Siegmund Günther †

Von H. WIELEITNER, Augsburg.

Am Tage seines 75. Geburtstages wurde GÜNTHER zu Grabe getragen. Er war am 3. III. 1923 der Gelbsucht [Leberkrebs], die ihn schon über ein Jahr arbeitsunfähig machte, erlegen. Unter Hinweis auf die gelegentlich des 70. Geburtstages durch A. KISTNER erfolgte Würdigung (ds. Mitt. 17, 1918, S. 1-4) sollen hier nur einige ergänzende Bemerkungen Platz finden. GÜNTHER begann seine wissenschaftliche Laufbahn als Mathematiker. Außer den Arbeiten über Kettenbrüche sind besonders sein Lehrbuch der Determinantentheorie (Leipzig 1875, 2. Aufl. 1879) und sein großes Handbuch über die Hyperbelfunktionen (Halle 1881) hervorzuheben. Schon diese Werke zeigen durch eine erstaunliche Fülle von Literaturangaben GÜNTHERS historische Ader auf. Unterdessen waren aber auch seine Vermischten Untersuchungen zur Geschichte der mathematischen Wissenschaften (Leipzig 1876) erschienen, die ihn zum Mathematikhistoriker stempelten. Das Beste aus jener Periode ist wohl heute noch seine Geschichte des mathematischen Unterrichts im deutschen Mittelalter (Berlin 1887). Unterdessen war er schon, nicht ganz freiwillig, zur Geographie übergegangen. Er erhielt 1886 am Polytechnikum zu München die Professur FRIEDRICH RATZELS. Es ist wohl kein Zweifel, daß ihm dazu vor allem sein Lehrbuch der Geophysik (Stuttgart 1884/86), das durch seine Fülle Aufsehen erregte, verholfen hatte. Die mathematisch-historischen Arbeiten wurden damals als maßgebend betrachtet, sind aber heute derselben Kritik, wie sie der Meister der mathematischen Geschichtsforschung, M. CANTOR, selbst erfuhr, unterworfen. GÜNTHER neigte überhaupt mehr zu enzyklopädischem Wissen, wobei ihn sein ungeheures Gedächtnis unterstützte, als zu tieferem Eindringen in einzelne Fragen. Ein schönes Beispiel seiner ausgebreiteten Kenntnisse gab er noch 1909 in seiner Kleinen Geschichte der Naturwissenschaften bei Reclam, die den 2. u. 3. Band der von ihm geleiteten ,,Bücher der Naturwissenschaften'' in der bekannten Sammlung bildete.

Die ausgedehnte parlamentarische Tätigkeit, die GÜNTHER Zeit seines Lebens, zuerst im Reichstag, später im bayerischen Landtag ausübte, wurde ihm wie sein eigentliches Lehramt an der Hochschule durch eine glänzende Rednergabe in Verbindung mit dem soeben erwähnten Gedächtnis erleichtert. Politisch stand GÜNTHER immer ziemlich links und oft in Opposition zur Regierung. Er gehörte zuerst der freisinnigen Partei, dann dem linken Flügel der Liberalen im Landtag und später der deutschen demokratischen Partei an. Von diesem mehr aus innerpolitischen Gesichtspunkten entsprungenen Standpunkt aus schwur er auch im Krieg auf die Bethmannsche Richtung der Politik, so zuwider ihm auch eigentlich als protestantischem Burschenschaftler immer Männer wie ERZBERGER gewesen waren. Aber die Niederlage und die Revolution wandelten seine Meinung, und aus außenpolitischen Erwägungen tat er den vielleicht schwersten Schritt seines Lebens, indem er der demokratischen Partei im Alter von etwa 73 Jahren öffentlich den Rücken kehrte.

Als Mensch war GÜNTHER wohlwollend und liebenswürdig gegen jedermann. Er konnte aber auch stark hassen. Wenn jemand ihn verletzt hatte, war er für ihn Luft, und den Italienern, mit denen ihn zahlreiche Bande verknüpft hatten, konnte er ihren Abfall nicht verzeihen. Sein starker Familiensinn geht daraus hervor, daß er noch in jungen Jahren, um einen Bruder vor geschäftlichem Zusammenbruch zu retten, sein ganzes Vermögen opferte. Die Erziehung seiner drei Söhne legte ihm infolgedessen eine schwere Bürde auf und er suchte durch Schriftstellerei und Vorträge sich Nebeneinkommen zu verschaffen. Dies war vielleicht mit die Ursache, daß er etwas zu viel (die Zahl seiner Arbeiten ist sicher größer als 2000) und manches etwas zu rasch veröffentlichte. Nehmen wir aber alles in allem, so verlieren wir in GÜNTHER einen edlen Menschen, einen aufrechten Deutschen, einen vielseitigen Gelehrten.


Wieleitner, Heinrich (1874-1931): Siegmund Günther †
In: Mitteilungen zur Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften. - 22 (1923), S. 1-2
Signatur UB Heidelberg: P 124-2::21-23.1922-24


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