Anna von Helmholtz: Briefe zur Amerikareise 1893

Hinfahrt und Chicago

Quelle; Helmholtz, Anna von: Anna von Helmholtz : ein Lebensbild in Briefen / hrsg. von Ellen von Siemens-Helmholtz. - Berlin
Band 2 (1929), S. 54-63
Signatur UB Heidelberg: F 6834-3-44::2

Charlottenburg, 22. Juni 1893.

Liebste Ida!

Die Würfel sind gefallen: Ich fahre am 5. August mit Hermann nach Amerika und zwar werde ich von Reichswegen als Gesundheitsbehörde für ihn mitgeschickt. Mit anderen Worten: Hermann sollte und wollte hinüberfahren, um am 20. August in Chicago, dem Internationalen Kongresse, der die Frage der Elektrischen Einheiten endgültig fertig machen wird, zu assistieren, respektive denselben zu leiten. Er wird von der Reichsregierung als deren Vertreter geschickt. Hermann hatte trotz unseres Protestes diese Mission angenommen, aber Professor Renvers fuhr ohne ein Wort zu sagen zu Professor Kundt und protestierte als Arzt entsetzt dagegen, daß man ihn in seinem Alter über den Ozean in der heißen Jahreszeit schicke. Kundt stürzte zu Minister von Bötticher und dieser stürzte zu Caprivi. Der Erfolg war ein sehr liebenswürdiger, persönlicher Brief von Bötticher, in welchem ich gebeten werde, mitzufahren und den Gatten gesundheitlich zu behüten.

Zuerst war Hermann empört, aber nun die Sache so kam, ich auch direkt oder indirekt gar nichts dazu getan hatte — nun ist er auch sehr glücklich und mit Allem einverstanden.

Es werden noch heiße Tage werden, bis wir fort kommen. Hermann will 14 Tage Chicago, etwas Boston und New York, Niagara und so etliches und nach sechs Wochen wieder heimfahren. So Gott will, geht alles gut.


26. Juni 1893.

… Wir sitzen in Korrespondenzen und Telegrammen vom Bremer Lloyd wegen der Cabinen und des Dampfers. Es wird wohl der „Kaiser Wilhelm II.“ ab Bremerhaven am 5. August sein müssen. Du glaubst nicht, wie mich die ganze Geschichte bedrückt. Gott gebe, daß das Experiment gut verlaufe.

Die Wahlen sind haarsträubend — eine solche Schande für Deutschland, daß ich mich für meine Nachkommen in Amerika umsehen werde als künftigen Wohnort. Man grämt und schämt sich, wenn man sein Vaterland liebt. Es ist unsagbar, daß wir uns von der breiten Masse der Unbildung müssen regieren lassen, weil andere Leute so viele Meinungen als Köpfe haben und eher alles zersplittern lassen, als daß sie ihre kirchlichen und politischen Dogmen im Stiche ließen. Wir sind im 19. noch ebenso wie im 16. Jahrhundert und wir müssen Leute wie Bismarck haben, der die Leute freut und sie zugleich schlecht behandelt, ohne das geht es nicht.

Ich habe die ganze letzte Woche buchstäblich keine freie Viertelstunde gehabt: Revisionen von Tyndall drei Stunden täglich mit Estelle du Bois-Reymond und Dr. Richard Wachsmuth, meinem physikalischen Pflegesohn, der uns ein wahrer Haussohn schon geworden ist — Fritzens Heimkehr und die Maßregeln für ihn — der Enkelin Edith Branca diverse Tennispartieen und meine seelischen und irdischen Hebungsversuche, die ich verübe — dann die Bände, die man schreiben muß wegen Überführung von Hermanns schwer erkrankter Schwester Julie in ein Diakonissenstift, dies alles nimmt Zeit und Kräfte. Und die Perspektive der enormen Reise macht mich zittern, und wozu ? Um elektrische Einheiten in Chicago festzustellen …


23. Juli 1893. Charlottenburg.
Der erste Sonntag ohne alles Wannsee.

Meine liebe Ellen!

Vielleicht hat dieses stille Berliner Abschließen wenigstens das Gute, uns die Seereise als etwas weniger Unnatürliches erscheinen zu lassen, Wir werden nun wohl schon am 3. mittags fahren; ich fange nun an, mich auf das Schwimmen zu freuen und ich hoffe, die Reise soll Papa gut bekommen; jetzt sieht er so müde und weiß aus, daß ich jede kleine Anstrengung für ihn fürchte. Mehr und mehr wird er seiner Büste ähnlich, es ist als habe Hildebrand das Kommende geahnt und festgesetzt in Ausdruck und Haltung und es ist mir unsagbar wehmütig, inne zu werden, daß dies das wirkliche Alter bedeutet, was ich mir als Vorstellung so lange ferne gehalten habe. Dieser Erkenntnis gegenüber wird meine Aufgabe auch eine ganz andere und als solche werde ich sie durchzuführen suchen, so viel Kräfte Gott mir dazu giebt. Lasse auch an Dich und Dein Leben als Ruhepunkt und als Licht und Freude in den kommenden Schattenseiten mich denken und halte Dir mit aller Kraft Deines Willens die Tendenz zur immer größeren Ausbreitung der Aufgaben ferne. Die Vergrößerung bedeutet allemal nur größere Verwöhnung für Andere und mehr Last, mehr Denken und weniger Zeit, Stille und persönliche Ruhe für Dich selbst.


2. August 1893.

Der „Kaiser Wilhelm“ hat einen Maschinenschaden heimgebracht von seiner letzten Reise und wir sind auf die „Lahn“ übertragen, sollen eine gute Cabine auf dem Promenadendeck haben und am 16. drüben ankommen. Wir wollen Sonntag Nachmittag 1 Uhr nach Hamburg und Montag früh nach Bremen fahren und werden dort angenehmer und früher eintreffen, als der große Schnellzug aus Berlin mit den übrigen Passagieren.

Ich habe noch allerlei Nachträgliches zu thun entdeckt und genieße diese geschenkten Tage als etwas ganz besonderes. Menschen kommen, Menschen gehen bei uns wie bei Sieglinden, gestern konnte ich vor treuer Freundschaft gar nicht essen. Unsere „Restauration“ mittags ist stets voll — es ist sehr nett, alle diese Physik um sich zu haben, mit Professor Hagen als zweitem Patriarchen darunter.

Wie gerne ich heute Abend zu Euch führe! Ich könnte doch mit der Anschauung Eures Zustandes reisen; aber Papa allein zu lassen, wäre jetzt nicht angebracht und würde ihm die Ruhe rauben. Also lasse ich es sein, aber es kämpft in mir gar mächtig der Wunsch! Man kann nicht alles haben; derzeit habe ich das Gefühl, als hätte ich wenig — und als sei Vernunft nicht immer Weisheit.

Nun segne Euch Gott!

Deine Anna.


An Bord der Lahn, 9. August 1893.

Liebste Ellen!

Ich sitze, liege, schreibe jetzt früh acht Uhr an Deck angesichts von Englands Küste, deren Kreidefelsen sonnenbeschienen aus tief blauem Meere schroff aufsteigen — habe Dover um sechs Uhr durch die Luke gesehen, dann Hastings und St. Leonard's, vorhin Eastbourne — nun kommt ein Cap und Brighton's lange Häuserreihe streckt sich wie eine weiße Fata Morgana an der Wasserlinie hin. Hentschels zufriedenes Lachen, sein weiß bekleideter, gelb beschuhter Mensch, ungezählte Andere kommen und gehen, alle rauchen Einen an und verderben die himmlische Morgenluft. Gesellschaft im Allgemeinen deutsche Mittelklasse, mit Stangen reisend.

Bis jetzt geht es uns also gut. In Hamburg und Bremen war es hübsch, in Bremerhaven wurden wir sogar beneidet, da wir dort mit Entourage auf Extra-Direktorialdampfer an Bord gebracht wurden. Die „Lahn“ ist sehr groß, fest, gut und stetig gehend, aber Cabinen winzig, Speisesaal voll, bis zum letzten Platz alles besetzt, 23 Grad in der Cabine trotz offener Luke, unten unbeschreiblich. Ich sitze in weißem Flanell und sehe über die Balustrade weg in das blaue Meer. Wenn es doch so bliebe. Herr von Mühlberg und ich rufen uns zu memento mori, denn er ist ebenso seetüchtig als ich.

Unten ist es ein Heldenstück auszuharren in dem Geräusch und der Hitze und dazu den Klängen einer sehr schmetternden Musik. Ich werde es auch nicht oft thun.

Die Wandschrank-Existenz muß erst gelernt sein, namentlich mit Papa, der sich noch ohne Lebensprogramm darin bewegt. In Summa wäre ihm Gastein sehr viel zuträglicher gewesen als diese Expedition, was ich aber tief in meinem Innern vergrabe.

Deine Mama.


An Bord der Lahn, 12. August 1893.

Liebe Ellen und lieber Fritz!

Ich liege zwar unwürdig und elend seit drei Tagen, doch ist heute die Betäubung gewichen und ich langweile mich, was ja ein Zeichen beginnender Intelligenz ist. In der Nacht als wir den wirklichen Ozean erreichten, fing das Schiff an sich nach allen Seiten zu biegen und zu drehen. Der Wind heulte, der Steward schraubte die Luken zu, es stampfte und rollte. Die Schraube drehte sich leer in der Luft und zitterte entsetzlich. Mein sargartiges Lager bewährte sich und darauf bin ich nun schon den dritten Tag gefesselt. Gestern wurde ich von zwei starken Männern, unter ihnen Hentschel, auf Deck transportiert, wo es goß; doch hatte es nur den Erfolg erhöhter Miserabilität, also schafften sie mich wieder herunter. Papa sitzt immer auf Deck und sieht sich die Wellen an. Ich schaudere wenn der Trompeter die Mahlzeiten anbläst, gerade als ob man in Bayreuth zu einem Kunstgenuß gerufen würde. Und es soll Menschen geben, die etwas essen! Die Matrosen liegen wie Mumien oben auf Deck. Wilde Träume schießen Einem durchs Gehirn; dann steht die Stewardeß wieder vor mir und schlägt die unwahrscheinlichsten Dinge vor.

Abends kam schon der Lootse aufs Schiff und heute Abend sollen wir den Hafen von New-York erreichen. Ob wir ausgeschifft werden weiß Niemand. Es rüstet sich alles zum Abschied. Ich habe mich sehr angefreundet mit Professor von Winkel aus München, der aus reinem Enthusiasmus für „drüben“ schon zum zweiten Male herüberfährt und der mir für meine Krankenpflege-Zwecke Briefe gab und der alles weiß und kennt und den besten Rat erteilt. Er weiß alle Universitäts- und Sternwarten-Details und kennt alle Freunde. Gestern bei Tisch hat Papa das Hoch auf den Capitän Helmers, einen prächtigen Mann und Menschen, ausgebracht. Ich ging dann auf Deck und sah einen solchen Abendhimmel, daß ich alle Herren heraufholte; wir stiegen auf die Commandobrücke — und blieben still wohl eine Stunde oben. Der dunkelrote Himmel über dem tiefblauen Meer, die Venus über dem Westhimmel, die Mondsichel über uns, und das Schiff das sich stille in dessen helle Lichtbahn einfurchte und dahinzog — morgens war es Boecklin gewesen, abends war es über alle Wiedergabe hinaus schön. Dann hatten Lummer und Kurlbaum das Deck mit Lampions schmücken und als Ballsaal herrichten lassen und der Capitän eröffnete mit mir die Polonaise und ich tanzte mit ihm noch einen Walzer! Wer mir das 24 Stunden vorher gesagt hätte! Was nun kommt, wird vielleicht ebenso: zuerst schrecklich, wenn es zu Ende ist, schön — aber ich habe wenigstens wieder Courage. Papa ist immer trotz Schwanken und Rollen auf dem Deck spaziert und ließ sich in stummer Resignation als Tafelaufsatz gebrauchen, genießt aber das Schöne auf seine Weise.

Ich muß aufhören, das Schiff zittert, die Wellen rauschen. Ich habe Eurer immer gedacht. Behüte Euch Gott beisammen. Addio in Liebe!

Eure Mama.


Chicago, 141 Astor Street, 23. August 1893.

Liebste Mama!

Ich sitze in einem schönen großen Schlafgemach mit vier Drahtfenstern ohne Glasscheiben und finde es abends elf Uhr noch sehr heiß. Wir wohnen bei einem Freunde des Hauses Siemens, Herrn Meysenburg, der uns energisch am Bahnhof abholte und uns zu sich in seine wunderschöne Villa entführte. Es ist in dieser entsetzlich lärmenden, schmutzigen und im Allgemeinen scheußlichen Stadt ein Asyl der Schönheit und Stille. Der Michigan-See liegt dicht dabei und schickt seine kühlen Winde und man lebt auf, wenn man von wissenschaftlichen Congressen oder von der Ausstellung hierher zurückkommt.

In New York wurden wir gastlich empfangen bei unserem alten Freunde, Dr. Hermann Knapp, in seinem schönen neuen Hause, von ihm und seiner lieben und distinguierten Tochter Ida überall geleitet und eingeführt. New York ist großartig und schön — der Verkehr ist riesig, aber auf einzelne Stadtteile beschränkt. Die Wohnstraßen mit ihren schönen Häusern und Bäumen sind still und vornehm, die Umgebung herrlich. Wir waren im Ganzen nur zwei halbe Tage, keine einzige Nacht dort — sondern waren eine Nacht auf dem Lande und zwei Nächte auf einem Küstendampfer, um ein herrlich gelegenes Seebad Newport — eine Art von Riviera — gleich noch zu sehen. Am vierten Tage fuhren wir nach Chicago in 19 Stunden und schliefen in der Bahn. Das Wetter ist schön. Das Land an der Küste und am Hudsonstrome prachtvoll; im Inneren, da wo wir durchführen, ist es mäßig schön, flach, dürftig und häßlich bewohnt und bebaut — lauter Holzhäuser mit Veranden mitten auf dem Felde, wenig und armseliger Wald, schöner Boden.

Chicago ist eine unsagbar unfertige Riesenstadt mit Häusern von 13 bis 20 Stockwerken im Geschäftsviertel, mit Riesenhôtels, mit Riesengeschäftshäusern, mit einer hetzenden jagenden, unsympathisch aussehenden Menschheit, mit vielen Negern, meist in dienender Stellung. Die stillen Villenvorstädte haben tollen Baustil, alles aber ist groß und mächtig und schauderhaft gepflastert. Die Ausstellung ist äußerlich traumhaft schön, eine Stadt von weißen Marmorpalästen an einer großen Lagune gelegen, wie Tausend und Eine Nacht. Man fährt leise auf elektrischen Booten oder auf venezianischen Gondeln von einem Palaste zum andern. Diese Fahrt ist das Schönste. Im Innern ist es sehr roh und unübersichtlich — Länder und Gegenstände durcheinander verstreut, in Summa sind die Dinge in guten Läden besser: Louvre und Bon Marché sind viel besser organisiert. Es ist uns ein Wagen zur Verfügung gestellt von dem Deutschen Reichskommissar zum Herumfahren in der Ausstellung; aber das wäre uns etwas zu Pascha-artig, denn es giebt dort sonst keine Wagen. Wir haben eine Schaar von Herren zum Geleiten und Herumführen und ich revanchiere uns damit, daß ich sie Alle zu Herrn Dr. Meysenburg zu Tisch einlade! Gestern waren ihrer sieben, heute drei. Ich bin nämlich hier Hausfrau, also regiere ich ganz ungeniert. Die Wonne der Bäder — der Waschapparate — der Aufzüge überall ist wunderbar und entschädigt für viele Barbarei im Übrigen. Hier im Hause wird relativ gut gegessen; eine Schwedin ist Köchin, ein Neger ist Haushofmeister, ein ganz vortrefflicher Mann, der Alles weiß und Alles besorgt ganz von selbst. Er geht in schneeweißen Gewändern umher.

Nur so viel zur Beruhigung, es geht uns ganz gut. Hermann ist wohl trotz Hitze und Eisenbahnnächten und vielem Eiswassertrinken, aber man wird zum Schatten von der schwierigen Ernährung. Wir werden bis 1. September hier sein; dann gehen wir nach Colorado ins Gebirge, Mitte September nach New York zurück und so Gott will, Anfang Oktober via Genua nach Hause zurück.

Wir sind sehr viel mit einem Freunde von Ottmar Herrn von Mühlberg vom Auswärtigen Amte, zusammen; er kennt das Land gut, ist sehr klug und angenehm. Freitag ist hier im Hause Soirée, am Samstag ist Dîner bei einer amerikanischen Dame, die wir nicht kennen, die aber eine Helmholtz-Enthusiastin ist, also durch unser Erscheinen beglückt wird. Viele, viele Grüße an die lieben Geschwister von Hermann und Deiner treuen Tochter

Anna.


Chicago, 141 Astor Street, 24. August 1893.

Liebe Ida!

Heute Abend sitze ich in Folge einer Kette von Mißverständnissen und falschen Dispositionen von verschiedenen Seiten mutterseelenallein in diesem schönen Hause. Der Negerbutler hat mir tea, boiled chicken with cream! und herrliche Früchte serviert. Unser gütiger Hausherr, Dr. Meysenburg, Vertreter und amerikanischer Associé der Firma Siemens und Halske ist auf einem Diner, die Herren Alexander Siemens aus London und Carl Friedrich Siemens dinieren ebenfalls auswärts, Hermann ist bei einem Elektrischen Bankett und ich sitze demzufolge einsam daheim, habe ein Telegramm erhalten, daß ein Boot für mich bereit liege in der Ausstellung, um dort die Illumination zu sehen. Aber es kostet mich 11/2 Stunden von hier aus und ich habe Niemanden, um mit mir hinauszufahren und muß deshalb das Boot Dr. Knapp und seiner Tochter zur Benutzung überlassen.

Eueren geliebten Arthur noch nicht getroffen zu haben, ist sehr betrüblich. Wie schön wären wir zusammen hier herumgestiegen in dieser „città dolente“ — einem wahren Höllenpfuhl von Lärm — in der traumhaft schönen Ausstellung voll von 300000 Knoten beiderlei Ge- schlechts, die überall Papiere streuen und lunchen, mit Reisetaschen umher sitzen, Babies tragen und Alles anstarren, ohne eine Ahnung von wirklichem Interesse zu haben. Es ist menschlich betrachtet bei der blödsinnigen Hitze kein idealer Aufenthalt: von außen architektonisch wundervoll, halb venezianisch, halb indisch; weiße phantastische Paläste mit Säulenhallen am Wasser liegend, kolossale Fontänen, dunkelblauer Himmel, Gondeln, Pelikane, goldene Statuen — alles so weit und groß und wirklich schön.

Eine Übersicht kann man nach viermaligem Besuch unmöglich haben, dazu ist Alles zu riesenhaft. Ich habe „the liberal Arts“ das heißt deutsche, französische und englische Ausstellungen angesehen, mich an unserer Königlichen Porzellan-Manufaktur und an unserem Schmiede-Eisen gefreut. Österreich hat sich nicht sehr angestrengt und that wohl daran. Frankreich hat sehr einheitlich und gut arrangiert, aber auch nichts sehr Wunderbares. England ist groß in Porzellan und Fayencen. Dann war ich bei der Elektrizität und im „Womens building“, welches zehntausend Sachen enthält, ohne jeglichen Gesamteindruck als den der Schauderhaftigkeit, was Kunst betrifft, hervorzubringen. Solche Bilder sah man nirgends und es lohnte wahrlich nicht, dafür einen eigenen Palast zu haben. Man kann nichts sehen vor Gedränge, nicht einmal die Abtheilung der Krankenpflege, wo die Schwestern aller Länder als Puppen angezogen in Glasschränken stehen. Es ist auch eine lebendige Nursery da, wo man seine Babies für den Tag lassen kann. Dieses Land mag durch seinen Arbeitsfanatismus, durch seine natürlichen Ressourcen und Schönheiten den inneren Menschen erfreuen, aber der Kulturmensch leidet bei dem Anblick vieler Dinge.

Ein See, so groß wie die Ostsee, liegt herrlich ausgebreitet vor der Stadt, aber bis auf einen verschwindenden Theil des Ufers hier in unserer Nähe, ist der Michigan-See ohne Quai und ohne Hafen. Privatwagen sind sehr selten, es gibt cable cars, electric cars, Last- und Bauwagen, dazu miserables Pflaster mit tiefen Löchern und keinerlei Fahrordnung, deshalb wahre Knäule von Gefährten. Alles rasselt, rennt, klopft, klingelt, tutet und die Fußgänger schießen dazwischen durch, eine zusammengewürfelte Bevölkerung, Neger und Südländer, hagere Yankees, gebückt und farblos, garstige Frauen, viele Deutsche, deren 400000 hier sein wollen. In der Geschäftsstadt, wo alle offices liegen, verleben alle Männer ihre Tage. Die Resident-town ist eine ganz andere Stadt. Unabsehbare Straßen nach Norden und Osten, nur Villen, große und kleine, mit Parks in tiefer Stille an denselben Pflasterlöchern liegend. Dazwischen ein Stück Macadam oder ein Stück Asphalt oder Holzpflaster. Es gibt Villen der merkwürdigsten Art, wie Normannenschlösser aus dunklen Quadersteinen gebaut, daneben französische Renaissance oder den luftigen hellen südlichen Backsteinbau mit großen Veranden. Alle haben Freitreppen zur Straße herab und auf diesen allen liegt abends von sechs bis sieben Uhr ein Stück Teppich, auf welchem die gesamten Familien sitzen und ihre Zeitungen lesen, eine Stunde lang ohne Unterbrechung.

Der Michigan-See liegt hundert Schritt von unserem schönen Hause und sendet uns jede Nacht von zwei Uhr ab eine kühle, fast kalte Brise. Scheiben gibt es nicht, nur Drahtschiebefenster und weiße und graue Jalousien. In jedem Privathause, wie in allen Hôtels ist zwischen je zwei Schlafzimmern ein Bad mit heißem und kaltem Wasser ad infinitum: denn höre und staune, Wasserverbrauch darf hier weder bezahlt noch beschränkt werden. Wasser und Schulwesen sind Staatsangelegenheiten, deshalb gratis! und keine Commune, kein Einzelstaat darf hineinreden.

New York, der Hudson, mit seinen doch schier 150jährigen Erinnerungen, kommen Einem vor wie Rom und Athen im Vergleich mit dieser Stadt und ich freue mich sehr, zurück in den Osten zu kommen und späterhin Boston, Baltimore und Washington zu sehen. Ob wir in fünf bis sechs Tagen gen Colorado oder gegen Osten an den Niagara gehen, weiß Gott allein. Fortfahren ist die Hauptsache. Hermann geht es gut, trotz ungeahntester Leistungen, trotz Schlafwagen, Schiffen, Hitze und Essen. Letzteres verdiente noch einen Extrabericht. Ich bin zu Thee und Früchten übergegangen, den wunderbaren Früchten: Birnen, Pfirsichen und Bananen; morgens nüchtern ißt man pro Kopf eine halbe Melone und trinkt Eiswasser dazu, ehe der Ernst des Lebens und das Frühstück beginnen.

Wir haben viele nette Menschen hier, theils mitgebracht, theils wieder getroffen; aber die Zeit, die alles kostet, ist unsagbar, London das große, mit seinen so unendlich geordneten Lebensbedingungen und dieses entsetzliche Loch sind wie Tag und Nacht. Fürchte Dich nicht für Arthur. Er ist jung und das ist für hier die Conditio sine qua non. Altsein ist hier ausgeschlossen. Wir sind schon ganz apokalyptische Erscheinungen: „Greise“, die es sonst nicht gibt. Zu schade, daß Franz dieses Land nicht sieht.

Gott behüte Euch und laßt es Euch wohl ergehen.

Deine Anna.


Chicago, 141 Astor Street, 31. August 1893.

Liebe Ellen!

Unser Gepäck ist checked, wir sind fertig um zwölf Uhr mit Knapps und Hentschel nach Denver Colorado zu fahren, dreißig Stunden. Dort bleiben wir umherreisend zehn Tage, sind am 10. September in St. Louis, wo wir Nachrichten erhoffen. Es geht uns ganz erfreulich. Papa hat sich nach Absolvierung des Elektrischen Congresses sehr erfreut bei der Ausstellung, die für ihn ziemlich viel Neues bot und ihn weniger müde machte, als mich.

Heute an seinem Geburtstage ist er recht frisch und ganz fröhlich; daß ich mit kam, war doch absolut notwendig, denn von den jungen gelehrten Herren sieht man verschwindend wenig. Der Geburtstag wurde gestern auf einem Deutschen Festmahl im Hôtel Richelieu gefeiert und mir schickten die Herren ungezählte Rosensträuße. Eben treten die Vasallen an zur Gratulationscour; es ist glühend heiß, Gott weiß, wie es uns ergeht auf unseren Fahrten.

Deine treue Mama.



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Letzte Änderung: Mai 2014     Gabriele Dörflinger   Kontakt

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