Anna von Helmholtz: Briefe zur Amerikareise 1893

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Quelle; Helmholtz, Anna von: Anna von Helmholtz : ein Lebensbild in Briefen / hrsg. von Ellen von Siemens-Helmholtz. - Berlin
Band 2 (1929), S. 75-80
Signatur UB Heidelberg: F 6834-3-44::2

An Bord der Saale, 14. Oktober 1893.

Liebe Ellen!

Du wirst meine unerfreuliche Depesche erhalten haben, aber ich möchte Dir das Nähere schreiben und Eure Phantasie beruhigen.

Wir sind Freitag, den 6. Oktober abends spät an Bord gegangen, sind früh ausgefahren und sofort in den Rand eines Wirbelsturmes gelangt, der uns treu begleitet hat. Es war warm, nebelig, hemmend. Papa war wohl, frisch und ganz besonders gut und lieb für mein Elend, erzählte mir Donnerstag wie alle Abende, was er mit dem netten Kapitän gesprochen und ging dann mit Kuno Fischers Schopenhauer in das Herrenzimmer, — ich blieb elender als je in der Coje. Da kommt Professor Klein, der Göttinger Mathematiker, zu mir herein und sagt mir sehr zögernd: Papa sei gefallen, die Cajütentreppe hinab, blute stark aus der Stirn und zwei Ärzte seien bei ihm. Er führt mich in des Schiffdoktors Cabine — und da liegt Papa anscheinend bei Bewußtsein und antwortet auf alle Fragen, Die Stirn wurde mit Druckverband verschlossen — alle Menschen so gut und hilfreich. Der Capitän bot sofort seine beiden Cajüten an und Papa liegt jetzt in dessen Bett und schläft den ganzen Schreck aus.

Der Schiffarzt Dr. Frobenius und ein reizender Dr. Morton aus Boston, ein ausgezeichneter berühmter Arzt, ließen Papa durch sechs Stewards herabtragen und auf das Bett legen. Ich konnte kaum so lange stehen, um ihm die Hand zu geben und wurde dann in das Nebenzimmer gelegt. Wir wachten zu Vieren, da die Blutung an der Stirn nicht aufhörte, eine Ader in der Tiefe war zerrissen. Dr. Frobenius hielt stundenlang die Finger fest darauf— erfolglos. Dr. Morton schloß die Wunde schließlich mit Druckverband. Die Nacht verlief gut. Papa lag halb betäubt, aber alle Glieder waren beweglich und seine Fragen und Antworten ganz klar, wenn er sprach. Er hatte das Rauchzimmer heiß gefunden, habe Allen gute Nacht gesagt, nur Dr. Morton war es aufgefallen, daß er etwas gerötet ausgesehen habe. Wie er noch darüber nachdachte, hörte er einen schweren Fall, eilte hinaus und fand Papa unten an der Treppe liegend. Er ist unser guter Engel gewesen, hat mit dem Schiffsarzt Alles gemacht und hat mich beruhigt. Zuerst fürchteten alle einen Schlaganfall, was ich aber nicht einen Moment geglaubt habe, sondern es muß einer seiner alten langvergessenen Ohnmachtsanfälle ihn plötzlich befallen haben. Er suchte nach dem zweiten Geländer, fand es nicht und fühlte dann nichts mehr, bis er in des Arztes Zimmer lag. Er war offenbar vor dem Fall bewußtlos gewesen, denn er hat die Hände nicht vorgestreckt zum Schutze.

Gestern, Freitag, lag Papa den ganzen Tag still in seinem Bett. Erst nachts wurde er etwas unruhig, wir hatten zwei treffliche Stewards zur Wache, die sich abwechselten. Das Nebelhorn tutete die ganze Nacht und wir rollten und tanzten maßlos hin und her. Dr. Morton war solch ein Trost für mich und holte mir ein amerikanisches Mittel gegen die Seekrankheit, Bromo-Soda, das mich beinahe kurierte; ich habe heute aufrecht gehen können.

Heute Nachmittag haben die Doktoren alles sehr gut gefunden. Wie dankbar wir sein dürfen, daß diese schreckliche Gefahr so an uns vorbei ging, wird mir mit dem zurückgekehrten Bewußtsein erst klar. Mein Zustand geistiger Erloschenheit war noch eine Gnade, ich konnte gar nicht denken, wußte nur, daß wir mitten auf dem Ozean umhertosten im dicksten Nebel und daß wir im besten Falle noch vier Tage bis Southampton brauchen würden — das wußte ich. Keine Sonne, kein Stern zur Orientierung, wir fahren nur ungefähr nach dem Kompaß, aber nun ist alles einerlei. Vielleicht ist es eher besser, daß wir spät heimkommen. Für die Güte und Bereitwilligkeit des ganzen Schiffes vom Capitän ab, kann ich garnicht genug dankbar sein und wenn das Unglück schon kommen mußte, dann war noch viel unverdientes Glück und göttliche und menschliche Güte dabei.

Auf Wiedersehen liebe Menschen alle, in etlichen Tagen, so Gott will.

Eure treue Mama.


An Bord der Saale, 15.Oktober 1893.

Liebe Ida!

Unser schöner amerikanischer, im Osten täglich erfreulicher werdender Aufenthalt hat ein sehr trauriges Nachspiel hier auf dem Dampfer gefunden …

Wir fahren direkt nach Bremen, statt nach London zu Kelvins und nachher nach Paris, wo sich Hermann den vierzig Unsterblichen vorstellen sollte — und wir können ja nur dankbar sein, wenn wir ihn lebend nach Hause bringen.

Die Güte, Thatkraft, Theilnahme aller Menschen an Bord ist nicht zu schildern. Der Capitän, der Obersteward, die sämtlichen Leute bei Tag und bei Nacht immer auf den Beinen, immer alles bringend, Nachtwachen übernehmend und die kleine Wohnung mit allem Nöthigen versehend! Es kann nicht besser sein und die beiden Ärzte so gut, der Schiffsarzt Dr. Frobenius und Dr. Morton, ein Freund von Knapp, Weltmensch, Gentleman ganz seltener Art. Er war mir der größte Trost, weil er Alles wußte ohne ein Wort, und Alles sagte, was ich wissen wollte, ohne eine Frage. Er kommt auf acht Tage nach Europa zu einer Consultation nach Frankfurt am Main. Heute sagte er mir: „Better say the truth — before nine days are over, especially from the fifth to the ninth, we are not sure of anything.“ Heute ist der vierte Tag, oh Ida. Welch ein Abschluß! In der einzigen Zeit, wo ich nicht aufpassen konnte, mußte dieses geschehen; aber Reflektionen sind unnütz, Vorgefühle aber täuschen doch nicht. Ich hatte die Freude des schönen Abschlusses drüben, hatte nur noch Angst vor der See und vor Stürmen; an solches persönliches Mißgeschick dachte ich nie. Hermann war frisch, liebenswürdig, theilnehmender als in langer Zeit und mittheilsamer, freute sich mit mir auf Europa und die Heimkehr — und nun dieses Ende. Von Bremen schreibe ich Dir mehr.

Deine Anna.


Bremen, 17. Oktober 1893.

Ach wie schön ist es doch auf Deutschlands festem Boden — dear sleepy old Germany! Wenn man durch die Oldenburger Marschen von Nordenham her langsamst fuhr, wo die schwarzweißen Kühe mit umgeschnallten Wolldecken grasen gehen, da ward mir der Unterschied der zwei Welttheile sehr bewußt.

Es kommen Lloyd Direktoren, Passagiere, Telegramme und heute wird Alles mit Bannern und Kränzen für den Einzug des Kaisers geschmückt, aber der Himmel scheint trübe auf diese Bestrebungen.

Euer Willkommenstelegramm in Southampton that wohl, trotzdem mir garnicht nach Jubel zu Muthe war und trotzdem mein Trost, Dr. Morton, mit meinem Brief an Lord und Lady Kelvin, die im Metropol Hôtel auf uns warteten, just abdampfte. Aber man tröstet sich schließlich, wenn das Wesentliche, das teure Leben, uns noch geblieben. Morton warnte vor den Tagen von heute bis Sonnabend; vom fünften bis neunten Tage erst zeigten sich Gehirnreaktionen nach solch einem Shock, sagte er. Dr. Göhring meint, das sei nicht mehr zu befürchten. Etwas verschleierter ist Papa heute, zum Glück nicht aufgeregt.

Ich kann nicht mehr. Als die ganze Untersuchung vorbei war, sagte Dr. Göhring, ich muß Ihnen gratulieren, die Sache ist wunderbar abgelaufen.

Deine Mama.


Hillmann's Hotel, Bremen, 21. Oktober 1893.

Mein lieber Fritz!

… Der Tag ist so voll Pflichten der Pflege, der Beantwortung aller Anfragen, des Empfangens von allen freundlichen Besuchern, die sich zu allem Erdenklichen anbieten, daß Ellen und ich kaum Zeit haben, etwas zu uns selbst zu kommen.

Papa war gestern vier Stunden, heute den halben Tag auf und Montag Vormittag werden wir hoffentlich nach Hause fahren können. Am Dienstag, den fünften Tag, früh wurden wir ausgeschifft, nachdem der Kapitän mit dem Vorwand einer Nebelnacht in der Nordsee hoch gen Norden gefahren war, um auf Wunsch von Dr. Morton die gefahrvolle Landung um zwölf Stunden zu verschieben. Papa ward vom Schiff in den Wagen getragen und wieder hierher ins Hôtel — eine traurige Prozession! Der Arzt, den Renvers uns an das Schiff sandte, Dr. Goering, hat ihn in Behandlung genommen und ihn sehr gut zu behandeln verstanden. Er braucht zunächst absolute Ruhe und hat nun auch wieder Schlaf gefunden. Hoffentlich wird die Wunde auch nicht zu schlecht heilen, aber das ist eben äußerlich und die Hauptsache, daß wir ihn noch haben, und daß keine seiner Fähigkeiten gelitten hat. Schwach ist er sehr.

Ellen hier zu haben ist uns unendlich viel werth; auch Dr. Wachsmuth ist gleich hierher geeilt. Kaiser und Könige, Bürgermeister und Senat, Bekannte und Unbekannte haben uns mit Theilnahme und mit sehr viel Telegrammen beglückt. Diese haben wir bis zur Erschlaffung beantwortet — deshalb wundere Dich nicht, daß ich Dir heute erst schreibe. Ich habe noch nie Ähnliches von Güte erlebt — wir sind doch wildfremd hier und doch kommen den ganzen Tag Blumen und Früchte. Der Senat schickte von seinem berühmtesten Weine zur Stärkung—und wir sind gerührt und dankbar über jede Beschreibung.

Deine treue Mama.


Marchstraße, 26. Oktober 1893.

Meine liebe Ida!

Nur drei Zeilen, um Dir zu sagen, wie glücklich wir sind, daheim zu sein. Die Reise ist zwar eine große Ermüdung gewesen, doch war sie nicht schädlich. Der Arzt arrangierte Alles auf das Beste und Schönste, und so fuhren wir in einem Direktionswagen mit Bett und Wohngemach wie die Fürsten die sieben Stunden hierher. Hermann erholt sich doch sichtlich, obgleich die kleine Stirnwunde noch nicht heilt; Puls und Herz sind gut und die absolute Ruhe, die man ihm hier schaffen kann, macht daß er täglich mehr sich selbst ähnlich wird. Viel Lesen ist noch nicht möglich, Vorlesen ab und zu eine halbe Stunde. Er ist geduldig aber etwas tragisch in der Stimmung. Hier hat ihn Geheimrat von Bardeleben unter Obhut.

Die Liebe und Güte und allgemeine Theilnahme von allen Seiten sind wunderbar. Es hat doch etwas Schönes und Erhebendes, so getragen zu werden von der allgemeinen Theilnahme. Was der Lloyd alles that und anbot, ist nicht zu sagen. Wir hätten über Menschen und Dinge verfügen können in jedem beliebigen Maße, wenn es nötig gewesen wäre. Hier geht das so fort, und ich habe mir Betty Johannes erbeten, um eine Stütze im Schreiben und Antworten zu haben.


5. November 1893.

Hier sind wir nun seit vierzehn Tagen, haben große Fortschritte gemacht, aber den letzten Schritt zum Gefühle der Gesundheit haben wir noch nicht gemacht. Eine schnell eintretende matte Müdigkeit ist da und Hermann sagt, er fühle sich wie nach einer schweren Krankheit. Daß er nach kurzer Zeit eine geistige Thätigkeit zu leisten vermag, ist nicht wahrscheinlich. Bardeleben sagt ihm jedesmal bei seinem Besuch, daß man nach dem fünfzigsten Jahre nicht erwarten dürfe, einen großen Blutverlust rasch zu ersetzen — und gar nach dem siebzigsten.

Gestern saßen wir im grünen Zimmer mit Freund Bamberger und Zur Mühlen. Es goß in Strömen, als Ihre Majestät Kaiserin Friedrich plötzlich eintrat mit ihrer Nichte, Prinzessin Victoria von Holstein, sich zu uns setzte und eine halbe Stunde bei uns blieb. Sie war menschlich wieder so gütig und freundlich, daß wir Alle ganz gerührt waren und sie mit großem Dank an ihren Wagen zurückbrachten.

Deine Anna.


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