Anna von Helmholtz: Briefe zur Amerikareise 1893

Rundfahrt durch die Vereinigten Staaten

Quelle; Helmholtz, Anna von: Anna von Helmholtz : ein Lebensbild in Briefen / hrsg. von Ellen von Siemens-Helmholtz. - Berlin
Band 2 (1929), S. 64-65
Signatur UB Heidelberg: F 6834-3-44::2

Denver, Colorado, 2. September 1893.

Liebe Ellen! … Dreißig Stunden Steppenfahrt sind eine große Leistung, von der wir uns heute durch einen ganzen Ruhetag erholen. Denver ist ein wunderbarer Ort, 5000 und etliche Fuß hoch über dem Meere, eine Stadt von Palästen, Villen und Bretterbuden, mit einem Capitol selbstredend auf der Anhöhe. Für die weisen Lenker des Staates Colorado und seiner Silberminen giebt es ein Villenviertel voller Normannenschlösser, Coloniallandhäuser mit großen Veranden, schönstem Rasen, jungen Bäumen und auch etlichen wenigen Blumen dort, wo gegossen wird — ferner mit elektrischem Licht, dito Straßenbahnen, Avenues, Boulevards und einer herrlichen Bergkette als Hintergrund, mit den 14000 Fuß hohen Peaks, die aber langgestreckte Schneerücken sind und auf welche man per Zahnradbahn fährt, was wir morgen früh thun wollen. Dazwischen ist Steppengras und Öde, Disteln und wilde kleine Sonnenblumen mit einer unglücklichen Kuh, die da weiden soll, dann wieder eine Avenue und ein größer Stadtpark, in dem viele Bäume, alle quasi vorgestern gepflanzt, stehen. Dazu Seen und Boote, die darauf umherfahren. Diesen herrlichen Himmel, diese Bergkette, etwas Architektur, Rasen und Bäume nach dem Rauch von Chicago, nach dem Lärmen und Jagen und Tosen und den Hunderttausenden von Menschen — ist unsagbar. Ebenso dieses riesige luftige saubere Hôtel mit einer gelben Onyxhalle vom Flur bis unters Dach, von acht Stockwerken umgeben. Im achten Stock liegen die Speisesäle mit Aussicht auf das Gebirge und herrlicher Luft. Wir sind im fünften Stock, hoch erhaben in zwei Stuben mit Bade-Etablissement dazwischen, still und einsam den Schneebergen vis-á-vis. Die Elevators fahren auf und nieder, man saust dahin, daß Einem der Atem vergeht, lebt dabei auf — flickt, näht, schreibt, schläft und ruht den müden Kopf.

Hentschel ist die Würze unserer party durch seine wirklich große Liebenswürdigkeit, und die unsagbare Komik seines Verkehrs mit Negerkellnerinnen und Kellnern, die alle schon grinsen, wenn sie ihn nur sehen nach der ersten Mahlzeit, die er eingenommen hat, denn er verlangt das Unwahrscheinlichste von der Speisekarte, versucht es und gibt es empört zurück. Man könnte Lustspiele schreiben über ihn. Fräulein Knapp kommt gar nicht aus dem Lachen und als Gegengewicht gegen Knapps andauernden kategorischen Imperativ ist Hentschel unbezahlbar. Jede sittliche Höhe muß vor dieser heiteren Gutmütigkeit erlahmen. Um keinen Preis läßt er sich hetzen oder kasteien oder zur Bewunderung unangenehmer Notwendigkeiten hinreißen.

Der liebe Gott aber hat sich Ferien gegönnt bei der Erschaffung des Inneren von Amerika. So etwas haarsträubend garstig Langweiliges und ganz unausgesetzt Langweiliges, wie die Strecke Chicago-Denver, ist niemals da gewesen. Sie ist flach wie ein Tisch; das erste Stück endlose Strecken Maisfelder, Meilen und Meilen gleichmäßig, ab und zu eingezäunt, ab und zu wieder mit trockenen Meilen von Stoppelfeldern abwechselnd, wo einst Weizen gestanden hat. Hier und da befindet sich ein Bretterhaus mit Veranda, etlichen Bäumchen, etlichen Hühnern oder einem Bretterdorf mit irgendeinem Bretter-Lunchroom oder Saloon und Avenues und einem Hôtel, welches aber mehr für Hühner taugt als für Menschen. Dann kommt eine Bretterstadt mit großem Vieh- und Getreide-Building zum Transport für beide. Und dann wieder Mais, wieder Stoppeln, wieder mageres Vieh und schwarze Schweinerudel, bis wir am ersten Tage abends an den Mississippi und die Stadt Burlington kamen. Dort legte man sich in dem entsetzlichen Pullman-Sleeping-Car ins Bett. Ich ließ mein Fenster auf, bekam fingerdicken Staub, aber doch Luft in meine Cabuse herein und wachte in der Nacht auf an dem feuchten Geruch, als wir an den Missouri kamen, einen großen breiten, im Mondschein glänzenden Strom. Der Mississippi war gelb wie die Weichsel, aber der Abendhimmel versöhnte durch seine Farben mit des Tages Öde. Der Mut der Menschen, sich anzusiedeln in solchen Einöden, ob fruchtbar oder nicht, bleibt sich gleich — ist mir geradezu ergreifend. Man sieht in der Nähe der sogenannten Ortschaften hübsche buggies fahren von damenartigen Wesen kutschiert; man sieht auch ein Kind ab und zu, aber selten. Die Männer sind blaß und gebeugt, alle etwas kauend, gar nicht bäurisch nach unserer Art, nur vulgär und müde, so draußen, so im Waggon, so in der Ausstellung und auf der Straße.

Man frühstückte mit hunderttausend Fliegen, bedient von Negerkellnern, die in den Zwischenpausen ihrer Thätigkeit den Gästen die Fliegen mit Fächern abwehrten. Dann begann die Steppe, die richtige öde Steppe, auf der aber doch ab und zu ein Ort lag, wo die Lokomotive Wasser schöpfte. Dann stieg alles aus und lief in den scharfen Steinen umher und atmete auf. Hier und da weideten Viehherden auf dem harten Grase, ein Cowboy zu Pferde trieb sie vor sich her, oder Pferde liefen herum, sträflich magere Tiere; was sie trinken blieb mir ein Rätsel, denn wir haben vom Missouri ab kein Wasser mehr gesehen bis vor Denver. Dann hörten auch diese Erscheinungen auf und es war fünf bis sechs Stunden lang im schönen Staate Nebrasca überhaupt nichts mehr da — als der Himmel, die graugelbe Ebene und einmal die Silhouette einer Kuh am Horizont, einmal ein Pferd und dann kamen die Prairiehunde oder Hasen. Die Sonne brannte sehr und man schlief, wenn man nicht mehr lesen konnte, oder las, wenn man nicht mehr schlafen konnte.

Endlich kam Denver; die alte Stadt der Goldgräber und Abenteurer fing auch ebenso unwahrscheinlich an wie alles Andere, mit Bretterbuden. Dann kam ein Bahnhof und zwei Augenärzte, welche Knapp abholten und auch uns mitnahmen in dieses wirkliche Palace Hôtel mit der Onyxhalle. Die Onyxsäulen tragen aber bronzierte Gußeisen-Kapitäle und überhaupt geht künstlerische Barbarei neben dem herrlichsten Material einher. Wir sind zwei Stunden gefahren und haben mit den Augenärzten in einem sechssitzigen Break eine sehr schöne Rundfahrt gemacht und genießen jetzt den verlorenen Tag. Papa hält unberufen merkwürdig gut aus; die Eisenbahn hat er ausgehalten und findet bereits Nachtfahrten besser als Tagesreisen. Eure Briefe waren eine große Erquickung und wir haben sie in der Steppe immer ab und zu gelesen, um uns Bergluft und Euer Dasein vorzustellen.

Deine Mama.


Glenwood Springs, Colorado, in den Rocky Mountains, 6. Sept. 1893.

… Wir hätten wie andere vernünftige Menschen von Chicago nach San Francisco und über die Rocky Mountains zurückfahren sollen. So ist es ein langes, langes Fahren in Nebenzügen ohne gute Waggons, wobei man Land und Leute sehr sieht, aber schlecht und mit unglaublichen Menschen fahren muß. In Summa dafür, daß alles in einer Klasse fährt, benehmen sich die Meisten musterhaft. Daß sie ihre Kinder ungehemmt auf den Nebenmenschen loslassen und ihnen nie wehren, ist minder reizvoll, zumal bei der großen Unternehmungslust und den kreischenden Stimmen dieser Lieblinge. Doch hört und sieht man eigentlich mehr menschlich Angenehmes als im Palace Car und im Ganzen sind die langen Fahrten viel weniger ermüdend als bei uns. Woher das kommt, weiß ich nicht. Vielleicht weil man immer etwas Unbekanntes sieht.

Die Rocky Mountains sind eine unabsehbare Welt von kahlen Apenninartigen Bergen mit tief eingeschnittenen Thälern, merkwürdigen Sand- und Granitsteingebilden; Wälder giebt es nicht und die wenigen, die noch erhalten sind, werden alle angesengt und angebrannt. Ganze Gegenden sind erfüllt mit verbrannten Stämmen, die gen Himmel starren, darunter junges Gestrüpp. Nirgends ist ein Baum erhalten, Herunterbrennen scheint hier die Losung zu sein. Das Herz thut Einem weh und es werden Jahrhunderte nicht ersetzen können, was die paar rohen Ansiedler verdorben haben. Die Eisenbahn scheint auch die einzige Fahrstraße zu sein. Man sieht nur Steppen ohne Wege oder ganz schauderhafte Bergpfade, keine ordentliche Fahrstraße.

Wir waren von Manitou, das scheußlich ist, obgleich in allen amerikanischen Zeitungen als das Juwel des Ostens gepriesen — hinaufgefahren auf den 14000 Fuß hohen Pikes Peak in einer Art Rigi- Bahn bis 8000 Fuß in die Höhe, ohne einen Moment Schwindel unterwegs, denn die Bahn geht immer auf breiter Bergschulter hinauf. Es ist ein ergreifendes, erhabenes Bild, das sich allmählich entrollt. Über dieser blauen Welt ohne eine Wolke, ohne Dünste, erheben sich die weißen Schneerücken. Die Schneegrenze liegt aber erst bei 14000 Fuß, weiter unten ist keine Handbreit Schnee zu sehen. Oben war die Luft so dünn, daß Atmen und Bewegen uns Allen sehr schwer war. Man bekam Kopfweh, Ohrenzwang und Unbehagen und setzte sich auf das Gerölle, aus dem der hohe Berg besteht und schaute hinab. Es war dieser Moment wohl eine Reise wert. Aber das Gefühl der Höhe des Erklommenen hat man nicht, weil das ganze ungeheure Land so sanft ansteigt, daß man am Fuße der Gebirge in der Ebene schon 6000 Fuß hoch ist. Die Schwierigkeiten, die man am Mont-Blanc hat mit dem dortigen Observatorium, existieren hier nicht. Da ist ein Schutzhaus mit englischem Restaurant und eine meteorologische Station, die das ganze Jahr funktioniert. Im Dezember soll es schneien und dieser Schnee soll sechs bis sieben Wochen liegen bleiben. Die Luft ist ja so trocken, woher sollte der Schnee kommen! Es fehlen die Bäume, die Bäche, die Gletscherströme der Alpen. Aber es ist doch ein so eigenartig großes Bild, daß wir es nie vergessen werden. Die ganze Expedition dauerte sechs Stunden und ist fast zu mühelos.

Am Nachmittag fuhren wir zu Wagen zu einem Badeort „Colorado Springs“, wo zwar keine Springs sind, aber ein gutes Hôtel. Von dort fuhren wir in zwölf Stunden Eisenbahn hierher durch trockenes Land, wo es nie regnet, wo aber doch Viehweiden sind. So kamen wir hierher ins Gebirge an unseren westlichsten Punkt — die Route heißt Rio-Grande-Denver und ist von einem englischen Ingenieur Palmer gebaut, der in einem weltverlorenen Thal sich und seiner Familie ein englisches Cottage erbaut hat. Daneben zauberte er große grüne Rasenflächen und Blumenbosquets, Epheu und Creepers aus der Wildnis hervor und schuf mit Beibehaltung des Charakters dieser Landschaft ein Stück Old England, das Entzücken und Staunen in mir wachrief. Keine Cyklopenbauten im Gemüsegarten, keine Normannenschlösser mit einem Vorgärtchen an der Straße — sondern einen artesischen Brunnen grub er, bewässerte sein Land und hat nun Rasen und dabei die ganze dunkelblaue Gebirgswelt über sich und die Steppe gerade genug accentuiert, um sich und dem Ganzen ein Gesicht zu geben. Ich mußte immer an Antibes und das Haus der englischen Dame und an Eylen-Rock denken!

Hier in Glenwood ist ein heißer Salzwasser-See und ein Riesenhôtel in halber Wildnis. Es sieht aus, wie ein spanisches Kloster, hat herrliche Hallen und Galerien, sehr hübsche Appartements mit idealen Badeeinrichtungen.

Hentschel wird sich wohl bald von uns trennen und weiter gen Westen fahren; auch wir wollen nur bis St. Louis mit Knapps zusammenbleiben, dann selbständig zum Niagara und nach Boston reisen, von da nach New York zurück. Man wird ein fanatischer Europäer hier im Westen.

Deine treue Mama.


Grand-Junction ein Wüstennest in den Rocky Mountains, Colorado, 7. September.

Liebe Ida!

Was wir heute erleben, wird Arthur hoffentlich nicht uns nachthun, hélás! Hier ist ein heißes Salzbad mit großen Schwimmbassins, große kahle Berge von allen Seiten, coalpits und alle Elemente der Garstigkeit. Dazu ein herrliches Hôtel. Selbstredend hat das ganze Nest elektrisches Licht, aber keine Häuser, nur Bretterbuden. Im Hôtel hatten wir abends Konzert. Der Pianist erhebt sich und stellt sich vor als ein ehemaliger Heidelberger Schulkamerad von Richard. Dann kommt ein Herr herein, groß und elegant gebaut mit guten Bewegungen und wird uns von dem Wirt als Architekt und Ingenieur der Wasser- und Elektrizitätsanlagen vorgestellt „Rosenberg“ mit Namen. Er setzt sich neben Hermann und auf die Art, wie er sich setzt und verneigt, sage ich zu Hentschel: „das ist ein Österreicher aus guter Familie.“ Auch trotz getragenem Anzug und allgemeiner Vernachlässigung spricht er gut österreichisch, erzählt gut und klug und auf meine Frage, wie ein solches Hôtel sich halten könne, sagt er: „Da ist ein Vertrag mit Cook, der führt alle seine Reisenden nach Glenwood.“ Darauf sage ich: „Vielleicht kommt bald mein Neffe hier vorbei, wollen Sie ihn grüßen — Baron Schmidt- Zabiérow.“ „Aus Klagenfurt ?“ ruft er … Kurz dieser Ingenieur Rosenberg ist ein Orsini-Rosenberg von einer anderen Branche als die Klagenfurter. Was mag den Ärmsten veranlaßt haben, als ehemaliger Artillerieoffizier in den Rocky Mountams elektrische Lichtanlagen zu machen! Und doch wie unverkennbar in Haltung, Stimme, Selbstverständlichkeit der Form ist er der Aristokrat. Er scheint sich hier verheiratet zu haben und ein Haus in Glenwood zu besitzen und Obst und Wein zu ziehen. „Alles wächst von selbst“, sagt er, „es ist wie ein Zauber.“ Er wird sich alle Tage die Reisenden ansehen und falls Arthur mit Freund auftaucht will er ihm einen Brief von mir geben. Auf Schritt und Tritt sieht man hier im Westen diese Gestalten. Er tat mir schrecklich leid und ich bin ihm dabei dankbar, daß er uns auf der Eisenbahn allerlei gute Rathschläge gab, wie man es zu machen hat, um sicher seine sections im Pullmans Sleeper zu erhalten, was Knapp stets dem lieben Gott überläßt. Die Arrangements des enthusiastischen Amerikaners sind von dem Gedanken getragen, daß hier Alles herrlich sei und was nicht absolut vollkommen ist, nur ein Zustand des Überganges zu einer unerreichten Kulturstufe sei. Schließlich kommt dann, daß man mit dem Railway-Porter zu Mittag ißt, ihm die Früchte reichen darf, er Einem aber garnicht etwa die Koffer heraushebt — weder auf verschiedene Bitten von Knapp, noch nach kräftigen Donnerwettern von Hentschel.


9. September 1893.

Also gestern blieben wir infolge dieser Einrichtung in einem Steppenneste sitzen. Es, war ein toller Ort, der Mühe wert so etwas zu sehen; Schilderungen reichen nicht aus für die Charmes der Grand-Junction. Etliche Bahnschuppen, eine Avenue mit Haufen von Blechbüchsen garniert, einem Pferdebahn-Hôtelomnibus, wieder elektrischem Licht, zwei steinernen Palästen mit Thürmen, einer fallierten und einer activen Bank, einem Hôtel mit Drahtgitter-Hausthüren und unmöglich staubigen Stuben, aber einem höflichen Wirt und ganz erträglichem Essen. In letzterer Beziehung sage ich nur, daß Fasten eine Wonne, Essen eine Qual ist — durchweg.

Wir fuhren eine Stunde über die Steppe mit Rockies, rosa leuchtend wie die Berge am Nil. Dann kamen Wassergräben, Wein- und Obstanlagen und Moskitos und schließlich eine Indianerschule, woselbst neunzig Indianer Söhne und -Töchter für die Kultur erzogen werden. Es scheint, die Leute schicken ihre Kinder hin, damit sie Lesen und Schreiben, die Knaben Farming und Gardening, auch Handwerke, die Mädchen Nähen und derartiges lernen. Diese Anstalt besuchten wir. Die Kinder haben breite stumpfe unschöne Gesichter, grelle Augen und garnicht den Typus des letzten Mohikaners. Sie scheinen nicht weit über das Mechanische hinauszugehen in ihren Errungenschaften, nur Farming sei ihre Lust, sagte der nette Lehrer. Wir sahen die Jungen beim Melken und Füttern der Kühe; sie zeigten uns ein Fohlen, ein reizendes graues zierliches Thier mit kurzem schmalen Kopf, das sie allein aufgezogen hatten. Die Mädels haben alle „Fringes“ an ihren breiten niederen Stirnen und tragen sehr straffes Haar, das aussieht wie steifer Leinenzwirn, mit roten Bändern hinten aufgebunden. Die Anstalt hat einen artesischen Brunnen und bewässert damit ihre 300 Acres. So wächst auf dem Wüstenboden Alles: Klee, Gras, Mais und Obst, letzteres sogar sehr schön. Ganze Karrenladungen von Pfirsichen sahen wir umher fahren. Wenn man das Land dereinst im Großen bewässert, so wird es wunderbar fruchtbar sein; für jetzt lohnt es nicht, so lange es günstigere Terrains gibt.

Als wir von unserer Schulexpedition heim kamen, fanden wir die Feuerwehr zu einer Übung versammelt, circa dreißig Mann in Tricots und Schwimmhosen; letztere meist schwarz mit roter Einfassung, also wohl ordnungsmäßig. Sie hantierten mit einem großen Schlauch, aber es ist zu hoffen, daß ihre Hilfe nicht oft beansprucht werde. Miß Knapp erlag schier ihrem Lachen bei diesem Anblick. Ich finde längst nichts mehr merkwürdig. Hentschel sagte nur „bei uns haben sie noch Helme auf“ — enthielt sich aber auch anderer Vergleiche. Wir aßen, gingen noch auf einem Brettertrottoir spazieren und die Reise wird eine schöne Erinnerung sein.

Gestern ging es weiter mit der Rundreise durch die Rockies, die nur per Bahn zu machen ist, da es keine Fahrstraßen giebt. Erst Wüstenland, dann ein schöner klarer Fluß und Weideland, Pferde- und Rinderherden in Masse, jedes Genre, etliche Stunden dauernd. Dann ging es hoch über die Berge hinaus, über den sogenannten Marschall-Paß: die Eisenbahn steigt bis zu 11000 Fuß durch die einsamste großartigste Gebirgslandschaft bis oben herauf, wo Einem schon der Atem ausgeht bei jeder Bewegung. Es wachsen dort Tannen und man fährt durch einen himmlischen Felspaß „Black-Cannon“ genannt, der an die Dolomitenwelt bei Campiglio erinnert. Unterwegs hielt der Zug plötzlich beim Herabfahren. „What is the matter“, frug ich den hereinstürzenden Neger, „broken in two our train!“ Wirklich war die Lokomotive allein abgegangen mit den Vorderwagen und hatte uns infolge eines Kettenbruches da oben stehen lassen. Die Aussicht 10000 Fuß hoch in dieser Öde zu übernachten, lag sehr nahe; aber die Maschine kam wieder. Es wurde eine Weile gehämmert und dann ging es verdächtig langsam weiter. Schließlich kamen wir aber um neun Uhr in diesem Orte „Salida“ genannt, mit einer Verspätung an und müssen abermals einen halben Tag und eine Nacht liegen bleiben. Ich glaube, es ist hier die Krone alles Scheußlichen, trotz herrlichster Umgebung. Wenn diese schöne Natur hier urwüchsige natürliche Verhältnisse zeigte, dann wäre Alles gut; aber sie ist bewohnt und verdorben durch das abenteuerlichste Volk. Es sind dies die Bret Hart Zustände im Minendistrict: riesig interessant zu sehen! Im südlichen Colorado ist es einfach Gesindel aller Art mit einem gewissen Firnis, eine so flegelhafte Gesellschaft, daß alles aufhört.

Mich freut nur mein Mann, der ganz vergnügt diese Welt betrachtet, in jedem Waggon zu übernachten bereit ist, denn eigentlich leben wir ja auf der Eisenbahn und er ist frisch und wohl dabei, doch hat er genug vom Wasser und will absolut nicht weiter hinüber gen Westen, da er mit voller Wahrheit sagt: irgendwo muß man umkehren! Dreißig Stunden Bahn bis Kansas City beginnen heute Mittag um drei Uhr, weitere zehn Stunden bis St. Louis reihen sich daran. Dort trennen wir uns von Knapp und gehen mehr nordwärts, unseren eigenen Eingebungen überlassen. Ich bin begierig, wie es uns ergehen wird. Wir sehen aus wie die Strolche. Sonne und Staub haben unglaublich auf die äußere Erscheinung gewirkt. Mir ist alles einerlei. Ich nähe keinen Knopf mehr an, sondern nehme Sicherheitsnadeln — und wenn ich mich, wie stets seit etlichen Tagen, ins Freie begebe um höchsteigenhändig mein Kleid auszuklopfen, dann komme ich mir doch recht ansiedlerhaft vor. Das Merkwürdige und Häßliche für allen Kunstsinn ist eben, daß man hierzulande alles von oben nach unten macht: Eisenbahn, elektrisches Licht und Wasserleitung sind das Erste — Besen und Bürsten sind der Zukunft vorbehalten. Im ganzen Lande schneidet kein Messer, weil alle Klingen versilbert sind, um sie nicht putzen zu müssen. Die Verschwendung an Material bei jeder Mahlzeit ist haarsträubend angesichts der elenden Qualität der Zubereitung. Alte Leute sieht man garnicht, auch nur sehr wenige Kinder; alles sind Männer und Frauen in den besten Jahren. Alles ist frisch zugezogen und überall nur so lange bleibend, bis es etwas Besseres gieht. Und nun der Silbersturz dazu! Der Staat Colorado leidet dabei besonders, niemand hat bares Geld. Diese Hand voll Menschen — 45000 Menschen — bilden die ganze Bevölkerung — hat sich eingebildet, sie könne Massen von Silber Tag für Tag herausschleudern, für den Goldpreis verkaufen und hoch verwerten; da solches nicht geht, fiel eben das Silber weit unter den reellen Wert und alles wankt. Hier aber sind die Leute ganz wild, träumen nur von Bestechung und sind daher doppelt abstoßend. Eisenbahnen fahren nicht, weil die Minen stocken und so greift Eines in das Andere ad infinitum. — „Real estate“ ist das Einzige, was schließlich hier und anderwärts als Wertmesser bleiben wird. Da hast Du nun die mühsam aufgelesene Weisheit, die ich aus den schönen Zeitungen allmählich abstrahiere.

Deine Anna.


Cataract House, Niagara Falls, 13. September 1893.

Liebe Ellen!

Wäre ich nicht so beispiellos müde von der tropischen Hitze in St. Louis, so würde ich Dir in angemessener Weise sagen, daß die „Rapids“ des Niagara Stromes da unten rauschen, so groß und mächtig kühl — daß es eine großartige Welt des Wassers hier ist, viel poetischer und malerischer als ich es dachte, viel schöner als irgend etwas Anderes bisher Gesehenes und von stets wachsender Größe. Die Fälle sind so breit, daß sie Einem Anfangs nicht hoch erscheinen; nach und nach wächst aber Alles und die untergehende Sonne, die einen großen Regenbogen auf dem Gischt hervorzauberte, verklärte das Ganze. Hentschel ist direkt nach San Francisco gegangen und will baldmöglichst diesem Lande der Gleichheit den Rücken drehen, wo er bei jeder Gelegenheit in den aufrichtigsten Meinungsaustausch zu geraten pflegte. Er verließ uns, um zu den Mormonen zu ziehen in Fueblo, als wir in den Sleeper nachts elf stiegen, der schon von San Francisco kam und ganz voll war. Staub und Luft waren über alle Beschreibung, aber wir kamen darin nach Kansas City, wo wir sehr schliefen. Augenärzte waren auch da und die Gattinnen brachten uns Rosen, morgens um halb neun Uhr! Kansas — St. Louis fuhren wir endlich durch ein schönes grünes Land mit Bäumen und Sträuchern und Wasser und Wiesen im Staate Missouri. Ein sehr netter kräftiger Doktor mit sonorer Stimme verkürzte uns den Weg nach St. Louis und ein Farmer, der uns besonders gefiel — deutscher Abstammung natürlich, ein echter und gerechter Landmann, der uns viel erzählte von Menschen und Vieh. Ehe er ausstieg sagte er: „And now Lady, tell me which is Professor Helmholtz?“ Auf meine Frage, woher er wisse, daß er auf dem Zuge sei, lachte er und zog seine Zeitung heraus, worin stand, Papa werde in Kansas und St. Louis erwartet. Doch nett dies, nicht wahr ?

Wir verfolgen Bismarcks Krankheit mit dem schmerzlichsten Interesse. Er wird doch nicht an seinen Deputationsreden sterben! Man kann sich Deutschland ohne ihn garnicht denken. —

Dieses Land ohne Vergangenheit und ohne Größen mit der geschmacklosen Geschäftsjagd wird Einem sehr über! Es ist noch so viel da zu thun, aber sie könnten sich Zeit dazu lassen und einmal etwas fertig machen. Die drei Stunden Canada heute waren ein geistiges Ausruhen. Das Land erscheint wie ein endloses Midland County in England, viele hübsche Farmhäuser mit Epheu bewachsen, grüne Wiesen mit Hecken und Bäume auf den Wiesen — kurz ein Land wie man es gewohnt ist.

Deine Mama.


Boston, 17. September 1893.

Liebe Ellen!

Wir sind vorgestern gegen Mitternacht nach acht und zwanzig Stunden Eisenbahn vom wunderbaren Niagara hierher gelangt. Wir haben die Falls von oben bis unten und von unten bis oben, auf beiden Seiten zu Fuß und auch in einer reizenden elektrischen Bahn besichtigt, sind auf Hängebrücken darüber, auf Zahnradbahnen hinunter, auf einem Dampfer schier hinein gefahren und immer ging die durchsichtige grüne Wassermasse still hinunter, nicht sehr stark dröhnend, aber so herrlich! Der Gischt und das Wällen und Weben desselben alles so unsagbar schön und poetisch, daß der Eindruck nie aus unserer Seele schwinden kann. Die Gegend ist viel lieblicher, als wir erwarteten, wir hatten auch sehr gutes Wetter, während es vorher und nachher in Strömen goß.

Hier in Boston ist es wunderschön, sehr englisch korrekt und ehrwürdig, schöne saubere Straßen, schöne bewachsene Häuser, wunderbare Kirchen, ein großer Strom Charles River und jenseits die Universitätsstadt Cambridge mit der Harward University. Wir sind von früh bis spät von gelehrten Herren in Entreprise genommen, sehen Laboratorien, Gymnasien, Dormitories, Speise- und Schlafgebäude — alles wundervoll, Memorial Halls und anderes mehr. Bald ist es wie Edinburgh, bald ist es wie London, bald ist es ganz anders und wenn man an einer Kirche das Jahr 1657 liest, freut man sich. Es ist doch etwas Anderes um diese Stadt der geistigen Interessen. Wir bleiben ganze vier Tage hier, weil ein Physiologe Professor Bowditsch noch von weit her heranreist, um Papa zu sehen, Wir haben heute bei dessen sehr netter Tochter eine Stunde zugebracht.

Deine treue Mama.


New Jersey, 3. Oktober 1893.

Liebe Ellen!

Diesen letzten Gruß soll die „Aller“ mit hinübernehmen. Es gehen heute verschiedene Dampfer mit Bekannten ab.

Washington war sehr amüsant und interessant unter Villards Führung. Wir haben die ganze politische Maschine, den Präsidenten Cleveland inclusive, die Silbersenatoren, die Congress Sitzung, die wissenschaftlichen Menschen und Anstalten und die herrliche Gegend der Stadt gesehen und sind sehr befriedigt abgegangen. Der Präsident hat uns empfangen und hat uns sein Portrait geschenkt. Er ist ein liebenswürdiger Herr, wie ein großer Oberbürgermeister. Nur leistet er in „The White House“ an bürgerlicher Formlosigkeit des Empfanges mehr als dringend wünschenswert erscheint. Ein Neger mit aufgekrempelten Hosen ist der „Introducteur“, et le reste á l'avenant. Er selber klug, einfach, superior — das Drum und Dran unwahrscheinlich. Man kann auch die Einfachheit übertreiben.

Baltimore ist eine Stunde Eisenbahn davon. Papa ging mit dem Präsidenten Gilmann die Universität zu sehen; ich mit dem Erbauer des berühmten John Hopkins-Hospitales, dem Generalarzt Dr. Billings und sah dieses Wunderwerk an. Es ist eine herrliche Anstalt und eine prachtvolle Training-School for Nurses dabei. Ich habe die ganze Literatur erhalten, habe auch von Billings, der die Centralstelle für alles Medizinische ist und einen wunderbaren jährlichen Katalog und Index für die gesamte medizinische Literatur von Staatswegen herausgiebt, erlangt — daß Professor Renvers an Lauers Stelle auf die Liste der Empfänger gesetzt wird. Es wird Renvers für Moabit lieb sein, das Buch zu haben; man kann es nicht kaufen. Auch meine Nurses Literatur muß Renvers studieren. Das Beste und Schönste ist das Presbyterlum-Hospital hier in New York — so etwas von Raffinement ahnt man bei uns nicht, es ist auch den englischen Anstalten über, welche ich sah.

Am Montag mit Papa zu Steinway, wo wir uns einen Flügel aussuchen mußten. Die ganze Firma versammelte sich und es war sehr schön. Eigentlich reicht für uns der bisherige Flügel gut aus, aber Mr. Steinway versicherte, er habe so viel von Papas Akustik gelernt, daß er nur durch den Erfolg an seinem Instrument seinen Dank beweisen könne.

Abends hatten wir hier im Hause großes Dîner mit Karl Schurz und Villards und großen Ärzten in der Stadt. Heute haben wir Dîner bei dem Präsidenten Low, dem Chef der hiesigen Columbian University. Übermorgen hält Papa eine Ansprache an die Studenten im College; heute eröffnet er Knapps Vorlesung durch einen Vortrag über die Entstehung des Augenspiegels. Freitag Abend auf das Schiff, Sonnabend Schwimmen bis Southampton. — Viele Grüße an Alle.

Deine Mama.



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