Emil Julius Gumbel:
Arische Mathematik (1937)

Unter der verantwortlichen Redaktion von Professor Bieberbach erscheint jetzt, in gotischen Lettern, eine Vierteljahreszeitschrift „Deutsche Mathematik“ in einer Auflagenhöhe von 6 500. Das erste Heft beginnt mit einem Vorspruch des (als Mathematiker noch nicht bekannten) Adolf Hitler, das zweite mit einem tiefsinnig seinsollenden Gedicht eines Herrn Paul Ernst. Neu an der Zeitschrift ist zunächst die Einteilung in „Arbeit“ einerseits und „Belehrung“ und „Forschung“ andrerseits. Unter „Arbeit“ werden die politischen Forderungen der Nationalsozialistischen Partei und der ihr angeschlossenen Studentenverbände verstanden, unter „Belehrung“ fällt die Geschichte der Mathematik, die „Forschung“ endlich soll die politischen Forderungen erfüllen.

Den Leitartikel der ersten Nummer schreibt ein „ewiger Student“, der im Gegensatz zu den andern Mitarbeitern einen Titel führt. Dieser Herr Kubach, „Reichsfachabteilungsleiter der Mathematik der deutschen Studentenschaft“ an der Universität Heidelberg, die dadurch ausgezeichnet ist, daß sie keinen Ordinarius der Mathematik mehr besitzt, formuliert die Aufgaben der Zeitschrift: Das Argument, mathematisch exakte Ergebnisse müssen in jeder Zeit und bei jeder Nation von allen für richtig anerkannt werden, trägt die Keime der Zerstörung und Zersetzung der deutschen Wissenschaft in sich. In der fluchwürdigen Systemzeit wurden mathematische Grundsätze nicht dekretiert, sondern als mathematisch notwendig bewiesen. Während Bieberbach 1934 erst Stilarten mathematischen Schaffens konstatierte, postuliert Kubach 1936 bereits die politisch gereinigte Mathematik.

Diese Aufgabe fällt in erster Linie den studentischen Fachschaften zu. „Sie wird dort angepackt werden, gemeinsam mit den in der gleichen Front stehenden Assistenten, Dozenten und Professoren, die leider aber — besonders unter den letzteren — heute nur in ganz geringer Zahl vorhanden sind.“ Auf diesen zarten Rüffel folgt ein Frontalangriff „gegen die überwältigende Mehrzahl der vorhandenen Dozenten, die diesen Fragen keinerlei Verständnis entgegenbringt“. Noch an einer dritten Stelle wird über die „wenigen bei uns stehenden Dozenten“ gejammert. Aus dieser Not wird aber eine Tugend gemacht: „Nur aus den Arbeitsgemeinschaften und Lagern wird es möglich sein, den Oberlehrertyp zu überwinden.“ Hierzu wird Anschluß an H. St. Chamberlain und Krieck (deren mathematische Leistungen bisher niemand kannte) und eine neue rassische Geschichte der Mathematik postuliert.

Einen großen Erfolg hat dieser Leitartikel nicht gehabt. Denn bereits in der zweiten Nummer wird auf der ersten Seite kleinlaut zugegeben, daß die Untersuchung über alle Mathematiker der Universität Heidelberg seit 1800 trotz eingehender Feststellung der Rassenzugehörigkeit „zu einer vollkommen klaren Gegenüberstellung deutschen und jüdischen Schaffens“ nicht ausreicht. Ja noch mehr: in einem längeren Artikel der Abteilung „Belehrung“ wird die Rolle verschiedener jüdischer Mathematiker beim Aufbau bestimmter geometrischer Probleme ganz breit und ohne jede Voreingenommenheit dargestellt.


Deutsche Mathematik. - 1 (1936), S. 115
Anmerkung: Helmut Joachim Fischer wurde im Juni 1933 bei dem jüdischen Professor Artur Rosenthal in Heidelberg promoviert. Als die Studentenschaft unter Führung von Gustav Adolf Scheel 1935 beschloß, die Vorlesungen nichtarischer Dozenten - also auch von A. Rosenthal - zu boykottieren, erklärte sich Fischer, der 1933 in die NSDAP eingetreten war, bereit, die Ersatzvorlesungen zu halten.

Die Nationalsozialisten haben bekanntlich die Sterilisation eingeführt, um gewisse Erbkrankheiten auszurotten. Demgegenüber verweist Herr Mittmann aus Göttingen, ganz im Sinn des aus Göttingen verjagten Statistikers Felix Bernstein, daß es unter ziemlich plausiblen Bedingungen trotz aller Sterilisation nie gelingen wird, eine Erbkrankheit vollkommen auszurotten. Denn auch die scheinbar Gesunden tragen den Keim zur Krankheit in sich und vererben ihn. Es wird umgekehrt gezeigt, daß das Verfahren unter komplizierten Bedingungen in irgendeiner sehr fernen Zeit Erfolg haben kann. So wird in einer, dem Laienpublikum ungefährlichen, weil unverständlichen Weise dargestellt, daß die Sterilisation für die brennenden Gegenwartsprobleme der sozialen Hygiene wertlos ist. Der Aufsatz beruht auf der Annahme, daß die Vererbung den Mendelschen Gesetzen, die vor allem von Goldscheider untersucht wurden, folgt. Der Verfasser hütet sich auszusprechen, daß die tatsächliche Erbfolge bei den meisten Krankheiten noch ganz unbekannt ist.

Bezeichnenderweise bekennen sich unter neunzehn wissenschaftlichen Mitarbeitern nur zwei zur arischen Mathematik, nämlich die Professoren Bieberbach und Tornier. Letzterer wendet sich unter dem schönen Titel „Mathematiker oder Jongleur mit Definitionen“ gegen „die jüdisch-liberalistische Vernebelung, entsprungen dem Intellekt wurzelloser Artisten, die durch Jonglieren mit objektfremden Definitionen sich und ihrem gedankenlosen Stammpublikum mathematische Schöpferkraft vorgaukeln, einem Stammpublikum, das froh ist, langsam einige Tricks abzulernen, um vor noch Bescheideneren damit zu glänzen, als Rastellis dritter Güte.“


Deutsche Mathematik. - 1 (1936), S. 8

Anmerkung: Erhard Tornier (1894-1982) wurde 1922 wie Helmut Hasse unter Kurt Hensel, der Jude war, promoviert. Er wurde Hasse, der Patriot aber keinesfalls antisemitisch war, in den dreissiger Jahren als politscher "Aufpasser" in Göttingen zugesellt.

Helmut Hasse hat — wie in den nachfolgenden Zitaten seines 1953 publizierten Aufsatzes Mathematik als Wissenschaft, Kunsts und Macht ersichtlich ist — die Schönheit in der Mathematik als notwendig angesehen: Auch ein in der Sprache der Mathematik geschriebener Beweis, bei dem alle Regeln des Schließens und Rechnens getreulich eingehalten sind, braucht noch lange keine Mathematik im echten Sinne des Wortes zu sein. In der Ausdrucksweise der Mathematik selbst formuliert: Dafür, daß eine solche Komposition Mathematik ist, ist ihre logische Richtigkeit zwar notwendig aber keineswegs hinreichend. Es muß vielmehr das Analogon der musikalischen Schönheit und Dynamik hinzukommen.     und     Es ist aber auch eine Erfahrungstatsache, daß dem echten reinen Mathematiker diese Anwendungsmöglichkeiten seiner Wissenschaft gar nicht vorschweben, wenn er seinem Trieb zur Erkenntnis der Wahrheit, Gestaltung in vollendeter Form und Erlangung von Macht über die Begriffswelt des Denkens nachgeht.

Vielfach ist der Gegensatz zwischen Postulat und Inhalt so groß, daß man beinahe an Sabotage glauben könnte, z.B. wenn im wissenschaftlichen Teil (wohl gegen Tornier) mit Behagen der Satz des Geometers Beck zitiert wird: „Es gibt schwarze und weiße Hunde. Der Geometer aber nennt die schwarzen Hunde: uneigentlich weiß, damit er den Satz aussprechen kann: alle Hunde sind weiß.“

Anmerkung: Die geschichtliche Entwicklung der Lehre von der Geraden-Kugel-Transformation von E.A. Weiß, Fußnote auf S. 29.

Ein Bericht über mathematische Wirtschaftsforschung ist bemerkenswert. Denn der „Schirmherr“ Klagges — Ministerpräsident in Braunschweig, berühmt durch Korruption und Morde — schildert „das Fiasko der früheren Nationalökonomie, das seine Ursache darin hatte, daß keine richtige Volkswirtschaftslehre exitstierte.“

Das Arbeitslager Gießen schreibt drohend: „Wir sind entschlossen, jene wankende Gestalt des vom Leben losgelösten Gehirnakrobaten von unsern Hochschulen restlos zu vertreiben. Wir erwarten vom Hochschullehrer, daß er unser Streben nach Auslese in jeder Weise unterstützt. Andrerseits hat sich der Hochschullehrer selbst in unserer Gemeinschaft zu bewähren.“

Aber nicht einmal die Mitarbeiter dieser Zeitschrift denken daran, sich nach diesen Grundsätzen zu richten. Der Geometer Weiß macht sich direkt lustig über diejenigen, die die Mathematik im Dritten Reich nur als Wehrwissenschaft behandeln wollen und Themen für Dissertationen von der Reichswehr anfordern. Vorn in den Leitartikeln postulieren die nationalsozialistischen Studenten ihre politische Mathematik, und im wissenschaftlichen Teil spürt man davon nichts. So ist der Gesamteindruck der Zeitschrift, rein fachlich gesehen, recht gut. Der Zusammenhang mit der „Systemzeit“ ist gewahrt. Jüdische, sogar emigrierte Mathematiker werden in Gemütsruhe zitiert, und vielfach wird auf ihren Arbeiten weitergebaut.

Anmerkung: Max Steck, der 1932 bei dem 1935 in Heidelberg als Jude boykottierten Heinrich Liebmann promovierte, zitiert in seinen Beiträgen vielfach Liebmann und E.A. Weiß verweist in seinem Artikel Die geschichtliche Entwicklung der Lehre von der Geraden-Kugel-Transformation permanent auf Max Noether.

Allerdings Einstein spielt die Rolle des bösen Geistes. Sein Werk wird von einem Heidelberger Studenten als „eine Kampfansage mit dem Ziel der Vernichtung des nordisch-germanischen Naturgefühls“ bezeichnet. Aber zehn Seiten weiter wird in einem Nachwort auf A. von Brill diesem mit besonderem Lobe eine originelle Darstellung des Relativitätsprinzips zugeschrieben. In dieser Biographie heißt es: „Er war einer der ersten der Universität Tübingen, welche 1933 dem nationalsozialistischen Lehrerbund beigetreten sind, wobei der Gedanke an Konjunktur — er war damals über 90 Jahre alt — ausscheiden dürfte.“ Es muß also heute ausdrücklich erwähnt werden, daß jemand Nationalsozialist wurde, ohne persönliche Vorteile zu erwarten.


Deutsche Mathematik. - 1 (1936), S. 10

Die Gleichschaltung der deutschen Universitäten ist den Nationalsozialisten gelungen. Aber es ist nicht anzunehmen, daß die Ku- und Bieberbäche auf diese Weise den Strom des mathematischen Wissens bereichern werden.


erschienen in: Das Wort. Moskau, 2. Jg., S. 109-110

publiziert auf S. 156-158 in:
Gumbel, Emil Julius:
Emil Julius Gumbel : Portrait eines Zivilisten / Christian Jansen. - Heidelberg, 1991
Signatur UB Heidelberg: 91 A 9542

Scans und Anmerkungen von Gabriele Dörflinger


Letzte Änderung: Mai 2014     Gabriele Dörflinger   Kontakt

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