HERMANN VON HELMHOLTZ.

31. August 1821 — 8. September 1894.

Gedächtnisrede von Theodor Wilhelm Engelmann

Quelle:
Engelmann, Theodor W.: Gedächtnissrede auf Hermann von Helmholtz / gehalten am 28. September 1894 in der Aula der Universität Utrecht von Th. W. Engelmann. - Leipzig, 1894. - 34 S.
Signatur UB Heidelberg: F 6834-5-30

Am 8. September verbreitete der Telegraph die Nachricht: »HERMANN VON HELMHOLTZ ist heute in Charlottenburg gestorben«. Die kurzen Worte bedeuten einen unermesslichen Verlust für die Menschheit. Sie verliert in HELMHOLTZ nicht einen einzelnen grossen Gelehrten, sondern eine Vereinigung von Forschern und Denkern ersten Ranges, wie sie vielleicht noch nie in einer Person da war. Im Zeitalter der Specialitäten erscheint er, neben ALEXANDER VON HUMBOLDT der universellste Geist des Jahrhunderts, auf allen Gebieten die er betritt in bahnbrechender Weise schöpferisch thätig, jede seiner Arbeiten die vollkommen ausgereifte Frucht methodischster Forschung.

Wie im Alterthum sieben Städte sich Homer streitig machten, so beanspruchen nun Mathematik, Physik, Chemie, Physiologie, Medicin, Philosophie, Kunstwissenschaft HELMHOLTZ als den Ihrigen. In allen diesen Wissenschaften hat er unvergängliche Spuren seines mächtigen Geistes zurückgelassen.

Schon sein äusserer Lebenslauf bezeugt diese unerhörte Vielseitigkeit. Wir begegnen ihm nach einander als Militärarzt in seiner Vaterstadt Potsdam (1843), als Lehrer der Anatomie an der Kunstakademie zu Berlin (1848), als Professor der allgemeinen Pathologie und Physiologie in Königsberg (1849), der Anatomie in Bonn (1855), der Physiologie in Heidelberg (1858), der Physik in Berlin (1871-1888), und finden ihn am Abend seines Lebens als Schöpfer und Leiter der physikalisch-technischen Reichsanstalt zu Berlin.

Diese Vielseitigkeit der wissenschaftlichen Leistungen von HELMHOLTZ ist selbstverständlich in erster Linie begründet in einer entsprechenden Vielseitigkeit seiner Begabung. Aber auch äussere Umstände begünstigten sie schon früh. Unzweifelhaft gipfelten seine Anlagen in mathematisch-physikalischer Begabung. Schon als Kind mit Bauhölzern spielend, findet er fast alle Thatsachen der Geometrie, die erst der Schulunterricht dem reiferen Knaben beizubringen pflegt. Im Gymnasium fesselt ihn vor Allem die Physik und in dieser vorzugsweise, wie er es später ausdrückte, »die geistige Bewältigung der Natur durch die logische Form des Gesetzes«. Manches Mal, wo die Klasse Cicero oder Vergil las, berechnete er unter dem Tische den Gang der Strahlenbündel durch Teleskope und fand dabei schon einige optische Sätze, von denen in den Lehrbüchern nichts zu stehen pflegt, die ihm aber bei der Construction des Augenspiegels nützlich wurden. Er wünschte denn auch mit aller Kraft Physiker zu werden.

Aber die Physik galt damals noch für eine brotlose Kunst. »Mein Vater,« erzählt HELMHOLTZ, »ein in recht knappen Verhältnissen lebender Gymnasiallehrer, aber ein Mann, der die hochfliegende wissenschaftliche Begeisterung der FlCHTE'schen Philosophie und der Freiheitskriege sich lebendig bewahrt hatte, erklärte mir, so leid es ihm selber thun mochte, Physik sei keine Wissenschaft, die einen Lebensunterhalt gewähren könne; er wisse mir nicht anders zum Studium der Physik zu helfen, als wenn ich das der Medicin dazu mit in den Kauf nähme. Ich war dem Studium der lebenden Natur durchaus nicht abgeneigt und ging ohne viel Schwierigkeit darauf ein.« So wurde er Zögling des Friedrich-Wilhelm-Instituts, einer militärärztlichen Lehranstalt, welche, die Durchführung des medicinischen Studiums unbemittelten Studirenden sehr wesentlich erleichterte. Und hiermit war er der Medicin und durch diese der Physiologie zugeführt.

Der Physiologie giebt die Vielseitigkeit und Verwicklung ihrer Probleme eine besonders hervorragende, zugleich aber auch schwierige Stellung im Kreise der übrigen Wissenschaften. Morphologie in ihrem ganzen Umfang, Anatomie, Histiologie und Entwicklungsgeschichte alles Lebendigen umfassend, Mathematik, Physik, Chemie, Pathologie, klinische Wissenschaften, sie alle sind für die Physiologie die Quellen, aus denen sie beständig schöpfen, deren Lauf sie beständig folgen muss. Zu vielen anderen Wissenschaften, wie Philologie, Kunstwissenschaft, Philosophie, Psychologie vor Allem, hat sie die innigsten Beziehungen. Wie keine andere gewährt sie in Folge hiervon einem universell veranlagten Geist fruchtbaren Boden zur Entfaltung aller seiner Kräfte. Für HELMHOLTZ kam dazu der günstige Umstand, dass er, wie er selbst bemerkt, in einer Periode in die Medicin eintrat, wo Jemand, der in physikalischen Betrachtungsweisen auch nur mässig bewandert war, einen fruchtbaren jungfräulichen Boden zur Beackerung vorfand. Ausserdem ward ihm das persönliche Glück, JOHANNES MÜLLER als Lehrer .zu finden.

Dieser Geist ersten Ranges, gleich gross als Denker wie als Experimentator, als Morpholog wie als Physiolog, erhob durch eigene Leistungen und durch den mächtigen Einfluss, den er durch Beispiel und Wort auf begeisterte Schüler auszuüben wusste, die Physiologie erst völlig zum Rang einer experimentellen Naturwissenschaft, während sie bis dahin wesentlich nur ein Bücherstudium gewesen war. Obschon, wie man weiss, bis an sein Ende dem Vitalismus geneigt, war doch JOH. MÜLLER praktisch schon früh durchaus moderner Naturforscher, dem in der Erfahrung, in Beobachtung und Versuch, die letzte Quelle alles wahren Wissens und das letzte, immer aufs Neue zu prüfende und zu festigende Fundament jeder Hypothese lag. Sein berühmtes Handbuch der Physiologie, das wie kein anderes das Wissen der Zeit vereinigte und zugleich die anregendste Fundgrube neuer Thatsachen und Probleme war, ja zum Theil noch ist, legt fast auf jeder Seite hiervon beredtes Zeugniss ab. Es ist buchstäblich die moderne Physiologie in statu nascenti. Hierdurch, mehr noch als durch die Entdeckung physiologischer Thatsachen ersten Ranges, wurde MÜLLER für diese Wissenschaft bedeutungsvoll. Dankt sie ihm persönlich von grossen Errungenschaften hauptsächlich die feste Begründung der Lehre von den specifischen Energien der Nerven, eine That, die HELMHOLTZ geneigt war der Entdeckung des Gravitationsgesetzes gleichzustellen , so schuldet die Physiologie übrigens, was sie geworden ist, in erster Linie JOH. MÜLLER's Schülern, von denen THEODOR SCHWANN und ERNST BRÜCKE HELMHOLTZ im Tode vorausgegangen sind, EMIL DU BOIS-REYMOND noch in voller Kraft unter uns wirkt. Neben ihnen und dem Nestor der lebenden Physiologen, CARL LUDWIG, können als ebenbürtige Mitbegründer unserer heutigen Wissenschaft wohl nur die Gebrüder WEBER in Deutschland, DONDERS in Holland und CLAUDE BERNARD in Frankreich genannt werden, die, nun auch schon zu unseren grossen Todten gehören.

HELMHOLTZ selbst betrachtete es immer als ein grosses Vorrecht, durch die Schule des medicinischen Studiums hindurchgegangen zu sein, welche ihm, wie er urtheilte, eindringlicher und überzeugender als es irgend eine andere hätte thun können, die ewigen Grundsätze aller wissenschaftlichen Arbeit gepredigt hat. »Wer,« so sagt er in seiner Rede über das Denken in der Medicin, »wer wie der Arzt den Heil oder Verderben bringenden Kräften der Natur handelnd gegenüber treten soll, dem liegt unter schwerer Verantwortlichkeit die Verpflichtung ob, die Kenntniss der Wahrheit und nur der Wahrheit zu suchen. Er muss streben voraus zu wissen, was der Erfolg seines Eingreifens sein wird, wenn er so oder so verfährt. Um dies Vorauswissen zu erwerben, haben wir keine andere Methode als die, dass wir die Gesetze der Thatsachen durch Beobachtung kennen zu lernen suchen.«

Noch in späteren Jahren pries er die Medicin als sein geistiges Heimathland.

Den hier berührten Umständen haben wir es zu verdanken, wenn wir HELMHOLTZ zunächst auf dem Gebiete der Physiologie die Schwingen seines Geistes entfalten sehen. Und wie weiss er sie sogleich zu regen!

Einem Adler gleich steigt er mit ruhigem sicherem Flügelschlage hinauf in den höchsten Aether und überblickt die Welt der Erscheinungen in ihrer ganzen Ausdehnung, ihren Höhen und Tiefen, in ihrer Mannigfaltigkeit und in ihrem Zusammenhange, wie nie Jemand vor ihm. Es ist geradezu unheimlich, ihm auf diesem Fluge zu folgen. Vielleicht noch nie ward in so kurzer Spanne Zeit von einem einzigen Sterblichen der Menschheit eine solche Fülle grosser wissenschaftlicher Offenbarungen geschenkt. Schlag auf Schlag folgen Arbeiten ersten Ranges, auf anatomischem, physikalischem, physiologischem, philosophischem Gebiete, bei aller Verschiedenheit darin übereinstimmend, dass sie Probleme von principieller Wichtigkeit behandeln mit grösster Schärfe der Fragestellung, mit vollendeter logischer und experimenteller Methodik, freiester Herrschaft über die bereits vorhandene Kenntniss, in klassischer Form der Darstellung und — mit entscheidendem Resultate.

Noch Student entdeckt er mit einem mässigen, seinen spärlichen Mitteln während eines Typhus abgerungenen Mikroskop den Ursprung der Nervenfasern aus Ganglienzellen, die histiologische Basis der gesammten Nervenphysiologie und -pathologie. Kaum promovirt (1842) veröffentlicht er Versuche zur Entscheidung der für die theoretische und angewandte Chemie wie für die Lehre von den Contagien und Miasmen gleich fundamentalen Frage nach dem Wesen der Fäulniss und Gährung, und beweist, dass die Gährung des Mostes nicht wie J. VON LIEBIG lehrte, durch den blossen Zutritt des Sauerstoffs der Luft ermöglicht wird, sondern ausserdem die Gegenwart eines geformten, festen Körpers, der Hefezelle, erheischt. Wäre sein Mikroskop besser gewesen, er würde wohl erkannt haben, dass auch die gewöhnliche Fäulniss eiweisshaltiger Substanzen durch lebendige Wesen hervorgerufen wird. Nun begnügt er sich darauf hinzuweisen, dass sie dem Lebensprocesse auffallend gleicht »durch die Gleichheit der Stoffe, in denen sie ihren Sitz hat, durch ihre Fortpflanzungsfähigkeit, durch die Gleichheit der Bedingungen, welche zu ihrer Erhaltung oder zu ihrer Zerstörung nöthig sind«. Wie nahe war er der Entdeckung, die LOUIS PASTEUR's Weltruhm begründete!

Zu gleicher Zeit und in Zusammenhang mit diesen Untersuchungen beschäftigt ihn das uralte Räthsel der Lebenskraft. »Die Mehrzahl der Physiologen,« wir lassen HELMHOLTZ selbst reden, »hatte damals den Ausweg G. E. STAHL's ergriffen, dass es zwar die physikalischen und chemischen Kräfte der Organe und Stoffe des lebenden Körpers seien, die in ihm wirkten, dass aber eine in ihm wohnende Lebensseele oder Lebenskraft die Wirksamkeit dieser Kräfte zu binden und zu lösen im Stande sei, dass das freie Walten dieser Kräfte nach dem Tode die Fäulniss .hervorrufe, während des Lebens dagegen ihre Action fortdauernd durch die Lebensseele regulirt werde. In dieser Erklärung ahnte ich etwas Widernatürliches; aber es hat mir viel Mühe gemacht, meine Ahnung in eine präcise Frage umzugestalten. Endlich in meinem letzten Studienjahr fand ich, dass STAHL's Theorie jedem lebenden Körper die Natur eines perpetuum mobile beilegte.« Die fruchtlosen Streitigkeiten hierüber waren ihm bekannt. So kommt er auf die Frage: »Welche Beziehungen müssen zwischen den verschiedenartigen Naturkräften bestehen, wenn allgemein kein perpetuum mobile möglich sein soll?« und auf die weitere: »Bestehen nun thatsächlich alle diese Beziehungen?«

Aus diesen Gedanken über die Lebensprocesse entspringt die, einen Wendepunkt in der Geschichte der Naturerkenntniss bezeichnende, berühmte Abhandlung über die Erhaltung der Kraft, die erstaunliche Frucht tiefsten, in allen Richtungen bis zu den äussersten Consequenzen durchdringenden Denkens.

Wir betrachten heute das Gesetz der Erhaltung der Kraft, oder, wie man es jetzt meist nennt, der Erhaltung der Energie, wie etwas Selbstverständliches, und auch HELMHOLTZ selbst wäre, wie er erzählt, vollkommen darauf gefasst gewesen, wenn ihm die Sachverständigen schliesslich gesagt hätten: »Das ist uns ja Alles wohlbekannt. Was denkt sich der junge Mediciner, dass er meint, uns dies so ausführlich aus einander setzen zu müssen?«

Erstaunlicher Weise aber betrachtete die Mehrzahl der Fachgenossen des In- und Auslandes die Arbeit als eine phantastische Verirrung. Es ward ihr die Aufnahme in die Annalen der Physik und Chemie von POGGENDORFF verweigert. Unter den Mitgliedern der Berliner Akademie war es nur JACOBI, der den Zusammenhang von HELMHOLTZ' Gedankengang mit dem der grossen Mathematiker des vorigen Jahrhunderts, DANIEL BERNOUILLI, D'ALEMBERT und Anderer, erkannte und den Verfasser vor Missdeutung schützte. Bei seinen jüngeren Freunden dagegen, die sich um diese Zeit mit ihm zur Bildung der physikalischen Gesellschaft von Berlin vereinigten, vor Allem bei E. DU BOIS-REYMOND, fand HELMHOLTZ sogleich enthusiastischen Beifall und praktische Hilfe. In Holland war wohl, neben BUYS BALLOT, DONDERS der Erste, der die Richtigkeit und unermessliche Tragweite des neuen Gesetzes klar erkannte und es sogleich auf die Lebenserscheinungen anwandte. In England hatte JOULE vorgearbeitet durch seine berühmten Versuche über das mechanische Aequivalent der Wärme, deren volle Bedeutung Lord KELVIN (damals noch WILLIAM THOMSON) wohl zuerst erfasste. In Dänemark war durch COLDING, in Frankreich durch CARNOT der Boden vorbereitet; in Deutschland hatte, der Erste von Allen (1842), J. R. MAYER von Heilbronn, angeregt durch Beobachtungen, die er als holländischer Schiffsarzt in Batavia machte, selbständig das grosse Princip erkannt. Seine mehr in aprioristisch-philosophisches Gewand gehüllten, dazu an ungewohntem Orte veröffentlichten Abhandlungen waren aber HELMHOLTZ, wie wohl den meisten Zeitgenossen, unbekannt geblieben, und die sie etwa kennen gelernt hatten, dachten darüber vermuthlich wie jener holländische Professor der Physik, der an den Rand seines Exemplars schrieb: Abra cadabra.

Betrachtete HELMHOLTZ es als den Zweck seiner Untersuchung, den Physikern in möglichster Vollständigkeit die theoretische, praktische und heuristische Wichtigkeit des grossen, alles Naturgeschehen umfassenden Gesetzes darzulegen und erschien ihm die vollständige Bestätigung derselben, als eine der Hauptaufgaben der nächsten Zukunft der Physik, so hat die Entwicklung der Naturwissenschaften in den letzten fünfzig Jahren gezeigt, dass jener Zweck erreicht und diese Erwartung in Erfüllung gegangen ist.

Er selbst hatte schon vor Veröffentlichung der theoretischen Abhandlung die Gültigkeit des grossen Princips im Gebiete der Lebenserscheinungen an zwei der wichtigsten Beispiele experimentell geprüft und die aus der Theorie gezogenen Schlüsse bestätigt gefunden. Es handelte sich um die Frage, ob die in den lebendigen Organismen erzeugte mechanische Arbeit und Wärme vollständig aus dem Stoffwechsel herzuleiten oder, wie die herrschende vitalistische Lehre wollte, Wirkungen einer sich stets aus sich selbst erzeugenden Kraft, der Lebenskraft, sei.

Bereits 1845 hatte der junge Doctor in einer noch heute zu den wichtigsten Grundlagen der physiologischen Wärmelehre zählenden kritischen Abhandlung gezeigt. dass die vorhandenen Erfahrungen über Wärmeerzeugung, Wärmeverlust und Stoffverbrauch der Thiere zu dem Schlusse berechtigen, dass die durch Respiration und Digestion dem Körper gelieferten Stoffe durch ihre im Organismus in verschiedenen Zwischenstufen erfolgende Verbindung die gesammte Lebenswärme liefern, wobei, im Gegensatz zu der herrschenden Lehre, auf die unmittelbar innerhalb der Lungen erfolgende chemische Veränderung des Blutes nur ein kleiner Antheil an der Bildung dieser Wärme falle.

Jetzt vergleicht er die chemische Zusammensetzung von Muskeln vor und nach anhaltender Thätigkeit und entdeckt die Thatsache der Aenclerung dieser Zusammensetzung und ihre Quelle in der lebendigen Thätigkeit der Muskelfaser. Kurz darauf (1847) liefert er, an der Hand der feinsten elektrischen Messmethoden, den ersten unwiderleglichen Beweis, dass die Muskeln bei der Zusammenziehung selbständig Wärme entwickeln und nicht bloss, was die bisherigen Untersuchungen zweifelhaft gelassen hatten, durch vermehrte Zufuhr warmen Blutes wärmer werden.

Aber schon wendet er sich einem neuen, von allen Räthseln des Lebens die dunkelsten bergenden Gebiete zu, der Lehre von den Nervenwirkungen. Er beantwortet (1850) die noch von JOH. MÜLLER kurz zuvor für wohl unlösbar erklärte Frage nach der Geschwindigkeit, mit der sich der Reiz des Willens und der Empfindung durch die Nervenfaser fortpflanzt. Nach zwei grundsätzlich verschiedenen, eine jede eigenthümliche Vortheile bietenden Methoden, einmal mit Hilfe eines von ihm ersonnenen zeitmessenden Registrirapparates, des Myographions, dann mittels der galvano-metrischen Methode von POUILLET zur Messung kleinster Zeittheilchen, beweist er, dass jene Geschwindigkeit nicht, wie man, dem Schein der Sinne vertrauend, vermuthete, unendlich gross, sondern im Gegentheil ziemlich klein sei, etwa zehnmal kleiner als die Geschwindigkeit des Schalles in der Luft. Die erste Grundlage zu einer Einsicht in das bis dahin durchaus geheimnissvolle Wesen der Nervenleitung war hiermit gewonnen.

Im Besitz der feinsten Hilfsmittel zur graphischen und galvanischen Messung scheinbar unendlich kurz dauernder Bewegungen, macht er sogleich Gebrauch davon zur Entscheidung anderer, bis dahin nicht lösbarer, wichtigster Fragen der allgemeinen Physiologie. Er ermittelt den Verlauf der mechanischen Veränderungen des Muskels während der Zuckung: er entdeckt, dass die Kraft, welche den Muskel zu verkürzen strebt, nicht im Augenblick der Reizung schon auftritt, sondern nach einer messbaren Zeit, die er das Stadium der latenten Energie nennt, und entdeckt weiter, dass die von DU BOIS-REYMOND als constante Begleiterin der Zuckung nachgewiesene elektrische Schwankung das erste Zeichen der stattgehabten Erregung ist, indem sie bereits im Stadium der latenten Energie den Nerven eines zweiten Muskels zu erregen vermag. Er misst die Geschwindigkeit der Reflexleitung im Rückenmark und findet sie noch sehr viel geringer als die der Leitung der Erregung im Nervenstamm. So eröffnet er der Physiologie und Pathologie der Muskeln und Nerven neue Bahnen, auf denen nun schon zwei Generationen von Forschern aller Länder an der .Hand der von ihm geschaffenen Methoden von Entdeckung zu Entdeckung geführt, worden sind.

Die neuen physikalischen Untersuchungsmethoden zwingen ihn, sie auf ihre Zuverlässigkeit zu prüfen. Da die vorhandenen Arbeiten der Physiker und Mathematiker dazu nicht genügen, übernimmt er deren Arbeit selbst und führt sie in Analyse und Experiment zu Ende, ein Verfahren, das bei ihm weiterhin gleichsam selbstverständlich wird. So entsteht zunächst die Abhandlung über Dauer und Verlauf inducirter elektrischer Ströme (1851). Ihr folgt die theoretische und experimentelle Begründung einer Reihe der wichtigsten Theoreme, die Vertheilung elektrischer Ströme in körperlichen Leitern betreffend, Theoreme, deren Mangel sich hauptsächlich auf dem Gebiete der von E. DU BOIS-REYMOND in jener Zeit mit so glänzendem Erfolge bearbeiteten und zu ungeahnter Wichtigkeit erhobenen Erscheinungen der thierischen Elektricität fühlbar gemacht hatte. HELMHOLTZ selbst hatte bei Gelegenheit einer auch heute noch classischen und durch ihren unbefangenen Fernblick imponirenden Darstellung der neueren Forschungen über die thierisch-elektrischen Erscheinungen (1851) jenen Mangel empfunden und war nun im Stande, einerseits Sätze, die von dem Freunde nur auf scharfsinnig combinirte Analogien und Wahrscheinlichkeitsgründe basirt worden waren, streng und kurz zu beweisen, andererseits wichtige Gruppen von Thatsachen, wie die Ströme der sogenannten schwachen Anordnung und das Wachsen der elektromotorischen Kraft des Muskels mit dessen Masse, in neuem Licht erscheinen zu lassen.

Aber hiermit nicht genug! Schon wieder hat er, wie beiläufig, neue grosse Wissensgebiete in Angriff genommen, auf denen er bald wie auf den früheren als Meister zu herrschen anfängt und von denen aus er die entlegensten Gebiete geistigen und praktischen Schaffens mit seinen Entdeckungen und Ideen zu befruchten beginnt. Er eröffnet die lange Reihe der denkwürdigen Untersuchungen über die Lehre des Sehens und des Hörens, deren Früchte später in zwei monumentalen Werken unvergänglichen Werthes dem »Handbuch der physiologischen Optik« (1856-1866) und der »Lehre von den Tonempfindungen« (1862) von ihm zusammengefasst werden, und die zugleich mit dem Augenspiegel der modernen Augenheilkunde den Ursprung giebt.

Er fasst seine Aufgabe, ihrer dreifachen Natur entsprechend, sofort von drei verschiedenen Seiten an: von der physikalischen, der physiologischen und der psychologisch-philosophischen, indem er die auf das Sehen bezüglichen Arbeiten eröffnet mit der Construction und Beschreibung des Augenspiegels (1851), der Theorie der zusammengesetzten Farben (1852) und der Abhandlung über die Natur der menschlichen Sinnesempfindungen (1852). Auch weiterhin sehen wir ihn mit gleicher Kraft und Ausdauer und mit gleichem Erfolge diese drei Richtungen verfolgen.

Er studirt zunächst die objectiven Vorgänge, welche als äussere Reize unsere Sinnesorgane treffen, Früchte dieser Studien sind auf optischem Gebiete die Arbeiten über die Natur des Sonnenlichts, über die Zusammensetzung der Spectralfarben, auf akustischem die Theorie der Luftschwingungen in Röhren mit offenen Enden, die Arbeiten über den Einfluss der Luft auf die Schallbewegung, über die Theorie der Zungenpfeifen, die Bewegung der Violinsaiten u. a.

Er folgt den Lichtwellen auf ihrem Wege durchs Auge und entdeckt dabei, unabhängig von, obschon etwas nach unserem CRAMER, die Ursache der Accommodation des Auges in der Formveränderung der Krystalllinse, giebt die noch heute herrschende Theorie dafür und beschenkt gleichzeitig Physiologie und Augenheilkunde ausser mit dem Augenspiegel, mit ihrem feinsten optischen Messwerkzeug, dem Ophthalmometer.

Den Schallwellen folgt er durch Gehörgang, Trommelhöhle und Labyrinth bis zu den Endigungen des Gehörnerven im CORTI'schen Organ und erklärt die wunderbare Zweckmässigkeit im Bau und den Verbindungen des Trommelfells und der Gehörknöchelchen, wobei er sich zugleich als Meister subtilster anatomischer Forschung. erweist.

Er studirt weiter die Empfindungen, welche im Nervenapparat unserer Sinnesorgane durch jene äusseren Reize hervorgerufen und wodurch diese letzteren erst zu dem werden, was wir Licht und Farbe, Klang und Geräusch nennen. So entstehen die bis in die jüngste Zeit fortgesetzten Versuche über Farbenmischungen und die berühmten Untersuchungen über Obertöne, Combinationstöne und Schwebungen, die Analysen und Synthesen der Klänge mittels Resonatoren, Doppelsirene, Stimmgabel-Apparat, welche uns die Natur der Klangfarbe, das Wesen der Vocale und die physiologischen Ursachen der musikalischen Consonanz und Dissonanz enthüllt haben. Zugleich sucht er die verwirrende Masse der Thatsachen durch möglichst einfache Hypothesen zu vereinigen und dem Verständniss näher zu rücken, indem er JOHANNES MÜLLER's Lehre von den specifischen Energien weiter ausbaut, dabei für das Auge einen schon von THOMAS YOUNG am Anfang des Jahrhunderts entworfenen Versuch zu einer Theorie der Farbenwahrnehmung neu belebend.

Er prüft endlich, wie aus den einfachen Empfindungen des Auges Wahrnehmungen entstehen und aus diesen, in den angeborenen Anschauungsformen des Raumes und der Zeit, nach dem Gesetz der Causalität, die Vorstellungen, aus denen sich unser Bild der Welt aufbaut. Er zeigt, wie an der Hand der individuellen Erfahrung, unter dem Einfluss und der Controle der übrigen Sinnesorgane, der Augen- und Körperbewegungen und der diese begleitenden Bewegungsgefühle, unsere Vorstellungen und Urtheile, über die Dinge im Räume sich bilden und befestigen können, er studirt die Sinnestäuschungen und die Bedingungen ihres Entstehens und liefert durch diese Kritik der menschlichen Sinneswahrnehmungen Grundlagen für die Erkenntnisstheorie und damit für die Basis aller wahren Philosophie.

Ja, sein unwiderstehlicher Trieb, um in jeder Richtung bis zu den letzten Quellen unserer Erkenntniss vorzudringen, führt ihn weiter!

Die Untersuchungen über die räumlichen Anschauungen im Gesichtsfelde veranlassen ihn, die Frage nach dem Ursprung und Wesen unserer allgemeinen Anschauungen vom Raume und damit die Grundlagen und Axiome der Geometrie zu prüfen. Er findet den Beweis von KANT nicht stichhaltig, nach dem diese Axiome, wie die Raumanschauung überhaupt, vor aller Erfahrung gegeben sein sollen, und zeigt die Möglichkeit völlig consequenter Systeme der Geometrie und Mechanik, welche in Bezug auf die Axiome und die Zahl der Dimensionen von unserer Euklidischen Geometrie abweichen.

So ist er mitten in der reinen Philosophie angelandet, ja, wenn man einigen Philosophen glauben dürfte — jenseits derselben. Der unermüdliche Vertheidiger der Erfahrung als Quelle aller realen Erkenntniss, der energischste Bekämpfer jener gefährlichen, mit HEGEL nicht zu Grabe getragenen Metaphysik, die mit dem »reinen Denken« für die Auffassung der Wirklichkeit auszukommen vermeint, wird als Begründer einer neuen transcendentalen »Wissenschaft«, der Metamathematik, begrüsst. Nun, er liess sich den ironisch gemeinten Titel gefallen. Befand er sich doch auf diesem Gebiete in der Gesellschaft von Denkern wie GAUSS und RlEMANN, wie LOBATSCHEWSKY und BELTRAMI.


Durch seine Untersuchungen über Tonempfindungen, insbesondere über die Ursachen der Harmonie und Disharmonie, wird HELMHOLTZ andererseits hinübergelenkt nach dem Gebiet der Kunstwissenschaft, zu der Theorie der Musik. Wie reformatorisch er hier, vor Allem auf dem Gebiet der Harmonielehre gewirkt, ist auch in Laienkreisen ganz allgemein bekannt. Die Literatur dieses Zweiges trägt seit dem Erscheinen der ersten Auflage der Lehre von den Tonempfmdungen (1862) den Stempel von HELMHOLTZ' Arbeit. Noch unlängst gab einer der berufensten Vertreter der Musikwissenschaft, der nun leider auch bereits verstorbene PHILIPP SPITTA, dem Dank der Kunstforscher und Künstler in beseelten Worten Ausdruck.

Aber HELMHOLTZ liebte und förderte nicht nur die Kunstlehre. Er war selbst ein Künstler. Ich sprach schon von der vollendeten Form, in welcher er seine streng wissenschaftlichen Arbeiten den Fachgenossen vorlegte. Auch dem Laien hat er Gelegenheit gegeben, ihn von dieser Seite kennen und bewundern zu lernen. Denn schon früh sehen wir ihn die Ergebnisse seiner Forschungen in Reden und gemeinverständlichen Vorträgen weiteren Kreisen mittheilen.

Zu der plastischen Klarheit in der Anordnung des Stoffs, der Logik des Gedankenganges, der Bestimmtheit und Gewandtheit des Ausdrucks, die seinen wissenschaftlichen Arbeiten eigen, tritt hier, der verschiedenen Art der Zuhörer und des Zweckes entsprechend, ein specifisch künstlerisches Element, wodurch diese Reden nach Form wie Inhalt zu literarischen Meisterwerken gestempelt werden. Ich erinnere nur an den berühmten Vortrag über die Wechselwirkung der Naturkräfte, in welchem er das Gesetz der Erhaltung der Kraft in seinem Ursprung und in seiner Anwendung auf die ganze Natur, auf Vergangenheit und Zukunft unseres Sonnensystems darlegt. Allen Studirenden sei die herrliche Rede über das Denken in der Medicin ans Herz gelegt, die jeder nicht einmal, sondern häufig lesen sollte. Aber allesammt sind sie höchst lesenswerth.

Besseres Deutsch ist nicht geschrieben worden. HELMHOLTZ' Sprache ist von vollendeter, edelster Natürlichkeit, von ruhigstem Flusse und gleichmässigem Wohllaut. Er liebt die kurze gerade Redeweise, verschmäht prunkvolle Worte und den häufigen Gebrauch von Bildern und erhebt sich doch, wo es der Gegenstand mit sich bringt, zu poetischer Wärme des Ausdrucks. Immer steht ihm, wo er es braucht, in ungesuchtester Weise ein passendes Dichterwort zu Gebote, wie denn — trotz Cicero und Vergil — ein gutes Stück classischer Literatur alter und neuer Zeit in seinem, wie ich glaube, von ihm selbst unterschätzten Gedächtnisse fortlebt.

GOETHE nimmt wie begreiflich in dieser Beziehung einen Ehrenplatz ein. Ausser dem allgemeinen Interesse, das der Dichter und Mensch ihm einflössen musste, führte die Naturwissenschaft, im Besondern die physiologische Optik, HELMHOLTZ noch geradeswegs auf den Naturforscher GOETHE.

Vor vierzig Jahren, als HELMHOLTZ zum ersten Male über GOETHE schrieb, war es unter den Fachgelehrten noch Mode, über des grossen Dichters naturwissenschaftliche Thätigkeit geringschätzig zu urtheilen. Wenn es jetzt besser geworden ist, so-danken wir das, ausser dem tieferen und allgemeineren Studium, das sich GOETHE überhaupt zugewendet, vor Allem HELMHOLTZ und HAECKEL. Dem Morphologen GOETHE Recht widerfahren zu lassen, war freilich leichter, namentlich nachdem CHARLES DARWIN sein »Origin of species« geschrieben. Der Physiker GOETHE hatte einen schwereren Stand. Man weiss, mit welcher beispiellosen Leidenschaftlichkeit er gegen NEWTON's Licht- und Farbenlehre und ihre Anhänger zu Felde gezogen, wie verächtlich er sich über beide in Prosa und Reim ausgelassen. Die Professoren der Physik rächten sich, indem sie ihn als Dilettanten nicht ernsthaft nahmen und über seine offenbaren physikalischen Irrthümer zur Tagesordnung übergingen.

HELMHOLTZ sah natürlich ein, dass der Irrthum eines Geistes wie GOETHE, namentlich ein so überaus hartnäckig festgehaltener Irrthum, seine guten Gründe haben musste, die aufzudecken nur lehrreich sein konnte. Er fand diese Gründe einmal in GOETHE's geistiger Natur selbst, insofern diese ganz vorherrschend zu anschaulicher Erfassung aller Probleme organisirt, abstracter Begriffsentwicklung, wie sie die mathematisch-physikalische Betrachtung erfordert, so gut wie unzugänglich war; dann in der zu jener Zeit noch herrschenden Unklarheit in Bezug auf das Verhältniss der Sinnesempfindungen zu den sie veranlassenden Vorgängen ausserhalb uns. Die grosse Wahrheit war noch nicht ins allgemeine Bewusstsein durchgedrungen, welche durch KANT erfasst, durch JOHANNES MÜLLER im Gesetz der specifischen Energien im Einzelnen zur vollen Evidenz gebracht, von HELMHOLTZ in seinem Vortrage über GOETHE's naturwissenschaftliche Arbeiten (1853) mit den Worten ausgedrückt wird: »die Sinnesempfindungen sind uns nur Symbole für die Gegenstände der Aussenwelt, und entsprechen diesen etwa so, wie der Schriftzug oder Wortlaut dem dadurch bezeichneten Dinge«.

Der Grundgedanke, dass das weisse Licht der Physiker aus farbigem zusammengesetzt sein sollte, wo doch die unmittelbare Empfindung die denkbar grösste Einfachheit des Weiss zu beweisen scheint, war GOETHE durchaus unfasslich, die für ihn evidente Absurdität dieser Annahme wohl die Hauptquelle seines Widerstandes gegen NEWTON's Lehre, deren innere Consequenz und Uebereinstimmung mit den Thatsachen er übrigens kaum bestritt. HELMHOLTZ weist dies im Einzelnen an den Grundversuchen GOETHE's nach, und so begreifen wir und — verzeihen denn auch gern, nicht mehr bloss um seiner Schönheit willen, den im Jahrhundert des Dampfes und der Elektricität sich gar seltsam ausnehmenden berühmten Vers von den Hebeln und Schrauben.


Doch wir müssen zu HELMHOLTZ' eigenen naturwissenschaftlichen Forschungen zurückkehren. Man wird erstaunen, wenn man vernimmt, dass wir nur erst einen Theil davon besprochen haben. Es waren bloss die, welche wesentlich im unmittelbaren Anschluss an seine physiologischen Bestrebungen entstanden. Mit der Uebersiedelung nach Berlin als Nachfolger seines Lehrers und Freundes, des Physikers GUSTAV MAGNUS, hört HELMHOLTZ' akademische Lehrthätigkeit als Physiolog auf, und dementsprechend bewegt er sich von nun an auch in seinen Forschungen ausschliesslicher auf dem Gebiet der Physik.

Ich muss es mir leider versagen, von diesem Theil seiner Thätigkeit ausführlicher zu reden, dem ich selbst wesentlich nur als Laie gegenüberstehe. Er wird von den Sachverständigen dem Vorausgegangenen ebenbürtig geachtet. Fast durchweg hält er sich in den höchsten Regionen der Physik auf, wohin ihm nur wenige zu folgen befähigt sind, und von diesen nur solche, die das wundervolle aber schwierige Instrument der höheren Mathematik mit Meisterschaft zu handhaben lernten. Doch auch der weniger Urtheilsfähige wird einen Eindruck von der Bedeutung dieser Thätigkeit gewinnen können, wenn er die Art und Zahl der Gegenstände und die allgemeinen Ergebnisse überblickt. Ich beschränke mich auf Arbeiten, die in weitesten Kreisen Theilnahme verdienen, aber der Schwierigkeit der Fragen wegen noch weniger gefunden haben.

Eine Ausnahme macht vielleicht die noch in Heidelberg angestellte Untersuchung über die von FARADAY entdeckte Regelation des Eises, das Zusammenfrieren von Eisstücken durch Druck bei Null Grad. Von der damals noch verschieden gedeuteten Erscheinung weist HELMHOLTZ durch ebenso scharfsinnige wie elegante Versuche nach, wie sie auf der einen Seite aus dem Princip der Erhaltung der Energie zu erklären sei, andererseits, als eine der Ursachen der Plasticität des Eises, zur Gestaltung und Bewegung der Gletscher in causaler Beziehung stehe. Daneben giebt er in kurzen Strichen die Theorie der bis dahin unverstandenen Föhnerscheinungen, welche, ein Jahr darauf von HANN unabhängig entwickelt und bewiesen, jetzt die Grundlage der Lehre von den atmosphärischen Niederschlägen bildet.

Die für viele Zweige der Naturwissenschaft so äusserst wichtige Frage, wie weit die Leistungsfähigkeit der Mikroskope noch gesteigert Werden könne, führt ihn zur Ausarbeitung von Theoremen über Divergenz von Strahlenbündeln, über die Grösse der Diffraction in Mikroskopen und über deren Helligkeit, aus welchen sich die Grenze für die uns noch sicher wahrnehmbaren Grössenunterschiede im Allgemeinen gleich etwa der halben Wellenlänge der benutzten Lichtart ergiebt, eine weitere Steigerung des optischen Vermögens über das der besten neueren Instrumente hinaus also leider nicht möglich erscheint, ein Ergebniss zu dem unabhängig von ihm gleichzeitig ABBE, der Meister dieses speciellen Zweiges der Optik, gelangt.

In einer Abhandlung über Wirbelbewegungen lehrt er zum ersten Male die mit innerer Rotation von Theilchen verbundenen Bewegungen von Flüssigkeiten der mathematischen Analyse unterwerfen und zeigt, wie sich unter gewissen Voraussetzungen sogenannte Wirbelringe bilden, welche in der Constanz der Masse, der Unzerstörbarkeit, der Anziehung und Abstossung, die sie auf einander ausüben, in den Schwingungen, an denen sie theilnehmen, und den Verbindungen, die sie eingehen können, Eigenschaften besitzen, die, wie Sir WILLIAM THOMSON näher ausführt , die grösste Aehnlichkeit mit denen der Atome der Physiker haben und denn auch den grossen englischen Forscher zu dem Versuch veranlassen, die atomistische Theorie durch eine Theorie der Wirbelringe zu ersetzen.

Wie die Wirbelbewegungen hatten bisher den Anstrengungen auch der grössten Mathematiker die Erscheinungen getrotzt, welche Flüssigkeiten und Gase beim Ausströmen in weitere Räume zeigen, Erscheinungen, wodurch die Bewegungen dieser Körper sich wesentlich unterscheiden von den in einfacheren Fällen viele Aehnlichkeit bietenden Bewegungen der Wärme und der Elektricität. Nur für die einfacheren Fälle genügte die Theorie allenfalls. In einer kurzen aber inhaltsschweren Arbeit weist HELMHOLTZ, anknüpfend an seine Theorie der Wirbelbewegungen und der Luftschwingungen in offenen Röhren nach, wie auch hier die Theorie die Erfahrungsthatsachen bewältigen könne.

Seine hydrodynamischen Untersuchungen veranlassen ihn weiter, das Problem der Lenkung von Luftballons zu prüfen. Er zeigt, wie die für die Bewegung fester Körper in Flüssigkeit gefundenen Beobachtungsergebnisse hier Verwendung finden können. Dabei streift er die Theorie des Vogelflugs und macht es wahrscheinlich, dass im Modell der grossen Geier die Natur schon die Grenze der Grosse eines Geschöpfs erreicht hat, welches sich durch Flügel selbst heben und längere Zeit in der Höhe halten soll.

Ungefähr seit dem Jahre 1870 folgen dann die Beiträge zur Elektrodynamik, welche in Verband mit den sich daran anschliessenden Untersuchungen zur Thermochemie und Elektrochemie viele der grössten Probleme der allgemeinen Naturlehre berühren und nicht wenige davon durch Versuch wie Analyse der Lösung belangreich näher führen.

In theoretischer Beziehung am bedeutungsvollsten mögen wohl diejenigen sein, welche sich auf das allgemeine Gesetz der Wirkungen von elektrischen Stromelementen auf einander beziehen. Sie führen wieder bis tief ins philosophische Gebiet hinein, indem sie die schon NEWTON aufgestossene transcendentale Frage berühren, ob man eine Fernewirkung durch den leeren Raum oder Uebertragung der Wirkung durch ein continuirlich den Raum erfüllendes Medium anzunehmen habe. Während das allgemeine elektrodynamische Grundgesetz von WILHELM WEBER von jener Voraussetzung ausgeht, sucht die Theorie von CLERK MAXWELL auf Grund der letzteren Annahme eine Erklärung der Erscheinungen zu geben. HELMHOLTZ verhilft der MAXWELL'schen Theorie zu allgemeinerer Anerkennung und hat das Glück; die Bestätigung derselben durch die Versuche seines, nun leider auch schon dahingegangenen genialen Schülers HERTZ zu erleben, wohl die glänzendste That der neueren experimentellen Naturforschung.

Durch viele der übrigen Arbeiten geht als leitender Faden noch ein Gedanke von ganz besonders weittragender Bedeutung. Hatte das Gesetz der Erhaltung der Kraft gelehrt, dass die Umwandlung der verschiedenen Formen von Energie in der Natur (Wärme, mechanische Arbeit, elektrische, chemische Energie u. s. w.) in einander in ganz festen quantitativen Verhältnissen, erfolgen muss, so sagte dasselbe gleichwohl noch nichts darüber aus, wie, in welchem Sinne in Wirklichkeit die Umwandlung stattfinden müsse oder könne: ob beispielsweise ein gewisses Quantum Wärme ganz oder nur theilweise in mechanische Arbeit, oder theils in Arbeit, theils in Elektricität, oder in diese beiden und ausserdem noch in chemische Energie u. s. w. verwandelt werden könne. Man sieht sofort ein, dass dies zu wissen nicht nur theoretisch, sondern namentlich auch praktisch, für die Ausbeutung der Naturkräfte durch Technik und Industrie, vom allergrössten Interesse ist, so sehr, dass die Verfolgung dieser Frage jetzt wohl als eine der Hauptaufgaben der Naturforschung bezeichnet werden darf. Wenn wir nun bereits wissen, wie beispielsweise die verschiedenen Formen von Energie sich rücksichtlich der Menge mechanischer Arbeit, die sie liefern können, verhalten, dann danken wir dies hauptsächlich HELMHOLTZ, der die fruchtbaren Begriffe der freien und der gebundenen Energie einführte und von dem hier skizzirten Gesichtspunkt aus eine Reihe von Experimentalforschungen veranlasste, bei denen viele jüngere Forscher stolz waren, ihm die erforderliche praktische Hilfe leisten zu dürfen.

Doch wozu noch weitere Beweise für die Grösse und den Umfang von HELMHOLTZ' Schaffen? Es wäre leicht sie zu häufen. Denn was unbesprochen blieb ist mehr, als mancher tüchtige Forscher in einem ganzen Menschenleben leistete. Auch habe ich des Augenspiegels und seiner tiefgreifenden, segensreichen Wirkungen nur ganz flüchtig gedacht. Aber wie bedürfte es weiterer Worte hierüber in dem Vaterland von DONDERS? in der Stadt, wo das »Nederlandsch Gasthuis voor Ooglijders« steht?

Die wissenschaftlichen Leistungen des grossen Forschers erscheinen in erhöhtem Maasse bewundernswürdig, wenn man erwägt, dass er eigentlich in allen grundlegenden Fächern der Hauptsache nach Autodidakt war. Nicht als ob er schlechten oder lückenhaften Unterricht genossen hätte! Aber er war meist schon selbständig dem Unterricht vorausgeeilt und was ihm auf dem Gymnasium und später geboten wurde, war wie natürlich für die Durchschnittsköpfe berechnet. Schon früh verglichen ihn seine Lehrer einem Pferde, das doppelten Hafer haben muss.

Den Autodidakten nun fehlt es in der Regel nicht an guten, ja genialen Einfällen. Bei einem angeborenen leidenschaftlichen Interesse, das sich unablässig mit seinem Gegenstand beschäftigt, werden diese nicht leicht ausbleiben. Aber was sie — wie Dilettanten — meist nicht besitzen, ist die strenge Disciplin der Methode, die nur in einer guten Schule erworben zu werden pflegt. Gerade nun in Bezug auf Strenge der Methode sind alle Arbeiten von HELMHOLTZ unübertroffen. Dieser Strenge verdankt er wesentlich die Zuverlässigkeit seiner Ergebnisse, die so gross ist, dass sie DONDERS an Unfehlbarkeit denken liess.

Schon aus der Wahl seiner Gegenstände erkennt man seine Grösse in Bezug auf Methode. Ich meine hiermit nicht die Thatsache, dass diese Gegenstände fast immer Fragen von grösster, allgemeiner Wichtigkeit betrafen, sondern dass es Fragen waren, deren Lösung möglich und für ihn möglich war. Er war kein Ikarus, aber ein Daedalus. Nicht das Perpetuum mobile wollte er erfinden oder einen Homunculus — wäre es auch nur in Gestalt einer Bacterie — künstlich erzeugen, sondern der alten Lebenskraft wollte er den Garaus machen, weil sie auf ein Perpetuum mobile hinauslief: und so fand er das Gesetz der Erhaltung der Kraft. Nicht das Wesen der Seele oder des Nervenprincips wollte er enträthseln, sondern messen, was daran etwa messbar schien: und so entdeckte er die Schnelligkeit der Nervenleitung.

Für jeden Forscher ist die gute Wahl des Gegenstands eine überaus wichtige, und, namentlich für Anfänger, nicht leichte Sache. Die Wahl muss im Allgemeinen beruhen auf einer gründlichen Kenntniss dessen, was bereits bekannt ist und was zu wissen am meisten Bedürfniss; andererseits auf einem richtigen Urtheil über die Möglichkeit der Lösung in Verband mit dem eigenen Talent. Unter Talent verstehe ich hierbei eine Reihe von Eigenschaften, auch des Charakters. die nicht immer alle bei einander gefunden werden; Unbefangenheit und Schärfe der Beobachtung, absolute Wahrheitsliebe, Fleiss, Ausdauer nicht allein, sondern auch die Kraft der Entsagung, um zu rechter Zeit ein lieb gewordenes Problem fallen zu lassen, sobald sich die Unmöglichkeit oder Unwahrscheinlichkeit seiner Lösbarkeit herausstellt. HELMHOLTZ hat alle diese Gaben im höchsten Grade besessen, von der letzten aber wohl nur sehr selten Gebrauch zu machen Gelegenheit gehabt.

Auch fing er, wie bekannt, wenn er an ein neues Problem herantrat, nicht damit an, sich durch Studium der vorhandenen Literatur so vollständig wie möglich auf die Höhe dessen zu setzen, was man schon wusste, sondern er legte sogleich selbst Hand ans Werk und erst wenn er sein Ziel erreicht hatte, sah er nach, ob und wie etwa Andere vor ihm dahin zu gelangen versucht hatten. Oft musste er dann natürlich entdecken — und er war stets der Erste, dies öffentlich zu erkennen —, dass Einer oder der Andere ihm bis zu einer gewissen Höhe zuvorgekommen war: ich erinnere nur an das Gesetz von der Erhaltung der Kraft, an die Accommodation des Auges, an die Grenze der Leistungsfähigkeit der Mikroskope, an die Axiome der Geometrie. Aber niemals doch erwies sich sein Werk als überflüssig, im Gegentheil fast immer als eine wichtige Ausbreitung, Verbesserung oder Ergänzung, und stets als ursprünglich.

Solch eine Weise zu arbeiten darf sich nur ein Gewaltiger erlauben, der gewiss ist, zu finden, und mehr zu finden als Andere. Allgemein als Methode angewandt, würde daraus eine Hemmung für den Fortschritt der Wissenschaft erstehen.

[Der Mensch Hermann v. Helmholtz]

Was ich Ihnen zu geben versuchte, war ein Bild des Forschers und Gelehrten, ein Bild, wie es aus seinen Werken für Alle hervorleuchtet, ein Bild dessen, was von ihm fortleben wird, so lange es eine Menschheit giebt, die auf Geistesarbeit und geistigen Besitz Werth legt. Wenn ich mich nun zu dem Menschen wende, so habe ich das Glück, aus persönlicher Erinnerung reden zu dürfen. Als Student in Heidelberg folgte ich 1864 und 1865 seinen Vorlesungen über Physiologie und den Vortragen über die allgemeinen Resultate der Naturwissenschaften, die er damals jeden Winter zu halten pflegte, und hatte ausserdem das besondere Vorrecht, in seinem durch edelste Kunst belebten Hause viele anregende und genussreiche Stunden verleben zu dürfen. Auch später bin ich ihm wiederholt begegnet. So steht denn sein Bild in. voller Deutlichkeit vor mir.

Seine Erscheinung war im höchsten Grade fesselnd. Auf dem wohlgebauten. elastischen Körper, dessen sichere Haltung und Bewegung noch an den früheren Militärarzt zu erinnern schien, ruhte ein Kopf, der sofort den grossen Denker verrieth. FRIEDRICH DRAKE's und ADOLF HILDEBRANDT's Meissel haben uns seine Form in Marmor erhalten. Aus der gewaltigen, wundervollen Stirn schien es als ob in jedem Augenblicke eine Minerva hätte hervorspringen können. Fest und ruhig blickende, grosse Augen, das Antlitz männlich ernsthaft, ohne viel Bewegung der Mienen, gaben den Eindruck einer vollkommen in sich gefestigten Persönlichkeit. Er sprach einfach, sicher, war aber keineswegs mittheilsam, in diesem Punkte wohl das Gegenbild seines grossen Landsmanns ALEXANDER VON HUMBOLDT, von dem GOETHE sagte: »er gleicht einem Brunnen mit vielen Röhren, wo man überall nur Gefässe unterzuhalten braucht und wo es uns immer erquicklich und unerschöpflich entgegenströmt«. Oft schien es, als ob er mitten in der Gesellschaft, ohne doch zerstreut zu sein, innerlich der Lösung schwerer wissenschaftlicher Probleme nachging. Und das schien wohl nicht nur so: es konnte kaum anders sein bei einem so unwiderstehlichen Forscherdrang, wie er beständig in ihm arbeitete, und bei einem Vermögen der Abstraction, wie es vielleicht nie ein anderer Mensch besass.

Trotzdem er die Gewandtheit des Weltmanns besass, konnte er durch diese Abgezogenheit seines Wesens sogar für solche, die ihm durch Alter, Stellung, Bedeutung, Freundschaft nahe standen, etwas Drückendes bekommen. Um so eher, als ja auch die Besten das Bewusstsein nicht wohl verliess, einer überlegenen Intelligenz gegenüberzustehen. Ich weiss dies zum Ueberfluss aus dem Munde eines der Allerbesten, aus dem Munde von DONDERS, der ihn über Alles verehrte und bewunderte und dem seinerseits HELMHOLTZ sich seit frühester Zeit durch gemeinschaftliche Studien eng und freundschaftlich verbunden fühlte. Freilich, in DONDERS waren, ähnlich wie in HUMBOLDT, der Drang und die Gabe der mündlichen Mittheilung aufs Hinreissendste entwickelt. Der Gegensatz musste sich da doppelt fühlbar machen. Indessen auch neben weniger leicht und reich spendenden Naturen konnte HELMHOLTZ wohl den Eindruck der Zurückhaltung, ja der Kühle gewähren. Um so eher, als er sein Herz so wenig wie seinen Geist auf den Lippen trug. Man hörte denn auch nicht selten, er sei eine kalte Natur, und wollte es nur begreiflich finden, wenn neben dem gewaltigen, alles durchdringenden und zergliedernden Verstande die warme Empfindung des Herzens nicht zu ebenbürtiger Entwicklung gekommen sei. Inzwischen priesen doch schon seine Lehrer in dem herrlichen Zeugniss, mit dem sie ihn vom Gymnasium entliessen, gerade »die treffliche Mischung von klarer und besonnener Verständigkeit und tiefer Gemüthlichkeit«, die »selten reine und wahrhaft kindliche Unverdorbenheit« seiner Sitten, den »wohlthuenden und herzgewinnenden«, nur das Beste verheissenden Eindruck seines Wesens. Und bei der Jubelfeier des 2. November 1891 durfte der Abgeordnete der militärärztlichen Bildungsanstalten der herzlichen Zustimmung aller Anwesenden gewiss sein, wenn er, an dies prophetische Zeugniss erinnernd, versicherte, »dass wohl selten einer auf eine exact gestellte Diagnose gestützten Prognose ein glänzenderer Erfolg geworden« sei.

Und dabei möge erwogen werden, dass es auch im geistigen und gemüthlichen Leben zweierlei Formen von Energie giebt, deren Summe erst den Werth des Ganzen bestimmt. Bei HELMHOLTZ war nur ein geringer Theil des ungeheuren Energievorraths, den er in Geist und Gemüth barg, im gegebenen Augenblick in actueller Form vorhanden. Die Umwandlung der potentiellen in lebendige Kraft erfolgte langsam, anders wie bei jenen Naturen, die man sonst mit Vorliebe geniale zu nennen pflegt und zu deren höchsten Vertretern unser DONDERS gehörte.

Es offenbarte sich das auch in HELMHOLTZ' Weise zu arbeiten. Die Lösung der schwierigsten Probleme gelang ihm nach seinem eigenen Zeugniss fast immer nur »durch allmählich wachsende Generalisationen von günstigen Beispielen, durch eine Reihe glücklicher Einfälle, nach mancherlei Irrfahrten«. »Ich musste mich«, sagt er, »vergleichen einem Bergsteiger, der, ohne den Weg zu kennen, langsam und mühselig hinaufklimmt, oft umkehren muss, weil er nicht weiter kann, bald durch Zufall neue Wegspuren entdeckt, die ihn wieder ein Stück vorwärts leiten, und endlich, wenn er sein Ziel erreicht, zu seiner Beschämung einen königlichen Weg findet, auf dem er hätte herauffahren können, wenn er gescheit genug gewesen wäre, den richtigen Anfang zu finden.«

Damit hingen auch die Eigenthümlichkeiten zusammen, welche ihn als Lehrer, im Colleg, kennzeichneten. Da er die Form des Vertrags nie im Einzelnen ausgearbeitet hatte, sondern immer frei producirte, sprach er langsam, abgemessen, gelegentlich ein wenig stockend. Seine Augen waren dabei über die Zuhörer hinweg gerichtet, wie in unendlicher Ferne die Lösung eines Problems suchend. Kein lebendiger Rapport bestand zwischen ihm und dem einzelnen Zuhörer. Er sprach wie zu einem abstracten Auditorium, durchaus unpersönlich. In alledem der vollste Gegensatz zu DONDERS. Nur die Sache sollte wirken.

Sie wirkte denn auch, wenigstens auf die, deren Interesse jener persönlichen Belebungsmittel nicht bedurfte. Denn was er sagte, war unübertrefflich an Klarheit, Anschaulichkeit, die einzelnen Theile in strengem Zusammenhang, bei plastischster Gruppirung. Wenn man ihm vorgeworfen hat, dass er zu hoch gewesen und darum immer nur von einer kleinen Zahl verstanden worden sei, so muss ich dies bestimmt bestreiten. Er machte in seinem Colleg über Physiologie nicht mehr Voraussetzungen in Bezug auf Kenntnisse und Fassungskraft seiner medicinischen Studenten, als andere Lehrer desselben Fachs. Die Behandlung der Dioptrik des Auges, besonders der Lehre von den Cardinalpunkten, oft ein Stein des Anstosses, war ein Ideal elementarer Darstellung. Stets gab er nicht nur die Resultate, sondern auch die Methoden, durch welche man zu ihnen gelangt war, um damit eigenes Urtheil zu ermöglichen, eigenes Nachdenken anzuregen. Versuche zeigte er, doch nur mit Auswahl, wo es eine bedeutsame Thatsache, die Erläuterung eines wichtigen Gesetzes oder einer werthvollen Methode galt. Wie in seinen Schriften, blieb er stets auf dem Boden des sicheren Besitzes der Erfahrung stehen. Es war ihm nicht darum zu thun, das Neueste zu geben, sondern das Beste. Ungelöste Probleme bezeichnete er öfter, meist mit lichtvoll hingeworfenen Andeutungen über die Wege der Lösung und das vermuthliche Resultat. Forschernamen nannte er selten, am wenigsten den eigenen. Auch bevorzugte er eigene Arbeiten nie durch besondere Ausführlichkeit. Auswahl und Behandlung des Stoffs schienen durchaus nur von der Rücksicht auf die Bedürfnisse der Schüler geleitet.

Er war denn auch tief durchdrungen von dem Gewicht der Lehrthätigkeit. Er wusste einmal, dass sie ein mächtiges Hilfsmittel für den Fortschritt der Wissenschaft ist, nicht bloss durch die persönliche Anregung und Erziehung des künftigen Forschergeschlechts, sondern auch durch den Einfluss auf den Lehrer selbst. Er hat dies wiederholt aufs Nachdrücklichste bezeugt. Wie das Streben, Anderen etwas deutlich zu machen, eine Quelle eigner besserer Einsicht, ja der wichtigsten Entdeckungen werden kann, zeigt kein Beispiel schöner, als die Erfindung des Augenspiegels, der sich HELMHOLTZ recht eigentlich »aus der Nöthigung entwickelt hat, in der Vorlesung über Physiologie die Theorie des Augenleuchtens vorzutragen«. Und mehr als einmal hat er hervorgehoben, für wie wichtig er die Lehrthätigkeit halte, da sie dazu zwänge, jährlich das ganze Gebiet der vorzutragenden Wissenschaft denkend zu durchlaufen.

Dazu kam aber noch ein ideales Motiv allgemeinster Art, das HELMHOLTZ so schön bezeichnet, wenn er von dem Forscher und Lehrer sagt, dass ihm »die ganze Gedankenwelt der civilisirten Menschheit als ein fortlebendes und weiter wirkendes Ganzes entgegentritt, dessen Lebensdauer der kurzen des einzelnen Individuums gegenüber als ewig erscheint. Er sieht sich mit seinen kleinen Beiträgen zum Aufbau der Wissenschaft in den Dienst einer ewigen heiligen Sache gestellt, mit der er durch enge Bande der Liebe verknüpft ist. Dadurch wird ihm seine Arbeit selbst geheiligt.«

Das ganze Leben von HELMHOLTZ war die Verwirklichung dieses Gedankens. Ihm folgt darum mit unserer Bewunderung auch unsere Liebe über das Grab hinaus.


Der Physiologe Theodor Wilhelm Engelmann (1843-1909) war ab 1871 als Professor in Utrecht tätig; 1897 wurde er als Nachfolger von Emil du Bois-Reymond zum Direktor des Physiologischen Instituts der Universität Berlin berufen.
Engelmann studierte im Sommersemester 1864 und im darauffolgenden Wintersemester in Heidelberg Medizin. Er wohnte in dieser Zeit in der Hauptstr. 4. Im gleichen Haus wohnte und arbeitete von 1856-1858 der Chemiker Friedrich August Kekulé (1829-1896), der den Benzolring entdeckt hatte. Unmittelbar nach Engelmann finden wir dem Mathematiker   Paul du Bois-Reymond   als Privatdozenten bis 1870 in diesem Haus.

(Fotografie von Helmut Dörflinger, 2004)


Letzte Änderung: Mai 2014     Gabriele Dörflinger   Kontakt

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