Leo Koenigsbergers Leben — Abschied von Heidelberg 1875

Der Ruf aus Dresden

In der Heidelberger Universität entstand 1871 ein Streit über die Kompetenzen der Bau- und Ökonomiekommission, der die Professoren in zwei Lager spaltete.

Leo Koenigsberger schreibt in seinen Erinnerungen Mein Leben:

(Seite 128) Mancherlei Ereignisse, Zwistigkeiten und Reibungen an der Universität, warfen bereits ihre Schatten voraus und verkleinerten den Kreis der Kollegen, mit denen wir sonst öfter gesellig zusammenkamen. Zeller hatte nach längerem Zögern wiewohl schon 60 Jahre alt, durch den Einfluß von Helmholtz den Ruf nach Berlin angenommen, und dies war mir besonders schmerzlich und für meine Zukunft verhängnisvoll. Denn unmittelbar vor der Zeit, in welcher durch Meinungsverschiedenheit über geringfügige und unbedeutende Dinge, Platzstreitigkeiten bei den Sitzungen der Ökonomie-Kommission, Mißhelligkeiten unter den Professoren entstanden waren, hatten unsere Kollegen, auf Betreiben von Helmholtz, Zeller und mich in den engeren Senat gewählt, in welchem wir beide die Vertreter der Majorität des großen Senats waren; naturgemäß richtete sich die gereizte Stimmung der Minorität gegen uns, wiewohl wir beide — ich darf dies heute ohne weiter auf diese Dinge einzugehen, offen und unbefangen aussprechen — die ruhigsten und sachlichsten Mitglieder des Engeren Senats waren, wie man dies wohl auch von einem Manne wie Zeller von vornherein hätte annehmen müssen. Leider machte man nun in Karlsruhe in Unkenntnis der Verhältnisse keine erheblichen Anstrengungen, um Zeller in Heidelberg zu halten, und so verloren wir diesen hervorragenden Gelehrten, der (Seite 129) noch 30 Jahre hindurch die Zierde der Berliner Universität und Akademie gebildet hat. ...

So fingen ohne ersichtlichen und vernünftigen Grund die Verhältnisse in Heidelberg an, ein wenig unbehaglich zu werden ...

(Seite 135) Ich machte mit meiner jungen Frau die Hochzeitsreise [1873] über Wien nach Charkov zum Besuche meiner Schwiegermutter, und sodann über Moskau und Petersburg zu meinen Eltern nach Posen. Ende September kehrten wir nach Heidelberg zurück, wo wir eine schöne, an der Anlage gelegene Wohnung bezogen.

Leider hatte inzwischen die gegenseitige Gereiztheit der Professoren noch nicht nachgelassen, wiewohl das ursprüngliche Streitobjekt längst vergessen war; neu eingetretene hervorragende Kollegen hatten für und wider Partei genommen, und es wurde viel Zeit und viel Kraft von all den ausgezeichneten Männern an diesen nichtigen Dingen vergeudet. ...

Koenigsberger hatte 1873 geheiratet und im Folgejahr wurde sein Sohn Johann geboren. Zur Sicherung seiner Familie war ihm jetzt an einem höheren Einkommen gelegen. Da erhielt er Mitte 1874 einen Ruf aus Dresden. Koenigsberger berichtet:

(Seite 137) Nachdem ich eben den ersten Band meiner „Vorlesungen über die Theorie der elliptischen Functionen“ veröffentlicht hatte, erhielt ich im Juli 74 von Aronhold aus Berlin die folgende Mitteilung:
Zeuner, welcher bekanntlich das Directoriat an der Polytechnischen Schule in Dresden übernommen hat, wünscht mit derselben nach Schloemilch's Abgang, welcher October dieses Jahres stattfindet, eine Art mathematischer Facultät zu verbinden, welche eine Pflanzschule für diese Wissenschaft im höchsten Sinne werden soll. Er sucht hierzu zunächst einen Mathematiker, der die Leitung übernimmt und auf dessen Vorschläge weitere Engagements und Einrichtungen zu treffen sind. Er hat mir unter sehr günstigen Bedingungen einen Ruf zugesendet, und ich wäre darauf eingegangen, wenn man mich nicht unter noch günstigeren Bedingungen hier gehalten hätte. Wenn er einen älteren Mathematiker von Ruf bekommen kann, so stehen ihm ansehnliche Mittel zu Gebot,“

und bald darauf erhielt ich ein längeres Schreiben des mir später so eng befreundeten Zeuner, der mich im Auftrage des sächsischen Ministers v. Nostiz anfragte, ob ich geneigt wäre, die durch den Abgang von Schloemilch erledigte Professur anzunehmen (Seite 138) und an der Neugestaltung der Hochschule bei der Berufung neuer Lehrkräfte mitzuwirken. Im ersten Augenblicke schien es mir unmöglich, mich trotz der für die damaligen Verhältnisse glänzenden Bedingungen mich von meinen Freunden und Schülern zu trennen, und ich wollte ohne weiteres die Berufung dankend ablehnen, wurde aber durch meine Frau bestimmt, die Angelegenheit wenigstens mit Kirchhoff und Bunsen zu besprechen, welche dann beide entschieden der Ansicht waren, daß ich dem Badischen Ministerium davon Mitteilung mache und Wünsche bezüglich meines Verbleibens ausspreche. Zugleich schickte die Fakultät den Dekan in Begleitung von Kirchhoff zu Nokk; dem Referenten im Unterrichtsministerium nach Karlsruhe, um demselben in einer für mich sehr ehrenvollen Weise den dringenden Wunsch der Fakultät auszusprechen, mein Verbleiben an der Universität Heidelberg zu ermöglichen. Wenn aber auch bald darauf der Unterrichtsminister Jolly selbst in einem sehr freundlich gehaltenen Schreiben eben diesem Wunsche von seiten der Regierung Ausdruck gab, so war doch in demselben eine wesentliche Verbesserung meiner Stellung nicht in Aussicht gestellt, und überhaupt eine etwas kühle Stimmung, die noch aus der Konfliktzeit der Universität herstammte, nicht zu verkennen. Da ich aber durch meine Verheiratung gezwungen war, eine Verbesserung meiner Verhältnisse dringend ins Auge zu fassen, und die Anerbietungen von seiten des sächsischen Ministeriums immer entgegenkommender wurden, so nahm ich den Ruf nach Dresden für Ostern 75 an, wenn auch schweren Herzens, denn (Seite 139) eine Trennung von Kirchhoff und Bunsen sowie von manchen andern liebgewordenen Freunden und Kollegen wie Kühne, Bekker u. a. erschien mir wie ein Bruch mit meiner ganzen Vergangenheit — und doch sollte die Versetzung aus der in Heidelberg durch die Universitätsstreitigkeiten für mich drückend gewordenen Atmosphäre in völlig neue Verhältnisse nur zu meinem Glück sein. ...

Leo Koenigsberger an Robert W. Bunsen

Am 20. März 1875 berichtet Koenigsberger seinem Freund Robert W. Bunsen von seinem Abschiedsbesuch beim badischen Großherzog.
  Originalbrief
      UB Heidelberg, Heid. Hs. 2741

Heidelberg 20/3 75.

Lieber Bunsen!

  Nachdem vor einer Stunde Kirchhoff abgereist ist, mache ich mich an die Erfüllung meines Versprechens, Ihnen über meine Karlsruher Expedition Mittheilung zu machen. Der Grossherzog empfing mich mit den Worten: „Sie wollen also nach Dresden gehen“, worauf ich in der Absicht, keinen der unangenehmen Punkte zu berühren, antowrtete, jawohl, ich soll einen Versuch machen, eine mathematische Fachschule zu organisiren nach dem Muster der école polytechnique in Paris. Hierauf entwickelte sich eine längere Unterhaltung über die Bedeutung solcher Fachschulen, wobei ich mehreremal hervorhob, dass der König von Sachsen sich für die Anstalten seines Landes lebhaft interessire und dass darin allein schon eine Gewähr für Gedeihen derselben läge. Er fragte mich, ob mir die Trennung von Kirchhoff schwer fiele, worauf ich ihm erwiederte, dass diese Trennung das schmerzlichste sei, was mir als wissenschaftlichem Manne überhaupt habe begegnen können, da ich nicht bloss Anregung zu eigenen Arbeiten erhalten sondern auch durch den grossen Namen Kirchhoff's Schüler habe heranbilden können; ich schilderte ihm die Bedeutung Kirchhoffs, charakterisirte auf wiederholte Fragen unsere Zuhörer nach den Ländern, aus denen sie stammten, und kam zuletzt selbst auf politische Unterhaltung. Endlich sagte er, nun so wünsche ich Ihnen dann, dass der Versuch, den Sie in Dresden anstellen wollen, zu glücklichen Resultaten führe. Es war nicht zu verkennen, dass er durch längere Unterhaltung sich eine Einsicht darüber verschaffen wollte, ob ich wirklich ein so fürchterlicher Kerl sei, als ich ihm geschildert worden bin. Unmittelbar nach mir ging Fischer hinein, den ich im Vorzimmer erwartete; inzwischen trat ein kleiner Herr in das Vorzimmer und fragte den Adjutanten, ob Prof. Koenigsberger schon hier gewesen sei; als dieser auf mich hindeutete, trat derselbe zu mir heran und stellte sich als Herr v. Sternberg vor. Es entwickelte sich eine sehr lebhafte halbstündige Unterhaltung zwischen uns, aus der ebenso klar hervorging, dass man sehen wollte, ob ich wirklich ein solches Ungeheuer bin. Sternberg sprach von Ihnen, lieber Bunsen, mit einer wahrhaften Verehrung und konnte nicht genug Kirchhoff's Trennung von Ihnen bedauern; aber auch hier hielt ich mich von jeglicher Berührung all' der unangenehmen Dinge fern. In der Unterhaltung mit Fischer ging der Grossherzog mehr auf all' die Einzelheiten ein; er fragte, ob ich wirklich ein so „streibarer“ Mann wäre, worauf Fischer erwiederte, dass dies nicht der Fall wäre, er würde wohl in der eben mit mir stattgehabten Unterhaltung gesehen haben, dass ich sehr bestimmt in meinen Ansichten und Urtheilen sei, auch sehr lebhaft stets für meine Meinung einstehe, und dass in Folge dieser Eigenschaft vielleicht ein solches falsches Urtheil entstanden sei. Aber er soll ja in dem Conflicte eine so hervorragende Rolle gespielt haben, antwortete der Grossherzog. Fischer sagte, er könne darüber nicht aus eigener Anschauung urtheilen, da er noch nicht hier gewesen sei, doch habe er davon nichts gehört. Nachdem Fischer noch auf die Auflösung der mathematisch-physikalischen Schule hingewiesen, was für eine Universität mehr bedeute als der .....

(Das Folgeblatt des Briefes fehlt.)
Mit Fischer ist der Philosoph Kuno Fischer (1824-1907) gemeint. Koenigsberger kannte Fischer seit seiner Posener Schulzeit.

Reaktionen auf den Weggang Koenigsbergers

Leo Koenigsberger schreibt weiter in seinen Erinnerungen Mein Leben:
(Seite 140) So verließen denn Kirchhoff und ich Ostern 1875 Heidelberg, und Bunsen blieb tief traurig und vereinsamt dort zurück; — „wenn mich alten Mann noch eine Universität haben wollte, ich ginge sofort“, antwortete er einem Vertrauensmann seines Landesherrn, der voll Sorge für das Wohl der Heidelberger Hochschule und in berechtigtem Stolz auf den Ruhm eines Helmholtz, Bunsen und Kirchhoff über die wahren Gründe des Abganges Kirchhoffs und die dadurch erfolgte schwere Schädigung der Interessen der Heidelberger Universität informiert sein wollte.

Unmittelbar nach meiner Abreise schrieb mir Bunsen am 21. April 75:

„Mein theuerster Koenigsberger!
Von der Reise zurückgekehrt lasse ich es meine erste Sorge sein, Ihren freundlichen Brief zu erwiedern, der mir in Neapel große Freude bereitet. ... Der Großherzog scheint nachgrade zum Bewußtsein zu kommen, was er von dem Beamtenklatsch zu halten hat. Wie die Sachen stehen, kann das freilich für die hiesigen Verhältnisse nur höchst gleichgültig sein, aber doch den intriganten Maßnahmen ein heilsames Ende bereiten helfen; was mich anbelangt, so werde ich nicht aufhören, so lange ich noch hier bin, dem Karlsruher Treiben die schroffste Haltung entgegenzusetzen. .... Ich kann mich noch nicht an Ihre und Kirchhoffs Abwesenheit gewöhnen (Seite 141) und sehe dem kommenden Semester mit Unlust und Unmuth entgegen. ......“,

und Zeller schreibt mir im August 74:

„..... das hätte ich doch nicht für möglich gehalten, so viel ich auch der Regierung an brutaler Mißachtung der Universität und ihrer Interessen zugetraut hatte. Wie leid es mir für unser Heidelberg und den dortigen Freundeskreis thut, darf ich Ihnen nicht erst sagen. .....“
...     (Seite 148) Und kaum in Dresden angekommen, wurde ich noch durch zahlreiche Briefe von meinen Freunden an das „verlorene Paradies“, wie Kirchhoff in einem späteren Briefe aus Berlin unser Heidelberg nannte, erinnert.

„Dein Brief — schreibt Kühne — klingt so vergnüglich, so hoffnungsfroh und anmutend, wie es nur bei guten Eindrücken möglich ist, daß wir in recht guter Stimmung an Euch denken. Das ist die beste Art über die Erregung der Trennung hinwegzukommen und den Gedanken an die traurige Leere zu verlieren,“
(Seite 149) und Bekker, dem ich es dringend ans Herz gelegt, sich Bunsens anzunehmen, schreibt schon am 27. April 75:
„Mit Bunsen bin ich viel zusammengekommen; Achtung und Zuneigung sind gewachsen bei mir, beinahe bis zur Verehrung; es ist wirklich ein Mensch, größer als der gewöhnliche Schlag, taktvoll und wohlwollend und klug dabei. Daß es Dir so wohl geht, freut mich sehr, hatte aber daran auch eigentlich nie gezweifelt.“

Robert W. Bunsen an Leo Koenigsberger

Koenigsberger hatte Bunsen im Sommer 1875 nach Dresden eingeladen. Bunsen antwortete ihm am 18. September 1875.
  Originalbrief
      UB Heidelberg, Heid. Hs. 2741
Mein theuerster Freund!

Herzlich durch Ihren freundlichen Brief erfreut, den ich hier bei meiner Rückkehr vorfand, richte ich diese Zeilen nach Dresden, wohin Sie jetzt hoffentlich wohl und erfrischt zurückgekehrt sind. — Wenn in Allem, was Sie mir schrieben, sich das Gefühl einer völligen Befriedigung mit Ihren neuen Verhältnissen noch nicht, wie ich gewünscht und gehofft, ausspricht, so möchte ich Ihnen zu bedenken geben, daß „Rom nicht in einem Tage gebaut“ und doch mit der Zeit sich noch Alles nach Ihren Wünschen auf das Beste gestalten kann und gewiß gestalten wird, wie es ja auch hier der Fall gewesen ist, wo Sie auch ungünstige Verhältnisse vorfanden und zu überwinden hatten. Was auch die Zeit mit sich bringen mag, davon dürfen Sie überzeugt sein, daß die hiesigen Niederträchtigkeiten, außer bei ihren wenigen Urhebern selbst, weder hier noch irgendwo anderwärts auch nur den leisesten Schatten auf Ihre Person zu werfen vermocht haben oder vermögen werden und daß von dieser Seite Ihre Zukunft nicht durchkreuzt werden kann.

Hier hat sich in den Verhältnissen äußerlich und innerlich nichts geändert, nur daß man in Carlsruhe nachgerade etwas kopfscheu geworden zu sein scheint. Ich bin sogar letzthin durch einen Besuch Jolly!s in Erstaunen gesetzt worden, der aber bei der eisigen höflichen Kälte von meiner Seite sehr kurz und ohne jede Explikation verlief. Er wird wohl mit der Ueberzeugung von dannen gegangen sein, daß ich weder ihn gebrauche noch von ihm gebraucht sein will. Die Schöpfungen Jolly-Treitschke beginnen ihre Früchte zu tragen: Erdmannsdörffer[durchgestrichen] entpuppt sich immer mehr als eine völlige Null; er leidet, wie Gaß, in der Fakultät und auf dem Katheder an allgemeiner Verquatschelung und ist in den von Häusser meist vor Hunderten von Zuhörern gehaltenen Hauptvorlesungen bereits bis auf ein Auditorium von 6 bis 8 Zuhörern herabgekommen.

Kopp, der freundlichst grüßen läßt und eben von Gastein zurückgekehrt ist, geht es gut; aber ich fürchte, daß er durch seine Arbeitswut und verbitterte Stimmung, gegen die keine vernünftigen Vorstellungen helfen, sehr bald den Erfolg seiner Cur wieder verscherzt haben wird. Ich selbst befinde mich, abgesehen von meiner großen Vereinsamung, leidlich wohl; ein vierzehntägiger Ausflug in das Berner Oberland in Gesellschaft von Dusch hat mir sehr wohlgetan und wird hoffentlich dazu beitragen, mich die kommenden Wintermühsale leichter tragen zu lassen.

Wie dankbar ich Ihre freundliche Einladung erkenne, brauche ich Ihnen, mein theuerster Koenigsberger, nicht erst zu sagen, aber ich rechne sicher darauf, daß Kirchhoff von seinem Besuch bei Ihnen auch zu mir kommt und für später hat mir Roscoe seinen Besuch versprochen.

Mit der Bitte um die freundlichsten Empfehlungen an Ihre Frau Gemahlin

von Herzen
Ihr
R.W. Bunsen
Heidelberg den 18. Sept. 1875
Anmerkungen:
Theodor von Dusch (1824-1890) war ab 1854 Professor für Kinderheilkunde an der Heidelberger Universität.
Wilhelm Gaß (1813-1889) lehrte ab 1868 in Heidelberg Kirchengeschichte, Symbolik, Dogmatik und Ethik.
Für alle anderen Personen vergleiche das Personenregister zu Leo Koenigsbergers Mein Leben.


Letzte Änderung: Mai 2014     Gabriele Dörflinger   Kontakt

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