ich ging auf Anraten von Bunsen und Kirchhoff, die ich sogleich zu Rate gezogen, nach Wien, um mir die Dinge erst näher anzusehen und mit dem Minister Stremayr persönlich in Verhandlungen zu treten.

Schreiben Leo Koenigsbergers an R.W. Bunsen

Am 28. Dezember 1876 berichtet Leo Koenigsberger seinem Heidelberger Freund Robert W. Bunsen von der Voranfrage der Wiener Universität, bittet ihn aber um strikte Geheimhaltung.
  Originalbrief
      UB Heidelberg, Heid. Hs. 2741

Bitte die beigelegten Briefe nicht zu verlieren!

Dresden 28/12 76.
Ammonstr. 7.

Hochverehrter Freund!

    Soeben habe ich in der Augsburger Zeitung die Grabrede Stark's auf Köchly gelesen, die mir ungemein gefällt, weil sie warm und zugleich wahr ist; aber was für Erinnerungen zogen da durch meine Seele und wie geringfügig erschien mir da alles, um das wir gestritten und gekämpft und welch' ein Abschluß der Vergangenheit: Köchly todt und Jolly ein vergessener Mann. Nun für mich war jene Zeit entscheidend für mein ganzes Leben, ob zum Glück oder zum Unglück muß die Zukunft lehren; jedenfalls gestaltet sich jetzt alles besser, als ich es mir gedacht, vielleicht geht es so fort. —

Ich brauche Ihnen, verehrter Freund, wohl nicht Einzelheiten über mein hiesiges Leben zu schreiben, Sie werden Alles von Laur's gehört haben und wissen, daß es meiner Familie gut geht und ich in meiner Wirksamkeit große Anerkennung finde. Aber nun noch eine Mitteilung, die Ihnen neu sein wird, aber mit der dringenden Bitte, nach keiner Seite hin (auch nicht Laur's gegenüber) davon Erwähnung zu thun; es ist für mich wichtig, daß es geheim bleibt, aber Ihnen, verehrter Freund, darf ich es nicht verschweigen, ist es ja mein höchster Stolz, daß Sie sich für meine Person und mein Ergehen wirklich interessiren. Vor 5 Wochen erhielt ich von dem Astronomen Oppolzer in Wien die Mittheilung, daß „die Regierung beabsichtige, zur Besetzung der mathematischen Lehrkanzel der Universität Wien einen glänzenden Namen heranzuziehen und daß die aus Littrow, Weiß [?], Petzval, Stefan und ihm bestehende Commission mich primo loco unter allseitigem Beifall gewählt habe.“ Acht Tage später schrieb mir Prof. Weyr (Mathem.), daß die philosophische Fakultät mich primo loco dem Ministerium vorgeschlagen habe. 14 Tage darauf erhielt ich von dem Sektionschef des Unterrichtsministeriums dieselbe Mittheilung mit der Bemerkung, „daß das Ministerium die Erwerbung eines „so hervorragenden Vertreters der Mathematik für eine oesterreichische Universität freudigst begrüßen würde“ und wurde aufgefordert, anzugeben, „ob und unter welchen Modalitäten ich geneigt wäre den Ruf anzunehmen, damit eine Basis für weitere Verhandlungen gewonnen würde.[“] Ich antwortete, daß es mir eine Ehre sein würde, auf eine so hervorragende Stelle berufen zu werden und gab die Verhältnisse an, unter denen ich hier wirke, fügte jedoch hinzu, daß es zur Besprechung über die Gründung eines mathematischen Seminars, der Frage der Staatsprüfungen und anderer Punkte wohl am besten sein würde, wenn ich persönlich in Wien mit dem Minister Rücksprache nehmen könnte; ich bäte mir daher eine Zeit zu bestimmen, in der dies geschehen könnte.

Darauf kam acht Tage später von dem Sektionschef die folgende Antwort „Ihr geehrtes Schreiben vom 7ten habe ich sogleich dem Herrn Minister mitgetheilt und wird derselbe demnächst in der Lage sein, Ihnen mit positiven Anträgen entgegenzukommen, welche auf dem Wege mündlichen oder schriftlichen Verkehrs zu einem erwünschten Abschluß führen dürften.“ — Seit der Zeit sind nun 14 Tage vergangen und es ist keine Zeile von Wien eingetroffen, so daß ich die Sache eigentlich aufgebe und annehme, daß der Minister anderen Sinnes geworden ist, wenn auch die Art ungleublich und unverständlich wäre. Ich habe die Angelegenheit hier Zeuner vertraulich Zeuner mitgetheilt, der mich um die Erlaubniß bar, Gerber gegenüber davon sprechen zu dürfen; ich erklärte jedoch von vornherein, daß ich mich auf Verhandlungen nicht einlaße und daß ich gehen würde, wenn die Bedingungen acceptabel seien. Sie werden begreifen, lieber Freund, daß ich an eine Universität zurück will. Es ist aber hier, auch dem König gegenüber, absolutes Geheimniß ausgemacht worden; also nochmals Bitte um Schweigen. Ich legen Ihnen ein Schreiben Zeuners und einen Brief Gerbers an Zeuner bei mit der Bitte, dieselben umgehend zurückzuschicken. Gerber war gestern bei mir, aber er sieht ein, selbst nichts sagen kann. — Noch herzlichste Grüße von mir und meiner Frau und die innigsten Wünsche für ein frohes, gesundes und glückliches neues Jahr.

Ihr
Leo Koenigsberger

Berufungsverhandlungen

In seinen Erinnerungen berichtet Koenigsberger weiter:
Bunsen hatte auf meine Anfrage umgehend geantwortet:
„Es würde unrecht sein, wenn ich auf Ihre Entscheidung, die eine Lebensfrage für Sie werden kann, einwirken wollte; aber bei der Freundschaft, die uns verbindet, würde ich Ihnen recht dringend ans Herz legen, daß Sie sich die Wiener Verhältnisse recht gründlich ansehen, ehe Sie einen Entschluß fassen. Was mich in Betreff der dortigen Verhältnisse immer bedenklich gemacht hat, ist der Einfluß, der sich unter der Studentenschaft, selbst sogar unter Betheiligung einzelner akademischer Collegen gegen das Streben, bessere wissenschaftliche (Seite 159) Zustände herbeizuführen und höhere Anforderungen zu stellen, von Zeit zu Zeit geltend zu machen sucht, und der, wie Brücke, Billroth und Andere erfahren haben, nicht ohne ärgerliche und aufreibende Kämpfe zu überwinden ist. Seien Sie daher auf der Hut, lieber K., bevor Sie Ihre jetzigen Verhältnisse gegen die dort gebotenen vertauschen.“

In Wien kam mir Stremayr mit für die damaligen Verhältnisse so glänzenden finanziellen Anerbietungen und weiteren Zugeständnissen für die Möglichkeit einer großen akademischen Tätigkeit entgegen, daß ich den Ruf sogleich definitiv annahm. Es fiel mir recht schwer der sächsischen Regierung meine Entschließung mitzuteilen, nachdem diese mir während der zwei Jahre meiner Dresdner Wirksamkeit stets mit so dankenswerter Aufmerksamkeit entgegengekommen, und besonders bedauerte ich die Trennung von meinen so verehrten Freunden Zeuner und Toepler, deren Familien auch der meinigen sehr nahe standen. Als Direktor des Polytechnikums schrieb mir Zeuner am 9. Februar:

„Die Direction kann sich nicht versagen, dem Gefühle ihres aufrichtigsten tiefsten Bedauerns über Ihr Ausscheiden aus Ihrem hiesigen Wirkungskreise, in welchem Sie während einer kurzen Dauer bereits so erfolgreich thätig waren, Ausdruck zu geben. Schwer empfindet sie den Verlust, den hiermit sowohl das Polytechnikum im Allgemeinen als in's Besondere die Ihrer speciellen Leitung anvertraute Lehrerabtheilung erleidet, und dies um so mehr, je größer die Hoffnungen waren, welche die Direction von Ihrem ferneren Wirken in dieser Abtheilung, (Seite 160) welche in der Reorganisation und in der Erhebung zu der ihr gebührenden Stellung begriffen ist, hegte und zu hegen berechtigt war. Mit dem lebhaftesten Danke für die warme und hingebende Betheiligung an den reformatorischen Bestrebungen der Direction, welche Ihr hiesiges Wirken kennzeichnet, verbindet sie daher die ergebenste Bitte, und sie ist deren Erfüllung gewiß, unserm Polytechnikum Ihre Theilnahme auch ferner bewahren zu wollen.“

Leo Koenigsberger in Wien

Im 6. Kapitel seiner Erinnerungen berichtet Koenigsberger von der ersten Zeit in Wien:

(Seite 163) Ostern 1877 siedelten wir nach Wien über, bezogen eine sehr schöne, am Platze der Votivkirche gelegene Wohnung und suchten uns rasch in die neuen, uns zunächst recht fremdartigen Verhältnisse einzuleben. Große Freude machte mir ein unmittelbar nach unserer Ankunft von meinem alten Schüler Koenig aus Pest erhaltenes Schreiben:

„Da wir hier so glücklich sind, Sie in unserer unmittelbaren Nähe zu wissen, halte ich es für die Pflicht des dankbaren Schülers, Sie in Ihrem neuen Wirkungskreise zu begrüßen und Ihnen mitzutheilen, mit welch' besonderer Befriedigung unser ganzer Kreis Hunyady, Eötvös u. s. w. erfahren, daß Sie den Ruf nach Wien angenommen,“
und Bunsen sendet mir die herzlichsten Glückwünsche und erzählt mir von dem zu seinem Jubiläum veranstalteten Kommers; aber er fühlt sich müde und einsam:
„ich lebe noch ganz in und von den Erinnerungen an die schöne Zeit, die uns hier in treuer Freundschaft verbunden hat und finde in dieser Erinnerung den einzigen Ersatz für Alles, was ich durch Ihren und Kirchhoff's Abgang von hier verloren habe. Sie glauben garnicht, wie einsam ich mich oft in dem (Seite 164) Bewußtsein fühle, von allen alten treuen Freunden getrennt zu leben.“

Informationen zu den oben genannten Personen befinden sich im Personenregister von Leo Koenigsbergers Mein Leben.


Letzte Änderung: Mai 2014     Gabriele Dörflinger   Kontakt

Zur Inhaltsübersicht     Historia Mathematica     Homo Heidelbergensis     Leo Koenigsberger